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# taz.de -- Die Wahrheit: Scooterman auf nächtlicher Tour
> Der Frühling raubt Scooterman den Schlaf. Ein Ausflug zum Höckerschwan
> soll Linderung bringen, doch dann tauchen seltsame Fremde auf…
Die Tage werden wieder länger. So ist das eben im Frühling. Das Tageslicht
wird gefräßiger und beißt ein kleines Stück mehr von der Nacht ab.
Vor ein paar Tagen hat der Scooterman schlecht geschlafen. „Kann doch nicht
wahr sein“, murmelte er vor sich hin, als er gegen halb zwei zum ersten Mal
aufwachte. „Gerade eben wollten die Pfleger mir noch einen Tannenbaum
aufdrängen, und nun wird es schon wieder nicht richtig dunkel. Zustände
sind das!“
Vielleicht sollte man erwähnen, dass Scooterman kurz vor dem Einschlafen
sein Betaferon subkutan gespritzt hatte. In den Stunden danach übernehmen
die Nebenwirkungen das Regiment. Also hat er nicht nur erstaunlich steife
Beine, auch sein Kopf plaudert seltsame Dinge vor sich hin. Wahrscheinlich
war die Betaferon-Dosierung einfach nicht richtig eingestellt. Beim
nächsten Termin mit seiner Neurologin würde er das zur Sprache bringen.
Als er gegen Viertel vor drei schon wieder aufwachte, beschloss Scooterman,
einen nächtlichen Ausflug zu machen. Keine halbe Stunde später war er
ausgehfertig. Irgendwie hatte er sich aus dem Bett in seinen Handrollstuhl
gestützt und einen Pullover über das Nachtshirt gezogen. Sogar in seine
weitesten Schuhe war er gerutscht. „Drei Mal pro Woche Physiotherapie“,
klopfte er sich selbst stolz auf die Schulter. Nur die Schnürsenkel waren
außerhalb seiner Reichweite. Irgendwie sah er ein bisschen arg verwahrlost
aus. Aber es war halb vier morgens. Wer sollte ihn schon prüfend anschauen?
In Berlin?!
Wenige hundert Meter hinterm S-Bahnhof Charlottenburg lag das Ufer des
Lietzensees vor ihm. Am Ufer ragte ein Baumstamm aus dem Wasser. Fast
lässig schien er sich auf die Böschung zu lehnen. Genauso lässig stellte
der Scooterman sein Gefährt in Griffweite des Stamms ab. Mit einer Hand am
Lenker und einer am Stamm schaffte er es, abzusteigen und verträumt auf den
See zu sehen. Keine zwei Meter vor ihm führte gerade ein stolzer
Höckerschwan seine Gemahlin und seine frisch geschlüpften Küken aus.
„Hallo?“ Unwirsch drehte sich der Scooterman um. Vor ihm standen ein Mann
und eine Frau, beide Mitte dreißig. „Schlaganfall oder MS?“, fragte der
Mann. „Häh?“, antwortete der Scooterman. „Wir sind gerade auf dem Weg zur
Frühschicht in der Schlossparkklinik. Abteilung Neurologie. Können wir
ihnen irgendwie helfen?“
„Nö“, murmelte der Scooterman. Dann machte er eine halbwegs lässige halbe
Drehung auf den Fersen und ließ sich hinter den Lenker plumpsen. Vor seinem
Hauseingang wartete schon eine Pflegekraft, die ihm aus dem Bett helfen
wollte. „Na, Frühsport gemacht?“ – „So was Ähnliches.“ – „Na ja…
Sie erst mal unter die Dusche. Danach schmeckt das Frühstück doch gleich
viel besser.“
Scooterman räusperte sich. Ihm fiel ein, dass nur noch Knäckebrot im
Schrank wartete. Aber nach so einer aufregenden Nacht würde er vor Mittag
sowieso nichts essen können.
19 May 2017
## AUTOREN
Knud Kohr
## TAGS
Berlin-Charlottenburg
Rollstuhl
Frühling
Scooterman
Scooterman
Rollstuhlfahrer
Multiple Sklerose
Berlin
Scooterman
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