# taz.de -- Kolumne Air de Paris: Blumen vor dem Haus | |
> Wie hat der Angriff auf die Redaktion der Satirezeitung „Charlie Hebdo“ | |
> die französische Hauptstadt verändert? Einige Eindrücke. | |
Bild: Gegenüber der Haustür der Kolumnistin liegen die alten Redaktionsräume… | |
Seit ein paar Tagen liegen auf dem Gehweg vor meiner Haustür zwei dicht | |
besteckte Blumenkränze. Der eine, weiße, dunkelrote und zartrosa Rosen, | |
gelb leuchtende Gerbera und viel Grün, stammt von der | |
Charlie-Hebdo-Redaktion, der andere, eine schlichtere Variante aus Blau, | |
Weiß, Rot auf Grün von der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo und dem | |
neuen Innenminister Bruno Le Roux. | |
Am letzten Donnerstag, dem 5. Januar, waren sie alle gekommen. Während im | |
Radio der Schriftsteller Daniel Pennac von seinem neuen Buch erzählte und | |
wie die Stimme eines weit entfernten Frankreichs klang (er erweckt seine | |
Kultfigur „Malaussène“ nach 32 Jahren wieder zum Leben), verkündete man | |
unten auf dem Boulevard die Realität von heute: „In Andenken an Ahmed | |
Merabet, der am 7. Januar 2015 an dieser Stelle dem Terrorismus zum Opfer | |
gefallen ist“. | |
Anne Hidalgo sprang auf, um den Strauß unter die im Vorjahr angebrachte | |
Gedenkplakette zu legen, Riss, der neue Chefredakteur von Charlie Hebdo, | |
schaute still zu Boden, die kleine Menschentraube schwieg eine Minute und | |
trennte sich dann so leise wie sie gekommen war. Zwei Jahre schon. | |
Vor zwei Jahren sah hier alles anders aus. Der gesamte Boulevard und die | |
umliegenden Straßen waren abgesperrt, überall Polizei, überall | |
Journalisten, Kamerateams, weinende Menschen, fassungslose Gesichter. | |
Keiner verstand wirklich, was hier gerade passiert war, keiner konnte | |
fassen, dass dieses Jahr, von dem es mal hieß, es werde besonders gut | |
werden, damit beginnen würde, dass zwei junge Männer in die | |
Charlie-Hebdo-Redaktion eindringen und das halbe Team, Ikonen des Landes, | |
hinrichten. | |
## Sie waren diesmal leise | |
Selbst als wir Abends alle auf der Place de la République standen und wie | |
fremdgesteuert „Je suis Charlie“ riefen, hatten wir keine Ahnung, was das | |
bedeutet, was hier passiert, wo das hinführen würde. | |
In diesem Jahr standen am Abend des 7. Januar wieder Menschen auf der Place | |
de la République, nur waren sie diesmal leise. Überhaupt war alles sehr | |
leise. Das Pathos ist raus. Selbst das in dieser Woche erschienene Buch von | |
Bernard Maris’ Tochter Gabrielle Maris „Prends le temps de penser à moi“, | |
in dem sie an den beim Anschlag auf Charlie getöteten | |
Wirtschaftswissenschaftler erinnert, ist kein bisschen larmoyant. Es klingt | |
eher ein wenig grotesk, wenn sie schreibt, der Abend des Attentats, als die | |
gesamte Familie vor dem Fernseher saß und François Hollandes Ansprache | |
lauschte, habe sich angefühlt wie ein zweiter, falscher Silvesterabend. „Es | |
fehlte nur noch der Champagner“ schreibt sie. | |
Sie erzählt nicht von ihrer Wut oder dem Hass, den sie hat oder nicht hat. | |
Die Dschihadisten und deren blutrünstige Weltsicht sind ihr vollkommen | |
egal. Stattdessen geht es um den Süden und den Sommer und ihren Papa, | |
diesen eigenwilligen Mann, der ihr seine Zunge rausstreckt, wenn sie auf | |
seine Nasenspitze drückt. | |
## Nicht befriedet, natürlich nicht | |
Dass neben diesem wirklich sehr schönen Buch pünktlich zum zweiten | |
Jahrestag des Anschlags ein anderes, diskutableres Buch erscheint, nämlich | |
die Deradikalisierungs-Memoiren „Mon Djihad“ des sogenannten „émir des | |
Buttes-Chaumont“ Farid Benyettou, jenem angeblich „geheilten“ Prediger, d… | |
die Kouachi-Brüder zum Dschihad geführt hat, darf man wohl getrost als | |
klugen, wenn auch sehr geschmacklosen Marketingcoup verbuchen. | |
Wichtiger ist, dass Frankreich gerade ein bisschen wie Gabrielle Maris | |
dasteht: Nicht befriedet, natürlich nicht, aber gewillt nach vorne zu | |
schauen. Vielleicht haben die Attentate auf Charlie, den Hyper Casher, die | |
vielen kleinen mehr oder weniger beachteten Anschläge im Frühjahr und | |
Sommer, das Attentat im November 2015 und das des 14. Juli zu einer | |
gewissen Resignation und Erschöpfung geführt. Vielleicht bringt dieses Jahr | |
aber auch einfach ein bisschen Hoffnung: Etwas wird sich ändern. So viel | |
steht fest. | |
Denn im Mai wird gewählt. Und man darf ausnahmsweise angesichts von Marine | |
Le Pens Front National hoffen, es wird keine Präsidentin. François Fillon | |
steht für Les Républicains bereit, Emmanuel Macron ist mehr „en marche“ | |
denn je. Nur die Kandidaten der Parti Socialiste kämpfen noch die nächsten | |
zwei Wochen um die Wählergunst in einer offenen Vorwahl. Egal wie, alles, | |
nur nicht Marine. Dieses Jahr wird spannend. Zum zu langen Zurückschauen | |
reicht gerade nicht die Zeit. | |
10 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Annabelle Hirsch | |
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