Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Seit 15 Jahren arbeitslos: „Klar bin ich einsam“
> Gleich nach seiner Ausreise meldet sich Lutz Baumann 1988 in Westberlin
> beim Arbeitsamt. Inzwischen führt er ein Leben von einer Maßnahme zur
> nächsten.
Bild: Er sei immer irgendwie der Außenseiter, sagt Lutz Baumann über sich sel…
Im Jobcenter ist Lutz Baumann Dauergast. Mit wechselnden BeraterInnen ringt
er um Weiterqualifizierungen und 1-Euro-Jobs. Im Interview spricht der
63-Jährige über eine lebendige Vergangenheit in Ostberlin, die Freunde von
damals, übers Reisen und Fotografieren. Und über die Distanz, die die
Arbeitslosigkeit schafft. Dabei sei doch klar, sagt Baumann, dass er
arbeiten wolle.
taz: Herr Baumann, wie lange sind Sie schon arbeitslos?
Lutz Baumann: Ich arbeite seit 15 Jahren in verschiedenen Maßnahmen,
dazwischen immer Hartz IV. Meine Akte beim Jobcenter ist wahrscheinlich
länger als meine Stasiakte.
Was ist ihre aktuelle Maßnahme?
Ich arbeite in einer vom Jobcenter finanzierten Stelle für 1,50 Euro die
Stunde, unter anderem im Jugendwiderstandsmuseum in Friedrichshain. Das
mache ich jetzt schon seit ein paar Jahren.
Was arbeiten Sie dort?
Ich war beim Aufbau des Museums seit 2008 mit dabei. Ich habe dann auch
durch die Ausstellung geführt, den Besuchern meine Geschichte erzählt.
Die würde ich auch gern hören.
Wo soll ich anfangen?
Am Anfang.
Ich bin 1953 in Ostberlin geboren, in Adlershof. Zur Schule gegangen bis
1970, dann Lehre als Bautischler und Wehrdienst bei den Luftstreitkräften.
Ab 1974 hab ich beim VEB Ingenieurbau gearbeitet, wir haben das
Regierungskrankenhaus und den Pionierpalast gebaut. 1980 habe ich dort
aufgehört und war dann Hausmeister bei der Hochschule für Musik. 1988 bin
ich nach Westberlin ausgereist.
Was für ein Typ waren Sie damals?
(blättert in einem Ordner und liest vor) „Der Lutz Baumann gehört zu einer
Gruppe von Personen, die eine feindlich-negative Grundeinstellung zur DDR
besitzen und nach einer zuverlässigen IM-Information zum Untergrundkampf
gegen die DDR entschlossen sind.“
Ist das Ihre Stasiakte?
Ja, daraus lese ich gerade vor. Und noch eine Einschätzung: „Nach Kenntnis
der Quelle ist der Hausmeister der Hochschule für Musik Hanns-Eisler
Berlin, Lutz Baumann, homosexuell veranlagt und ist auch als Transvestit in
Erscheinung getreten.“
Stimmte das?
Ach Quatsch. Hier hat noch einer zu Protokoll gegeben: „In seinen Ansichten
scheint er mir Ähnlichkeiten mit einem Anarchisten zu haben. Seine Art
erinnert mich sehr an die westdeutsche alternative Szene. So möchte Lutz
sich nicht in vorgegebene Muster und Verhaltensnormen einordnen. Er sagt,
er will sich von allem selbst ein Bild machen. Lutz kommt offenbar aus
Adlershof, ist wohl auch dort zur Schule gegangen, hatte aber offenbar
immer so eine Art Außenseiterstellung.“
Waren Sie tatsächlich ein Außenseiter?
Ich war in der Subkultur noch mal in meiner eigenen Subkultur. Ich war
Arbeiter, und ich hatte nie die große, feste Freundin. Ich habe noch bis
1980 bei meinen Eltern in der Anderthalbzimmerwohnung gewohnt und hatte
dadurch nie ein eigenes Zimmer, hab immer irgendwie auf einer Liege
geschlafen. Erst mit 27 habe ich nach langem Kampf meine eigene Wohnung
bekommen.
Hatten Sie Freunde?
Damals jede Menge. Als ich meine erste Bude bezog, haben die Kumpels
gesagt: Du musst doch ne Party machen. Das waren anderthalb Zimmer ziemlich
weit draußen in Adlershof. Aber die Leute sind alle gekommen, von
Prenzlauer Berg, Mitte und so. Da waren wir bestimmt 50 bis 60 Leute.
Was waren das für Leute, woher kannten Sie die?
Die meisten kannte ich aus dem Jazzkeller in Treptow, in der Puschkinallee.
