# taz.de -- Kolumne Air de Paris: Lust am Kannibalismus | |
> Wenn man sich in Paris das Abendessen nicht verderben lassen will, darf | |
> man auf keinen Fall über den Wahlkampf sprechen. | |
Bild: Da mag man nicht mehr drüber reden | |
Seit einigen Wochen herrscht in Paris ein unausgesprochenes Gesetz: Wenn | |
irgendwie möglich, bloß nicht über den Wahlkampf sprechen. Manchmal wird | |
das Verbot auch einfach direkt ausgesprochen: „Interdiction de parler du | |
débat!“, auf keinen Fall über die Debatte sprechen, flüsterten Freunde mir | |
vor ein paar Wochen zu, noch während sie mir die Tür zu ihrer Wohnung | |
öffneten. | |
Gemeint war eine der ersten Fernsehdebatten, in denen sich die Anwärter auf | |
den Präsidentenposten – Hamon, Macron, Mélenchon, Fillon, Le Pen – | |
gegenüberstanden, um so zu tun, als würden sie ihre Programme gegeneinander | |
zücken wie Schwerter, tatsächlich aber nicht viel mehr machten, als sich | |
hier und da kindergartenartig zu piken. | |
Sie wollen sich das Abendessen nicht verderben lassen, meinten die Freunde, | |
am Vorabend sei es schon im Desaster geendet: Die eine habe den anderen | |
angebrüllt, er sei ein alter Fascho, der wiederum habe ihr erklärt, sie sei | |
haarsträubend naiv und am Ende seien alle wütend gegangen. | |
Wir brauchen die Politik nicht, fanden wir und griffen zu Ausweichthemen: | |
die köstliche Blanquette de veau etwa, die neue Pizzeria an der Opéra und | |
den sehr gehypten Film „Grave“, in dem sich ein unscheinbares junges | |
Mädchen in eine blutrünstige Kannibalin verwandelt, die gierig den | |
Zeigefinger ihrer Schwester isst. Warum Frankreich derzeit eine so große | |
Lust am Kannibalismus hat, fragten wir uns, bis einer meinte, der Film sei | |
doch von Julie Gayet, François Hollandes Freundin, produziert. | |
## Was geht in Macrons Gesicht vor sich? | |
Und da waren wir auch schon wieder bei der Politik und gleich danach, nach | |
der Frage, wie Holland diese Fernsehdebatten wohl wahrnimmt, auch schon | |
wieder beim „débat“: „Habt ihr gesehen was da über zwei Stunden mit | |
Macrons Gesicht passierte?“ Erst schaut er so konzentriert und angespannt, | |
dass man meint, er halte die ganze Zeit die Luft an, dann reißt er ab und | |
zu die Augen erstaunt auf, als würde ihn jemand in den Po zwicken, dann, | |
während er spricht, wackelt er mit dem Kopf, so wie es sonst nur alte Damen | |
machen. | |
Es ist, wenn schon nicht politisch relevant, so doch zumindest interessant. | |
Ja, gut, aber Schluss jetzt damit. Ob wir schon die großartige Ausstellung | |
„L’esprit français“ im Maison rouge gesehen haben, in der es um die | |
französische Subkultur nach 68 geht, fragt die Gastgeberin. Wirklich | |
großartig, finden alle, vor allem Topor und Hara Kiri, wie subversiv und | |
cool Frankreich doch einmal war, was nur passiert ist, dass wir dort | |
landen, wo wir jetzt sind, fragen wir uns, und wissen plötzlich, weshalb es | |
ein Politikverbot gab. Es senkt dramatisch die Stimmung. | |
Wo wir nun aber schon bei 68 sind, müssen wir natürlich über Jean-Luc | |
Mélenchon reden. Ah, Jean-Luc! Keiner hatte ihn kommen sehen, diesen Mann, | |
der wohl niemals sein Outfit wechselt, immer in Jeans, Hemd und | |
Dachdeckerjacke erscheint. Er zitiert Marx, reißt Witze über die sterbende | |
Parti Socialiste, spricht vom notwendigen Austritt aus den EU-Verträgen und | |
begeistert mit dieser Mischung aus Patriotismus, Euroskeptizismus und | |
Revolutionsnostalgie die Massen. | |
Keinem haben die Fernsehdebatten so sehr genutzt wie ihm, plötzlich steht | |
er an der Spitze der Umfragen, und mit ein bisschen Pech stehen wir in zwei | |
Wochen mit zwei radikalen Parteien in der zweiten Wahlrunde – dem | |
rechtsextremen Front National von Marine und der linksextremen France | |
insoumise von Jean-Luc. Wie ist das möglich? | |
„Die Leute verwechseln den Wahlkampf mit ,The Voice' “, meinte Anne | |
Sinclair, die Exfrau von Dominique Strauss-Kahn, letztens, als wir uns | |
trafen, um ganz bewusst über Politik zu sprechen. Sie würden einfach den | |
wählen, der am nettesten wirkt, meinte sie. Nur ob das The-Voice-Prinzip | |
wirklich das Beste ist, um einen Präsidenten zu wählen, das fragen wir uns | |
noch an diesem Abend, bevor wir den Wahlkampf endgültig hinter uns lassen. | |
Wir wollen ja noch ein bisschen lachen. | |
18 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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