Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ungeschöntes Amerika in Langenhagen: Ein Raum für ein Reisetagebu…
> Die Fotos der Ausstellung „Europa verlassen“ zeigen einen ungeschönten
> Blick auf Amerika. Der frühere Sehnsuchtsort ist vielerorts ganz schön
> heruntergekommen.
Bild: Amerika auf Papier: 30 Meter Reiseerinnerungen im Kunstverein Langenhagen
HANNOVER taz | Die Fotografien liegen in langen Papierbahnen auf dem Boden.
Wolkenkratzer oder Wüsten sind darauf zu sehen, Palmen und Motelzimmer. Der
Kunstverein Langenhagen zeigt die Bilder einer Reise quer durch Amerika.
Das multidisziplinäre Berliner Trio um die Schriftstellerin Felicitas
Hoppe, die Fotografin Jana Müller und den Objektkünstler Alexej
Meschtschanow bereiste rund 10.000 Meilen in nur fünf Wochen – die Grand
Tour.
Ausgedehnte Reisen durch die USA haben unter europäischen Künstlern lange
Tradition. Der Schweizer Fotograf Robert Frank etwa fuhr 1955 mit einen
alten Auto durch gut 48 Bundesstaaten, machte in einem Jahr 28.000 Fotos,
von denen er 83 zu seinem Buch „Die Amerikaner“ zusammenstellte. Jack
Kerouac schrieb zu Franks intensiven wie intuitiven Bildern die
literarische Einführung – zusammen eine poetische Mentalitätsstudie der USA
der 50er-Jahre – fernab aller Hollywood- und Westernklischees.
Bereits 1935, zum Höhepunkt des stalinistischen Terrors, aber auch der
Wirtschaftskrise in den USA, hatte das sowjetische Satiriker- und
Erfolgsautorenduo Ilja Ilf und Jewgeni Petrow für vier Monate Amerika
bereist. Als Sonderkorrespondenten der Tageszeitung Prawda, jedoch ohne
Vor- oder Sprachkenntnisse, sollten sie die industrielle, wirtschaftliche
und soziale Lage kritisch begutachten. Die Sowjetunion schickte sich damals
an, in ihrem zweiten Fünfjahresplan die USA nicht nur ein-, sondern
überholen zu wollen.
Ilf machte Schnappschüsse im Stile von Walker Evans, ein gemeinsamer
Bildessay erschien, gefolgt vom Buch „Das eingeschossiges Amerika“. Der
Titel widerlegte die Vorstellung eines Landes der Metropolen voller
Hochhäuser, denn die meisten Amerikaner lebten in unzähligen kleinen
Provinzstädten – und dort in ein- oder zweigeschossigen Bauten. Diese etwas
geist- und seelenlose Monostruktur sollte auch metaphorisch ausgedeutet
werden können, obwohl der Grundtenor des Buches mit Sympathie für die USA
der offiziellen Parteilinie der Kommunistischen Partei der Sowjetunion
(KPdSU) widersprach.
Eine lange Tradition hat auch das Nachreisen einer künstlerisch geadelten
Route. So wurde 2008 Ilfs und Petrows Grand Tour vom russischen Fernsehen
zu einer 16-teiligen Serie verarbeitet. 2015 nun schickte sich das Berliner
Trio an, neuerlich die Grand Tour zu bezwingen.
Müller schoss, ähnlich Robert Frank, häufig aus dem fahrenden Auto heraus
Fotos, insgesamt rund 1.200. Viele wurden noch während der Reise zu einem
stetig wachsenden Archiv aus Bildern, Texten und Tönen ins Netz gestellt.
Mit diesem digitalen Reisetagebuch gingen die drei anschließend in den USA
und Deutschland auf Lesungen. Und sie nahmen die Einladung des Kunstvereins
Langenhagen an, aus dem Material ein dreidimensional künstlerisches
Ergebnis zu produzieren.
Gemeinsam an einem Strang gezogen hätten sie ja schon während der Reise,
beschreibt Alexej Meschtschanow das lineare Konzept der Arbeit, dem der
lange Raum des Kunstvereins zugutekommt. Mehre jeweils 30 Meter lange
Fotobahnen, teils auf rohen Rollengestellen zu erstarrter Bewegung
ausgelegt, zeigen großformatige, ineinandergreifende Bildkontinuen, wie bei
Ilf und Petrow zu Themen verdichtet: Botanik und Landschaft, Technik,
psychosoziale Aspekte, aber auch das Reisen mit typischen Motels. Nichts
wird beschönigt.
Was wie ein notdürftiger Unterstand nach einer Katastrophe aussieht, sei
die bauliche Normalität in vielen Reservaten indigener Ureinwohner, so Jana
Müller. Baten sie einst, ein striktes Fotografieverbot zu respektieren, um
ihnen nicht ihre Identität zu stehlen, gäbe es jetzt nichts mehr, was man
ihnen noch nehmen könne.
Visuellen Rassismus spürten sie auch abends in kleinen Ortschaften: die
Quartiere der Weißen illuminiert, die der schwarzen Einwohner kaum erhellt.
Und die weite Landschaft, einst durch amerikanische Fotografen zu
heroischer Erhabenheit verklärt, zeigt sich von Technik zerfressen. Der
Sehnsuchtshorizont Amerika, für den einmal viele Europäer ihre alte Heimat
verließen, trägt apokalyptische Züge, untermalt von der Soundspur Felicitas
Hoppes aus fünf Gedichten mit partieller Ballung klanglicher Kakofonie.
Die Ausstellung wurde vor langer Zeit ersonnen, weit vor den aktuellen
politischen Verwerfungen – der künstlerische Perspektivwechsel beweist nun
seine Sensibilität. Mit diesem programmatischen Bekenntnis, auch zu einem
Kunstverein als aktivem Produktionsort diskursiver Artefakte, verabschiedet
sich Kunstvereinsleiterin Ursula Schöndeling nach acht Jahren aus
Langenhagen. Sie arbeitet seit Januar in Heidelberg als Direktorin im
dortigen Kunstverein.
Bis 19. März im Kunstverein Langenhagen
14 Feb 2017
## AUTOREN
Bettina Maria Brosowsky
## TAGS
Fotokunst
Ausstellung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Foto-Ausstellungsreihe „True Pictures?“: Die Vorreiter:innen
Die Ausstellungsreihe „True Pictures?“ zeigt in Hannover, Wolfsburg und
Braunschweig drei Generationen von Fotokünstler:innen aus Nordamerika.
Nicht gerade einladend: „Wie man in der Öffentlichkeit pisst“
Mit seiner Ausstellung in Hannover geht es Stefano Calligaro weniger ums
Urinieren als ums Markieren. Wie er sich in der Kunstwelt positioniert,
will er selbst entscheiden.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.