Im Februar 1975 war ich das erste Mal dort und hab dann ganz schnell
Kontakte geschlossen. Und daraus wurden dann immer mehr. Der kannte den,
und der kannte den. Und dann hieß es am Freitag im Jazzkeller: Nächste
Woche ist eine Party bei dem, und dann ist man da hingegangen. Ohne
Telefon, ohne Computer. Wie das so war, damals in Ostberlin. Ab 1977 bin
ich dann mit zwei anderen jedes Jahr nach Bulgarien, Rumänien, Ungarn,
zweimal auch Transit in die Sowjetunion gefahren. Innerhalb des Landes
dann getrampt, um Abenteuer zu erleben. Immer draußen geschlafen.
Wie sahen Sie damals aus?
Ich hab immer Bart getragen und mal die Haare kurz, mal lang. Karierte
Hemden, Jeans. Ich hatte immer einen Umhängebeutel mit einem Buch dabei,
Hermann Hesse und was ich gerade so gelesen habe. Außerdem einen zweiten
Pullover, Taschenlampe, manchmal die Kamera. Nach einer Party haben wir uns
dann irgendwo auf den Boden gelegt, den Umhängebeutel habe ich immer als
Kopfkissen genommen.
Hatten Sie damals Stress mit der Polizei?
Wenn du ein bestimmtes Aussehen hattest, wurdest du von der Polizei
kontrolliert, das war ganz normal. Heute heißt das „verdachtsunabhängige
Kontrollen“. Das ging ab dem 16. Lebensjahr los und endete 1988 mit meiner
Übersiedlung. Aber ich war nie in Haft wie viele meiner Bekannten. Dabei
habe ich auch immer meine Meinung gesagt. Aber als Arbeiter konntest du das
einfacher machen, als wenn du Angehöriger der Intelligenz warst oder
studiert hast. Ich hatte ja keine Karriere vor, da war man etwas freier.
Warum wollten Sie dann ausreisen?
1977 sind die Ersten schon abgehauen, damals noch im Kofferraum. Die ersten
Mädchen haben irgendwelche Holländer geheiratet oder Österreicher. Nach und
nach ist der halbe Bekanntenkreis weggegangen. Ich war ungebunden, musste
auf niemanden Rücksicht nehmen und wollte auch mal andere Länder sehen als
immer nur Rumänien und Bulgarien. 1986 hab ich dann geschrieben: „Hiermit
bitte ich um die Entlassung aus der Staatsbürgerschaft“, und habe das
eingereicht bei der Abteilung Inneres.
Was passierte dann?
Ein Jahr lang gar nichts. Dann hab ich ein Bettlaken aus dem Fenster
gehangen, „Frei“ stand da drauf. Es gab aber nur eine Verwarnung von der
Abteilung Inneres. Ein paar Bekannte haben dann eine Ausreisegruppe
gegründet und eine Petition geschrieben, haben immer wieder Eingaben
gemacht, sind zu Ausreisegottesdiensten gegangen. Da hab ich mitgemacht.
Ende Mai 1988 konnten dann die Ersten ausreisen. Im Sommer war ich dran.
Ich hab alles abgemeldet und bin am 2. September durch die Tür vom
Tränenpalast gelaufen. Auf der anderen Seite standen die, die schon im
Westen waren. Mit Sekt.
Und dann?
Ich hab mich gleich auf die Socken gemacht zum Arbeitsamt und wollte
arbeiten. Aber als Hausmeister wurde man im Westen ja als Hilfskraft
eingeschätzt. So bin ich im Institut für berufsbezogene
Erwachsenenqualifizierung gelandet, da sollte ich zum Hausmeisterlehrgang.
Da saßen alle mit Bild-Zeitung, die furchtbarsten Typen. Da hab ich gesagt,
das kann ich nicht mitmachen und ich muss das doch auch nicht mehr lernen.
Ich habe dann zum Glück 1988 eine ABM-Stelle als Haustechniker bekommen und
dann den Job beim Deutschen Roten Kreuz im Flüchtlingswohnheim.
Übers Arbeitsamt?
Ach was. Eine Bekannte, auch aus dem Osten in den Westen gekommen, sagte
mir, beim Roten Kreuz suchen sie immer Hausmeister. Dann habe ich eine
Bewerbung geschrieben und bin sofort genommen worden.
Welche Bedeutung hatte und hat Arbeit für Sie?
Man hat Geld verdient, war unter Menschen und hatte abends was geschafft.
