# taz.de -- Schwergewichtsboxer Wladimir Klitschko: Der kleine Zeh Gottes | |
> Die Box-Schwergewichte Klitschko und Joshua schlagen sich im | |
> Wembleystadion vor großer Kulisse. Wie groß ist dieser Kampf wirklich? | |
> Eine Analyse. | |
Bild: Schwergewichtsboxer Wladimir Klitschko stellt sich frohgelaunt der Presse | |
Was war das größte Ereignis des Schwergewichtsboxens der jüngsten Zeit? Die | |
Beerdigung von Muhammad Ali. Die fand im Juni 2016 statt, während der | |
letzte Kampf von Wladimir Klitschko im November 2015 über die Bühne ging. | |
Samstagabend (22 Uhr) steigt Klitschko im Londoner Wembleystadion wieder in | |
den Ring. 41 Jahre ist er mittlerweile alt, in dem Alter war Ali nicht mehr | |
aktiv. Als er mit 39 gegen Trevor Berbick verlor, waren sich Fach- und | |
Ärztewelt einig: Er hat zu lange geboxt. | |
Muhammad Ali war das Synonym fürs Schwergewichtsboxen in den 60er und 70er | |
Jahren. Später kamen Kämpfer wie Mike Tyson, Evander Holyfield oder Lennox | |
Lewis. Große Champions, aber niemand kam an Ali heran: boxerisch kaum, in | |
einem kulturellen und politischen Sinn gar nicht. Das gilt auch für | |
Wladimirs Bruder Vitali Klitschko und erst recht für Nikolai Walujew, den | |
2,17-Meter-Mann. | |
Der Boxpromoter Don King vermarktete ihn als das „achte Weltwunder“ und gab | |
damit die Richtung vor, in die sich das Profiboxen entwickeln sollte. | |
Dieser Don King hat Klitschko auch geraten, „egal, wie der Kampf ausgeht“, | |
auf keinen Fall vom Sport zurückzutreten. | |
Der berüchtigte Boxunternehmer, der derzeit nicht mehr die ganz großen | |
Nummern unter Vertrag hat, will das Verwertungsmodell retten, mit dem er | |
groß wurde: Boxen als heroisches Event mit dümmlicher Chauvirhetorik und | |
martialischer Musik, auch wenn’s längst Kasperletheater ist. Noch 2008 | |
wollte Don King einen Kampf zwischen Vitali und Wladimir Klitschko | |
veranstalten. Dass die Brüder das nicht wollten, hatten sie immer erklärt, | |
seit sie Mitte der 90er Jahre im Profigeschäft waren. | |
Aber wie wenig Respekt einer wie King Profis entgegenbringt, belegte einmal | |
mehr seine 20-Millionen-Dollar-Offerte für „das größte Ding seit Kain und | |
Abel“, wie der Schriftsteller Knud Kohr einmal sagte. | |
## Der letzte Vertreter dieser Art | |
An Wladimir Klitschko kam Don King nicht ran, aber der Mann ahnt, dass der | |
Ukrainer mit dem Doktortitel der letzte Vertreter dieser Art des Boxens | |
ist, mit der er Geld machen kann. Das Profiboxen steht vor einem enormen | |
Umbruch. Am deutlichsten ist das in den USA zu sehen, dort am | |
allerdeutlichsten im Schwergewicht. Dabei galt dessen Weltmeister doch | |
immer als der „große Zeh Gottes“ (Norman Mailer). | |
Heute aber gibt es die mediale und ökonomische Konkurrenz der | |
Kampfsportarten, vor allem Kickboxen und MMA. Und gegenüber MMA verblasst | |
auch frühere Kritik. Nun wird Boxen eher als das wahrgenommen, was es in | |
den Augen seiner Liebhaber schon immer war, als „The Sweet Science“, wie | |
ein Buch von A. J. Liebling aus dem Jahr 1951 heißt. | |
Die Attraktivität des Boxens speiste sich aus seiner Ästhetik, die dem | |
Kampf Mann gegen Mann, ausgetragen mit bloßen Fäusten und nackten | |
Oberkörpern, innewohnt. Und sie ergab sich, weil es für an den Rand | |
gedrängte soziale Gruppen eines der wenigen Mittel war, wenigstens | |
individuell aufzusteigen. Boxen war also in etwa das, was heute | |
