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# taz.de -- Neues Popalbum von Saint Etienne: Von wegen Brexit
> Das Londoner Trio Saint Etienne veröffentlicht das Eurodisco-Album „Home
> Counties“. Ein Plädoyer für Internationalität.
Bild: Unmutiert: Saint Etienne
„Stilistisch ist unser neues Material extrem abwechslungsreich. Von jedem
unserer vorherigen Alben ist etwas dabei, und doch klingt alles völlig neu
und eigenständig“, sagt Sarah Cracknell über „Home Counties“, dem heute
erscheinenden neuen Werk des Londoner Poptrios Saint Etienne.
Gemeint hat sie damit die Gummitwist-Basslinie, wie sie in „Dive“ die
hüpfenden Bassintervalle des Refrains aus „Sylvie“, dem Hit vom tollen
Album „Good Humor“ (1998), fröhlich weiterspinnt. Dazu atmet Cracknell die
chromatisch auf- und absteigenden langen Noten der Strophen mit
aufreizender Behauchtheit seelenvoll aus, und vollführt im zackigen Refrain
bei den letzten Silben einen gekonnten Ausfallschritt.
Das hat man so zuletzt beim spanischen Discoduo Baccara gerne gehört.
Rasseln und Congas sorgen für einen Hauch Exotik, liebevoll
eingesprengselte Synthiesounds und Gitarrenriffs, bei denen das
Wah-Wah-Pedal stark in Anspruch genommen wird: „Dive“ ist ein echter
Eurodisco-Smasher, freundlich-zurückhaltend und alert zugleich.
In der stilistischen Vielfalt auf „Home Counties“ spiegelt sich auch die
Verankerung der seit 1991 unverändert aus Sarah Cracknell, Bob Stanley und
Pete Wiggs bestehenden Band in der europäischen Poptradition wider – und
kann somit auch als klares Votum gegen den Brexit gehört werden. Denn der
frankophone Klang von „Take It All In“ erinnert sofort an Serge Gainsbourgs
Chanson-Rocker „Histoire de Melody Nelson“ von 1971.
## Furchtlose Aneignungen
Schon ihr Bandname nimmt Bezug auf längst vergangene Glanzzeiten der
französischen Fußballequipe AS Saint Étienne. Saint Etienne waren schon
immer fleißige Zitatpopper und furchtlose Aneigner von Zutaten aus der
weltweiten Wundertüte des Pop. Zudem haben sie keinerlei Angst vor Kitsch
und geben selbstverständlich auch trashigem Tand alter Epochen Würde
zurück.
Es gilt: Mehrwert durch Vielfalt. Inhaltlich vermessen Saint Etienne mit
„Home Counties“ das mittelständisch geprägte Hinterland der Grafschaften
rund um London, aus denen die drei Bandmitglieder auch selbst stammen –
eine Herkunft, mit der sie eine Hassliebe verbindet. Je nach Sichtweise
kann das „John Majors beglückte Vision von Cricket und warmem Bier“
bedeuten oder die Hölle auf Erden, mit gelangweilten Teenagern, die zu
Poltergeistern mutieren.
So ist die Protagonistin in dem Song „Heather“ ein junges Mädchen, das
eines Nachts erwacht und sein bisheriges Leben infrage stellt. „She comes
and she goes / Like the warmth in the daylight / This house is haunted“,
singt Cracknell und klingt wie eine Märchenerzählerin, flankiert von
heftige Ohrfeigen verteilenden Syndrums.
## Albtraum heile Welt
Das tägliche Pendeln während der sechswöchigen Aufnahmen aus ihren Vororten
zum Studio in die Londoner City mag Inspirationsquelle für „Train Drivers
In Eyeliner“ gewesen sein, einem augenzwinkernden Popstandard mit
Klavierbegleitung in Schunkelrhythmus, in dem das marode britische Bahnnetz
aufs Korn genommen wird.
Obschon sich die brüchige heile Welt der Schlafstädte um Metropolen überall
auf der Welt ähnelt, werfen Saint Etienne mit eingestreuten Radioschnipseln
– in England kreieren die landesweit ausgestrahlten Programme der BBC nach
wie vor gesellschaftlichen Zusammenhalt – und Takten englischer Druiden-
und Kirchenmusik einschlägiges Licht auf die britische Lebensart und lassen
uns Festlandeuropäer ahnen, was da anders tickt im perfiden Albion: Zu
nennen wäre das insulare Selbstbewusstsein, das anderes ausgrenzt.
Entsprechend titelte eine Zeitung in den 60er Jahren, als eine Nebelwand
die britischen Inseln unerreichbar machte: „Continent isolated!“
„Sweet Arcadia“ ist wegen seiner ungebrochenen Aufrichtigkeit fast schon
eine unheimliche Liebeserklärung an „Sweet Albion“, in dem Cracknell Orte
im Großraum Londons und einige ihrer Besonderheiten reportagenhaft
auflistet. „We took your land / And we made it our land, sweet Arcadia“,
untermalt von Vogelzwitschern und Hammondorgel, mit Ambientsounds und einer
fürchterbaren Synthie-Querflöte ist die Nummer ein regelrechter
Rausschmeißer aus dem Album.
Der hörbare Willen zum internationalen Stil dieses auf nationale
Befindlichkeiten zielenden Konzeptalbums kommt vermutlich nicht von
ungefähr. Keyboarder Bob Stanley verfasst seit langem erhellende Artikel
für Mojo, NME und den Guardian. Und er ist Autor von „Yeah Yeah Yeah – The
Story of Pop Music from Bill Haley to Beyoncé“ (2013). In der profunden und
überaus unterhaltsam zu lesenden Popgeschichte – hier parliert ein Brite! –
veranschaulicht Stanley, wie sich Pop quer über alle Genre- und
Ländergrenzen hinweg seit jeher gegenseitig beeinflusst und weiterbringt.
„Home Counties“ ist zudem ein gutes Beispiel dafür, dass eine Band auch
unter Einbeziehung der Fanperspektive sinnliche Popsongs zustande bringt,
deren nostalgischer Charakter nie aufdringlich klingt. Nach ihrem letzten,
eher vernachlässigungswürdigen Album, „Words and Music by Saint Etienne“
(2012), nimmt das Trio wieder den ihm gebührenden Platz auf der
internationalen Landkarte des Pop ein.
1 Jun 2017
## AUTOREN
Sylvia Prahl
## TAGS
Schwerpunkt Brexit
Chanson
Grime
New Orleans
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