Ich habe immer gern gearbeitet. Die Punks habe ich nie verstanden. Auf dem
Bau war ich nicht so glücklich, da war ich ein bunter Vogel. Als
Hausmeister an der Musikhochschule war ich dann freier, habe interessante
Menschen kennengelernt. Im Flüchtlingsheim genauso. Außerdem konnte ich
dort fotografieren.
Die ganze Wohnung hängt voll mit Ihren Fotos, seit wann fotografieren Sie?
1978 hab ich mir ein Vergrößerungsgerät angeschafft. Da hab ich noch bei
meinen Eltern gewohnt und in der Küche angefangen zu entwickeln. In meiner
ersten eigenen Wohnung hatte ich dann ein halbes, schimmliges Zimmer, zum
Entwickeln hat das gereicht. Ich hab meinen Alltag in der DDR fotografiert,
die Punks, die Partys. Einige meiner Bilder hängen im Widerstandsmuseum. In
den 90er Jahren habe ich bei meinen Reisen fotografiert: Thailand, Paris,
Portugal. Das war meine beste Zeit. Die Arbeit, das Reisen. Damals sind wir
auch noch alle miteinander verkehrt. Die Freunde aus Ostberlin.
Warum hat das aufgehört?
Die hatten dann alle ihre Familien. Manche sind noch zusammen in den Urlaub
gefahren. Und ich wurde arbeitslos, hatte kein Geld. So war das eben.
Die hatten es geschafft?
Ja, aber die haben es auch verdient.
Sind Sie manchmal neidisch?
Nee.
Oder verbittert?
Nie. Ich hatte zum Glück immer meine Reisen, die habe ich alle noch im
Kopf.
Wollten Sie das Fotografieren eigentlich nie zum Beruf machen?
Dafür bin ich nicht professionell genug. Ich kann nur fotografieren, wenn
ich nicht muss. Ich kann nicht unter Zwang, das ist das Problem.
Gilt das jetzt nur fürs Fotografieren?
Das gilt generell. Da bin ich vielleicht etwas anarchisch, ich bin sehr vom
Gefühl abhängig. Ich werde sehr nervös, wenn von mir Sachen erwartet
werden. Ich hab nie für eine Privatfirma gearbeitet: erst für den
Volkseigenen Betrieb, dann für das Deutsche Rote Kreuz. Da war ich freier,
da gab es nicht so viel Druck. Das waren keine Privatkapitalisten, denen es
um Profit geht. Da habe ich einfach meine Aufgaben erledigt.
Klingt gut.
Ich hätte das gern noch weitergemacht, aber das Rote Kreuz hat 2001 alle
Flüchtlingsheime dichtgemacht, die Flüchtlingshilfe aufgelöst. Die
Hausmeister standen alle auf der Straße und waren arbeitslos. Ich habe dann
noch eine Zeit lang um die 60 Prozent meines Nettogehalts bekommen. Aber
keinen Job mehr, auf meine Bewerbungen kam nie mehr eine Antwort. Ich bin
dann gleich zum Arbeitsamt und wollte eine Weiterqualifizierung machen. Da
haben die aber gesagt: „Sie müssen erst ein Jahr arbeitslos sein.“ Nach
einem Jahr bin ich wieder hin, ob sie nicht was für mich haben. Ich habe
dann einen Lehrgang zur „Fachkraft für Sicherheits- und Hausmanagement“
gemacht und dann ein Praktikum als Hilfshausmeister im Altenheim.
War das nicht schwierig für Sie? Sie hatten ja schon jahrelang als
Hausmeister gearbeitet, und dann sollten es plötzlich wieder Praktikum und
Hilfsjob sein.
Nee. Das war schon in Ordnung. Ich habe eben die einfachen Arbeiten
gemacht. 2004 habe ich dann gehört, dass es ein Pilotprojekt in
Vorbereitung auf die Hartz-IV-Reformen gibt. Da bin ich gleich zum
Arbeitsamt gegangen und hab gesagt, ich will da mitmachen. Von Herbst 2004
bis 2006 hatte ich dann das Glück, in einer Schule als Hausmeister für 1,50
Euro pro Stunde zu arbeiten. Die Schule habe ich mir selber gesucht.
Wie viel waren das im Monat?
Damals gab es 380 Euro plus Miete und 200 Euro extra für den 1,50-Euro-Job.
Und damit sind Sie klargekommen?
Damit komme ich auch heute noch klar. Ich versuche mit 5 Euro am Tag
auszukommen.
Welche Jobs haben Sie noch gemacht?
Ich habe auch mal als Spielplatzbetreuer und dann als Umweltassistent
gearbeitet. Immer befristete Maßnahmen, dazwischen Hartz IV.
Wieso liefen diese Maßnahmen immer aus?