Castingshows sind. | |
Die genaue Betrachtung des Boxens lehrte viel über die Gesellschaft, in der | |
dieser Sport professionell betrieben wird. Der US-amerikanische Historiker | |
Jeffrey T. Sammons hat den Zusammenhang zwischen dem Aufstieg einer | |
sozialen Gruppe in den USA und ihrer Präsenz im Profiboxen nachgewiesen. Im | |
20. Jahrhundert waren es zunächst die Iren, die den Sport dominierten, dann | |
die Juden, die Polen, die Italiener, und dann kamen lange Zeit die | |
Afroamerikaner. Wenn eine soziale Gruppe, gesamtgesellschaftlich | |
betrachtet, etabliert war, ihre Mitgliedern also andere, leichtere und | |
weniger riskante Möglichkeiten des Aufstiegs hatten, nahm für sie die | |
Attraktivität des Profiboxens ab. | |
## Schwergewichtsboxen in der Krise | |
Ende der 90er Jahre deutete sich das für die USA an. Nach Mike Tyson und | |
Evander Holyfield geriet das US-Schwergewichtsboxen in die Krise. Der | |
Engländer Lennox Lewis konnte sich lange behaupten, und vor allem kamen ab | |
Mitte der nuller Jahre die, die man gerne als „die Russen“ bezeichnete: | |
Boxer aus Russland, Weißrussland, der Ukraine: Nikolai Walujew, Oleg | |
Maskajew, Ruslan Chagajew, Sultan Ibragimow, Alexander Powetkin und | |
natürlich die Klitschkos. | |
Soziologisch betrachtet waren das ganz andere Kämpfe. Die Erfolge dieser | |
Boxer – deren Namen einem kollektiven Gedächtnis vermutlich nicht so lange | |
erhalten bleiben dürften wie Muhammad Ali oder Mike Tyson – waren Ausdruck | |
eines Aufstiegs nach dem Motto „Ihr überseht uns nicht“. Schaut man sich | |
die Biografie der Klitschkos an, lässt sich der soziale Wandel des | |
Profiboxens nicht mehr übersehen: promovierte Erziehungswissenschaftler, | |
Söhne eines sowjetischen Luftwaffengenerals. | |
Die Attraktivität des alten Boxens enthielt immer auch eine Ästhetik des | |
Scheiterns: Wer einen Titelkampf gewinnt, kann Millionär werden; wer ihn | |
verliert, ist wieder arm. Für die Klitschkos traf das nicht zu. Wenn die | |
einen Titelkampf so vergeigen würden, dass die Karriere nicht weitergehen | |
kann, dann müssten sie nicht ins Getto zurück, sondern ihre Strafe hieße: | |
Bürgermeister von Kiew oder Ordinarius der Wassyl-Karasin-Universität von | |
Charkiw. | |
Heute ist Vitali Klitschko Bürgermeister von Kiew, und Wladimir wird, | |
selbst wenn er heute Abend gegen Anthony Joshua gewinnen sollte, sich nicht | |
mehr lange in kurzen Hosen blaue Flecken holen. | |
## Wie geht es weiter? | |
Der Abtritt des letzten Klitschkos aus dem Boxring wirft die Frage auf, wie | |
es weitergeht. Bleibt das Schwergewichtsboxen weiter die große Erzählung | |
über die zentralen Auseinandersetzungen der Gesellschaft, so wie die Kämpfe | |
des Jack Johnson, Weltmeister von 1908 bis 1915, den Anspruch der | |
afroamerikanischen Bevölkerung auf gesellschaftliche Teilhabe ausdrückten? | |
Wie die Kämpfe des Max Baer (1934/35) die militante Abwehr von | |
Antisemitismus verkörperten? Wie die Kämpfe von Joe Louis gegen Max | |
Schmeling (1936 und 1938) die große Inszenierung von Demokratie versus | |
Faschismus waren? Wie Muhammad Ali das gesellschaftliche, politische und | |
kulturelle Selbstbewusstsein der Schwarzen nicht nur in den USA darstellte? | |
Wie sein „Rumble in the Jungle“ im Jahr 1974 gegen George Foreman die | |
vermutlich großartigste Parabel auf den Vietnamkrieg war, die man sich | |
