| # taz.de -- ALBTRUMP Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder über total… | |
| Bild: Downtown Washington am 18. 1. 2017. Nur vier Prozent der Hauptstädter … | |
| von Timothy Snyder | |
| Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen. Als die | |
| Gründerväter über die amerikanische Verfassung diskutierten, zogen sie | |
| Lehren aus der ihnen bekannten Geschichte. Aus Sorge, die demokratische | |
| Republik, die sie im Sinn hatten, könnte zusammenbrechen, sahen sie sich | |
| genau an, wie antike Demokratien und Republiken zu Oligarchien und Imperien | |
| verkommen waren. | |
| Wie sie sehr wohl wussten, hatte Aristoteles davor gewarnt, dass | |
| Ungleichheit zu Instabilität führe, während Platon der Überzeugung war, | |
| dass Demagogen die Meinungsfreiheit missbrauchten, um sich zu Tyrannen | |
| aufzuschwingen. Indem sie das Recht zum Grundpfeiler der demokratischen | |
| Republik machten und ein System der checks and balances installierten, | |
| wollten die Gründerväter das Übel vermeiden, das sie, wie die antiken | |
| Philosophen, als Tyrannei bezeichneten. Sie dachten dabei an die | |
| Machtübernahme durch eine Einzelperson oder eine Gruppe oder daran, dass | |
| die Regierenden das Gesetz zum eigenen Vorteil umgingen. In den politischen | |
| Debatten in den Vereinigten Staaten ging es danach häufig um das Problem | |
| der Tyrannei innerhalb der amerikanischen Gesellschaft: der Tyrannei gegen | |
| Sklaven oder Frauen zum Beispiel. | |
| Es ist somit gute Tradition, dass wir Amerikaner einen Blick in die | |
| Geschichte werfen, wenn unsere politische Ordnung bedroht scheint. Wenn wir | |
| heute in Sorge sind, das amerikanische Experiment könnte durch eine | |
| Tyrannei gefährdet sein, können wir dem Beispiel der Gründerväter folgen | |
| und die Geschichte anderer Demokratien und Republiken betrachten. | |
| Die gute Nachricht dabei ist, dass wir uns nicht auf das antike | |
| Griechenland oder das alte Rom beziehen müssen, sondern über Beispiele | |
| verfügen, die jüngeren Datums und von größerer Relevanz sind. Die schlechte | |
| Nachricht ist, dass die Geschichte der modernen Demokratie eine des | |
| Verfalls und des Untergangs ist. | |
| Seit die amerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit gegenüber der | |
| britischen Monarchie erklärten, die den Gründervätern „tyrannisch“ | |
| erschien, hat die europäische Geschichte drei große demokratische Momente | |
| erlebt: nach dem Ersten Weltkrieg 1918, nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 und | |
| nach dem Ende des Kommunismus 1989. | |
| Viele der Demokratien, die an diesen Wegmarken begründet wurden, sind | |
| gescheitert, und zwar unter Umständen, die in mancherlei Hinsicht den | |
| unseren ähneln. Geschichte macht uns vertrauter, und sie kann eine Warnung | |
| sein. Am Ende des 19. Jahrhunderts, genauso wie am Ende des 20. | |
| Jahrhunderts, weckte die Ausweitung des Welthandels Fortschrittshoffnungen. | |
| Am Anfang des 20. Jahrhunderts, genauso wie am Anfang des 21. Jahrhunderts, | |
| wurden diese Hoffnungen durch neue Vorstellungen von Massenpolitik in Frage | |
| gestellt, in denen eine Person oder eine Partei für sich in Anspruch nahm, | |
| den Willen des Volkes unmittelbar zu repräsentieren. | |
| Die europäischen Demokratien brachen in den 1920er und 1930er Jahren | |
| zusammen und mündeten in rechten Autoritarismus und Faschismus. Die 1922 | |
| gegründete kommunistische Sowjetunion dehnte ihr Modell in den 1940er | |
| Jahren auf Europa aus. Die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts | |
| zeigt uns, dass Gesellschaften zerfallen, Demokratien untergehen, | |
| moralische Werte zusammenbrechen und ganz gewöhnliche Menschen plötzlich | |
| mit einer Schusswaffe in der Hand an Todesgruben stehen können. Es wäre für | |
| uns Heutige ganz gut, wenn wir verstehen würden, warum das so war. | |
| Der Faschismus wie der Kommunismus waren Reaktionen auf die Globalisierung: | |
| auf die tatsächlichen und vermeintlichen Ungleichheiten, die sie schuf, und | |
| auf die offenkundige Hilflosigkeit der Demokratien, etwas dagegen zu tun. | |
| Die Faschisten lehnten die Vernunft im Namen des Willens ab und sie | |
| leugneten die objektive Wahrheit zugunsten eines glorreichen Mythos, der | |
| von politischen Führern beschworen wurde, welche behaupteten, dem Volk eine | |
| Stimme zu geben. Sie gaben der Globalisierung ein Gesicht, indem sie | |
| behaupteten, deren komplexe Herausforderungen seien Folge einer | |
| Verschwörung gegen die Nation. | |
| Die Faschisten regierten ein oder zwei Jahrzehnte lang und hinterließen ein | |
| intaktes geistiges Vermächtnis, das heute mit jedem Tag an Relevanz | |
| gewinnt. Die Kommunisten herrschten länger, fast siebzig Jahre in der | |
| Sowjetunion und mehr als vierzig Jahre in einem Großteil Osteuropas. Ihr | |
| Herrschaftsmodell war das einer disziplinierten Parteielite mit einem | |
| Monopol auf die Vernunft, welche die Gesellschaft gemäß angeblich | |
| feststehender historischer Gesetzmäßigkeiten in eine sichere Zukunft führen | |
| würde. | |
| Wir könnten versucht sein zu glauben, unser demokratisches Erbe schütze uns | |
| Amerikaner automatisch vor solchen Gefahren. Doch dieser Reflex ist fehl am | |
| Platze. Vielmehr müssen wir dem Beispiel der Gründerväter folgen und die | |
| Geschichte in den Blick nehmen, um die tieferen Ursachen der Tyrannei zu | |
| begreifen und angemessene Antworten darauf zu finden. | |
| Wir Amerikaner sind heute nicht klüger als die Europäer, die im 20. | |
| Jahrhundert erleben mussten, wie die Demokratie dem Faschismus, dem | |
| Nationalsozialismus oder dem Kommunismus wich. Unser einziger Vorteil ist | |
| der, dass wir aus ihrer Erfahrung lernen können. | |
| Dafür ist es jetzt an der Zeit. | |
| 4 Mar 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Timothy Snyder | |
| ## TAGS | |
| Demokratie | |
| Krise der Demokratie | |
| USA / Vereinigte Staaten von Amerika / United States | |
| Schwerpunkt Die USA unter Trump | |
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