So sind die Gesetze. Inzwischen dürfen die Maßnahmen auch drei Jahre
laufen. Dann soll man sich immer bewerben. Das hab ich irgendwann aber
nicht mehr gemacht, habe ja nie eine Antwort bekommen. Doch, ein einziges
Mal. Von einer Kirchengemeinde. Aber die haben mich, unverheirateter Mann,
über 50, nicht genommen.
Wie kamen Sie zum Jugendwiderstandsmuseum?
Irgendwann hatte ich gehört vom Projekt einer Geschichtswerkstatt, auch
übers Jobcenter. Ich habe mich immer sehr für Geschichte interessiert, also
bin ich gleich hin, habe ein paar Fotos eingesteckt und gesagt: Bitte setzt
mich nicht als Techniker ein, sondern im Bereich Geschichte. Ich bin denen
so lange auf den Geist gegangen, bis ich da reingekommen bin als
1,50-Euro-Jobber. Wir haben dann angefangen, das Museum aufzubauen.
Aber das war sicher auch wieder befristet?
Genau. Dann hab ich aber gehört, dass die Linke einen Öffentlichen
Beschäftigungssektor ÖBS einführen will. Das war eigentlich gedacht für
Leute, die es ansonsten nie geschafft hätten: Rauschgiftsüchtige und Leute,
die früher immer am Kotti rumhingen. Die waren damit aber auch nicht zu
locken, und dann haben sie das erweitert. Der Träger vom Widerstandsmuseum,
die Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft, hat sich dann dafür eingesetzt, dass
ich im Rahmen des ÖBS weiterarbeiten konnte. Nach dreieinhalb Jahren ist
aber auch das ausgelaufen. Im Jahr 2012 musste ich dann komplett pausieren.
Warum das denn?
Weil ich vom Jobcenter keine Maßnahme mehr bekommen habe. Wahrscheinlich,
weil ich schon seit 2004 in 1-Euro-Jobs oder 1,50-Euro-Jobs gearbeitet
habe. 2012 war für mich ein schlimmes Jahr, ich hatte überhaupt kein Geld.
Immerhin habe ich mir neue Zähne machen lassen, die kriegt man ja dann
umsonst. Im Dezember bin ich dann wieder hin zum Jobcenter, habe mich
rumgestritten. Eine Bearbeiterin hatte dann ein Einsehen, und ich konnte ab
2013 wieder für 1,50 Euro für die Hedwig-Wachenheim-Gesellschaft arbeiten.
Haben Sie nie gedacht: Wenn mir keiner eine richtige Arbeit gibt, dann
lasse ich es eben.
Nein. Ist doch klar, dass ich arbeiten will.
Für manche nicht.
Für mich ist das keine harte Arbeit, ich mache das wirklich gern im Museum.
Ich komme ja aus einem Milieu, in dem nur körperliche Arbeit richtige
Arbeit ist. Nur dann war man ein ganzer Kerl.
Waren Sie für die Intellektuellen immer der Arbeiter und für die Arbeiter
zu intellektuell?
Vollkommen richtig. Immer so ein Zwischending. Aber ich hab mich zu den
Intellektuellen immer mehr hingezogen gefühlt. Wir waren früher einfach
anders. Haben gelesen, sind getrampt, das Materielle hat uns nicht so
interessiert. Das erzähle ich auch immer den Besuchern vom
Widerstandsmuseum. Das Erste, was ich im Westen gemacht habe, war, in die
Amerika-Gedenkbibliothek zu gehen. Das war das dollste Ding. Da bin ich
versunken.
Ecken Sie heute immer noch an?
Ja. Weil ich immer noch meine Meinung sage.
Sind Sie einsam?
Klar. Auf jeden Fall.
Haben Sie sich damit abgefunden, keinen Job mehr auf dem ersten
Arbeitsmarkt zu bekommen?
Ja. Man findet sich damit ab.
Das heißt, wenn es so weitergehen würde wie bisher …
… das reicht aus. Mehr kann ich nicht erwarten.
Was wünschen Sie sich fürs Alter?
Ich wünsche mir nichts mehr. Gerade lebe ich nur in der Erinnerung, das
klingt jetzt so fatalistisch. Aber in der Stimmung bin ich gerade.
Vielleicht ist es morgen besser.
20 Feb 2017
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
Arbeitslosigkeit
Lesestück Interview
Jobcenter Hamburg
## ARTIKEL ZUM THEMA
Umverteilung beim Jobcenter: Weniger Bildung für Arbeitslose
Das Jobcenter drosselt die Ausgabe von Bildungsgutscheinen für
Langzeitarbeitslose und Flüchtlinge. Der Grund: Auch die Verwaltung braucht
Geld
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.