# taz.de -- NATIVe–Arktis-Filme auf der Berlinale: Jenseits von Babyrobben | |
> Berlinale-Fokus Arktis: In den Dokumentarfilmen „Angry Inuk“ und „Kaisa… | |
> Enchanted Forest“ erzählen Inuit bzw. Sámi ihre Geschichten. | |
Bild: Alethea Arnaquq-Baril, Regisseurin von „Angry Inuk“ | |
Im Jahre 2009 reiste eine kleine Gruppe kanadischer Inuit zum Europäischen | |
Parlament, um ihrem Standpunkt zur Robbenjagd Gehör zu verschaffen. Doch | |
ihre Gegner dort sind unfair und zahlreich: Am Eingang des Saals, in dem | |
über den zukünftigen Robbenfellhandel in der EU entschieden werden soll, | |
werfen Tierschützer den Abgeordneten Babyrobben-Plüschtiere zu, die samt | |
Grusel-Flyer für ein Verbot werben. Die angereiste winzige und weitgehend | |
ignorierte Prohandel-Fraktion aus den betroffenen Gebieten ist fassungslos. | |
„Die Jagd auf Babyrobben war doch schon seit 1987 verboten“, kommentiert | |
Alethea Arnaquq-Baril. | |
Ihr Dokumentarfilm „Angry Inuk“ (Inuk ist der Singular von Inuit), mit dem | |
sie gegen die westlichen Vorurteile zum Robbenfellhandel protestieren | |
möchte, läuft nun bei der „NATIVe“-Sektion der Berlinale neben 18 weiteren | |
Beiträgen im Lang- und Kurzformat. Fiktiv sowie dokumentarisch erzählen sie | |
von den Geschichten indigener Völker der Arktis, meist aus deren eigener | |
Perspektive. | |
Viele ihrer ersten Erinnerungen verbindet Inuk-Filmemacherin Alethea | |
Arnaquq-Baril jedenfalls mit der Robbenjagd: Auf ihrem Kühlschrank prangt | |
ein Bild von ihr und ihrem Bruder, wie sie als Kinder mit blutverschmierten | |
Händen und Mundwinkeln in die Kamera lächeln. Spätestens hier fängt man zu | |
grübeln an. | |
Alethea Arnaquq-Baril aber nimmt den Zuschauer an die Hand und zeigt in | |
unaufgeregten Aufnahmen, wie die Inuit Robben jagen und verwerten. Mit | |
zahlreichen Interviews und animierten Exkursen klärt sie über die | |
verheerenden Folgen des Handelsverbots auf. Es wird die unverhältnismäßige | |
Härte deutlich, mit der die lokale Jagd im Vergleich zu internationalen | |
Rohstofffirmen getroffen wurde, die deutlich wesentlicher zur Zerstörung | |
der umliegenden Meeresbiotope beitragen. | |
## Verständigung mächtig schiefgelaufen | |
„Ob ihr das glaubt oder nicht, wir wollen das Gleiche wie ihr“, richten die | |
Inuit den Tierschützern aus, mit denen Arnaquq-Baril immer wieder versucht | |
in den Dialog zu treten und immer wieder scheitert. Das kitschige, allzu | |
vereinfachende Bild eines großäugigen bedrohten Robbenbabys war und bleibt | |
lukrativ, so die unbekömmliche Botschaft des Films. Mit der Verständigung | |
hingegen scheint da etwas mächtig schiefgelaufen zu sein, denn ein | |
Austausch auf Augenhöhe mit den Betroffenen vor Ort hat nie stattgefunden. | |
Und zugleich: Die Vorstellung abgeschotteter und unberührter Völker ist | |
illusorisch. Denn auch die Urbewohner der Arktis kommen nicht um die | |
globalen Irrungen und Wirrungen der Weltgeschichte herum, wie ein weiterer | |
Beitrag der NATIVe-Sektion veranschaulicht. Das zentrale, die gesamte | |
Ordnung ändernde Ereignis im Dokumentarfilm „Kuun metsän Kaisa“ (Kaisa’s | |
Enchanted Forest) ist der Zweite Weltkrieg. Der schweizerisch-russische | |
Autor Robert Crottet erzählt, wie die Verschiebung der ohnehin fragilen | |
Grenze zwischen Finnland und Russland zur erneuten Umsiedlung der Skolt | |
Sámi und deren Entfremdung führte. | |
Es war eine fixe, vielleicht sogar romantische Idee, die ihn 1938 in den | |
Norden geführt hatte, um den „ersten Bewohnern Skandinaviens“ zu begegnen. | |
Kaum angekommen, wird er willkommen geheißen, bald schon wie ein Sohn | |
behandelt. Eine besondere Freundschaft verbindet ihn mit der älteren Kaisa | |
Gauriloff, einer Art Großmutterersatz, die ihm die Legenden ihres Stamms | |
anvertraut. | |
In seinen Schriften beschreibt Crottet eine allzu heile Welt, in der die | |
Skolt Sámi im Einklang mit der Natur leben und das Kind in sich nie | |
verabschiedet haben – Gedanken, die durch Ton- und Bildaufnahmen | |
illustriert werden, die er auf seinen Reisen machte. | |
Das klingt zunächst sehr nach Heile-Welt-Sehnsucht eines typisch weißen | |
Mannes, doch der Film, der von Kaisas Urenkelin Katja Gauriloff gedreht | |
wurde, entpuppt sich bald als eine versteckte Hommage in der Hommage: | |
Während Crottets Aufmerksamkeit auf Kaisa liegt, richtet sich die der | |
indigenen Filmemacherin auf ihn – und beschreibt einen Mann, ohne dessen | |
Hilfe sich ihre Vorfahren wohl nie von den Folgen des Krieges erholt | |
hätten. | |
13 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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