denken konnte? | |
Sicher ist nur, dass das Gegenmodell, der Boxertyp, der das Neue verkündet, | |
definitiv nicht Anthony Joshua heißt. Der Engländer, seit 2016 | |
IBF-Weltmeister, hat bislang fast nur gegen ausgesuchte, schlagbare Boxer | |
gekämpft. So ist sein sauberer Kampfrekord von 18 K.-o.-Siegen in 18 | |
Kämpfen zustande gekommen. | |
Sein Promoter Eddie Hearn hält sich an die alten Regeln des Geschäfts, mit | |
denen anfangs auch die Klitschko-Brüder vom deutschen Promoter Klaus-Peter | |
Kohl aufgebaut wurden: gute Fernsehverträge, sorgsamer Karriereaufbau | |
ohne Rückschläge, baldiger Titelgewinn, und die Titelverteidigungen werden | |
organisiert vom Betreuer, der Promoter und Manager zugleich ist. | |
Die späten Klitschkos entsprachen diesem Modell nicht mehr; insofern waren | |
sie für das Weltboxen prägend. Sie hatten sich selbst vermarktet, selbst | |
die Werbe- und Fernsehverträge ausgehandelt, selbst darüber entschieden, | |
mit welchem Image sie in der Öffentlichkeit präsentiert werden, selbst die | |
großen Börsen kassiert. | |
Der Boxer als sein eigener Unternehmer, das heißt auch, dass Wladimir | |
Klitschko 2014 Anthony Joshua aus eigener Tasche bezahlt hat, als der ihm | |
vor dem Kampf gegen den Bulgaren Kubrat Pulew als Sparringspartner diente. | |
Der aktuelle Weltmeister Joshua und der frühere Weltmeister Wladimir | |
Klitschko sind beide Olympiasieger: 1996 gewann der Ukrainer in Atlanta, | |
2012 der Engländer in London. | |
## Nicht ganz makelos | |
Am Sieg Klitschkos haftete der Makel, dass sein fünf Jahre älterer Bruder | |
Vitali, damals boxerisch weiter, wegen einer Dopingsperre nicht antreten | |
durfte. Auf Joshuas Sieg lasteten strittige Kampfrichterentscheidungen. | |
Aber immerhin, beide gehorchten noch dem alten Gesetz des Boxgeschäfts, | |
dass ein Kämpfer erfolgreich Olympia absolvieren sollte, um dann einen | |
besseren Profivertrag zu bekommen. Schnell Hauptkämpfer werden, schnell für | |
TV-Sender attraktiv sein, schnell einen Titelkampf erhalten. Das war bei | |
George Foreman (Olympiasieg 1968), bei Joe Frazier (1964) und bei Muhammad | |
Ali (1960 im Halbschwergewicht) noch so etwas wie ein Boxgesetz. | |
Doch es funktioniert immer seltener. Die Olympiasieger im Schwer- und | |
Superschwergewicht der vergangenen Jahre wurden nur noch in Ausnahmefällen | |
zu großen Namen im Profiboxen: Lennox Lewis (Olympiasieger 1988) war eine | |
Ausnahme, Alexander Powetkin (2004) auch. Aber das war’s schon. Tony Yoka | |
(2016) und Roberto Cammarelle (2008) wurden gar keine Berufssportler. | |
Audley Harrison (2000) und Tyrell Biggs (1984) scheiterten als Profis – | |
ohne Weltmeistertitel und ohne Rücklagen fürs Leben danach. | |
Totgesagt wurde das Profiboxen schon oft, und immer waren solche Prognosen | |
falsch. Große Kämpfe kommen manchmal unverhofft, sie müssen nicht | |
unbedingt, wie zu Joe Louis’ und Muhammad Alis Zeiten, als „Fights of the | |
Century“ beworben werden. Vorläufig aber bleibt die ernüchternde | |
Erkenntnis, dass das letzte große Boxereignis eben die Beerdigung von Ali | |
war, gestorben am 3. Juni 2016 in Scottsdale, Arizona, nach 61 Kämpfen und | |
56 Siegen. | |
29 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Martin Krauss | |
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Vitali Klitschko | |
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