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# taz.de -- Die türkische Opposition marschiert: Von Ankara bis Istanbul
> Der Chef der kemalistischen CHP ruft zu einem „Marsch für die
> Gerechtigkeit“ auf. Er soll bis zum Gefängnis von Istanbul führen.
Bild: Protest-Wimmelbild: Finde Kemal Kılıçdaroğlu
Athen taz | Nun trägt auch die CHP, größte Oppositionspartei der Türkei,
ihren Protest auf die Straße – zum ersten Mal, seitdem Präsident Recep
Tayyip Erdoğan das Land immer mehr in ein autoritäres Einparteiensystem
verwandelt. Mit einem Marsch von der Hauptstadt Ankara bis in die 450
Kilometer entfernte Metropole Istanbul will der Chef der
säkular-kemalistischen Partei, Kemal Kılıçdaroğlu, gegen die Politik der
Regierung protestieren.
„Wir wollen Gerechtigkeit und eine unabhängige Justiz“, sagte er zum
Auftakt der Aktion am Donnerstagvormittag in Ankara. „Die ganze Welt soll
sehen, dass wir mit der in der Türkei herrschenden Diktatur eines Mannes
nicht einverstanden sind.“
Begleitet von Tausenden Anhängern marschierte Kılıçdaroğlu zum gut
zwanzig Kilometer entfernten Endpunkt der ersten Etappe. Unterwegs
schlossen sich auch viele Menschen an, die nicht zur CHP gehören. Eine Frau
sagte einem Reporter von CNN-Türk, sie gehe mit, weil ihre Tochter aus dem
Schuldienst entlassen wurde. „Zwanzig Jahre habe ich geschuftet, damit sie
studieren konnte“, sagte die Frau. „Jetzt hat man sie ohne jeden Grund
gefeuert“.
Entgegen ersten Befürchtungen hat die Polizei den „Marsch für
Gerechtigkeit“, wie er auf vielen mitgeführten Plakaten genannt wird, am
ersten Tag nicht verhindert. Zwar werden die Protestierenden von massiven
Polizeikräften eskortiert, es kam jedoch bis zum Nachmittag zu keinen
Zwischenfällen.
Während Präsident Erdoğan und Regierungschef Binali Yıldırım die
Protestaktion bislang nicht kommentiert haben, äußern sich Anhänger der
Regierungspartei AKP in sozialen Medien abfällig über die „Verräter“. �…
Volk“, so ein Erdoğan-Fan auf Twitter, „hat am Putschtag im Juli letzten
Jahres gezeigt, wie man mit Verrätern umgeht. Das kann schnell wieder
passieren.“
## Stellvertretender CHP-Chef verurteilt
Insgesamt sind die Reaktionen aber überwältigend positiv. „Endlich tut
Kılıçdaroğlu etwas“, ist der Haupttenor in den sozialen Medien. Selbst die
in ihrer Freiheit stark eingeschränkten großen Nachrichtenkanäle NTV und
CNN-Türk berichteten ausführlich über den Beginn des Protestlaufs.
Am Mittwochabend hatte Kılıçdaroğlu sogar die Möglichkeit, in einem
ausführlichen Interview bei CNN-Türk zu begründen, warum er und seine
Partei nun nach langem Zögern ihre Opposition doch auf die Straße tragen
wollen.
Anlass ist die Verurteilung des stellvertretenden CHP-Chefs Enis
Berberoğlu. Ein Istanbuler Gericht hatte den Politiker am
Mittwochnachmittag von einem Istanbuler Gericht zu 25 Jahren Gefängnis
verurteilt. Er war angeklagt, zur Unterstützung einer „terroristischen
Organisation“ Staatsgeheimnisse verraten zu haben. Noch während der
Urteilsbegründung wurde Berberoğlu ins Gefängnis überstellt.
Hintergrund des Gerichtsverfahrens: Der stellvertretende Parteichef der CHP
war gemeinsam mit dem jetzt in Deutschland lebenden früheren Chefredakteur
von Cumhuriyet, Can Dündar, und dem Leiter des Hauptstadtbüros von
Cumhuriyet, Erdem Gül, beschuldigt worden, Staatsgeheimnisse verraten zu
haben, nachdem Cumhuriyet im Mai 2015 in einer aufsehenerregenden Reportage
illegale Waffentransporte des türkischen Geheimdienstes MIT an
islamistische Gruppen in Syrien aufgedeckt hatte.
Berberoğlu soll Cumhuriyet ein Video beschafft haben, auf dem die Waffen
bei einer ungeplanten Durchsuchung von Lkws durch unbeteiligte Polizisten,
die von dem Waffendeal nicht unterrichtet waren, zu sehen sind. Deshalb
konnte die Regierung den Waffentransport anschließend nicht mehr leugnen.
Can Dündar und Erdem Gül sind in erster Instanz bereits verurteilt worden.
Ihr Berufungsverfahren wurde nun von dem von Berberoğlu abgetrennt.
Der CHP-Politiker ist selbst Journalist. Bevor er für seine Partei ins
Parlament gewählt wurde, war er Chefredakteur der größten und wichtigsten
säkularen Zeitung Hürriyet. Anders als Cumhuriyet ist Hürriyet aber heute
schon so weit auf Regierungslinie gebracht worden, dass sie über den
illegalen Waffentransport nicht mehr berichtet hätte.
## Das kam unerwartet
„Unsere Justiz verurteilt mutige Journalisten, die illegale
Waffentransporte aufdecken, statt die Verantwortlichen für die illegalen
Aktionen zur Rechenschaft zu ziehen“, sagte CHP-Parteichef Kılıçdaroğlu am
Donnerstag in einem seiner zahlreichen Interviews. „Die Justiz ist
mittlerweile direkt von Erdogan gesteuert“, beklagte der Mann, der wegen
seines Aussehens – und wegen seiner milden Art – der „Gandhi der Türkei�…
genannt wird.
Bei der CHP hat die Verurteilung und Verhaftung Berberoğlu, mit der
innerhalb der Partei offenbar niemand ernsthaft gerechnet hat, nun dazu
geführt, ihre bisherige Zurückhaltung aufzugeben. Noch am
Mittwochnachmittag verließen die Abgeordneten der Partei unter Protest das
Parlament.
Vertreter der kurdisch-linken HDP, deren Vorsitzende Selahattin Demirtaş
und Figen Yüksekdağ bereits seit November letzten Jahres im Gefängnis
sitzen, haben ihre Unterstützung des Protestmarsches angekündigt. Ein
Sprecher der HDP, der Abgeordnete Osman Baydemir sagte, auch wenn die CHP
sich bei der Verhaftung hunderter HDP Mitglieder nicht gerührt hätte,
würden sie den Protest jetzt mitmachen.
Ziel des Marschs ist das Gefängnis im Istanbuler Vorort Maltepe, wo der
CHP-Vize Enis Berberoğlu festgehalten wird. „Doch unser Kampf endet nicht
in Maltepe“, sagte Kılıçdaroğlu gestern, wir werden so lange marschieren,
bis Demokratie und Gerechtigkeit in der Türkei wieder zurück sind“.
15 Jun 2017
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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