| # taz.de -- Neuer Roman des Briten Will Self: Träume von Bomben über Hiroshima | |
| > Der Akt des Lesens als Rausch: Will Selfs Drogengesättigter neuer Roman, | |
| > „Shark“, ist ein Gewaltmarsch durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts. | |
| Bild: Hat Einiges erlebt: Will Self | |
| Es gibt Romane, da ist es sinnvoll, einen Stammbaum anzulegen, um im | |
| Wirrwarr der Charaktere den Überblick zu behalten. Es gibt Romane, deren | |
| Plot so dicht ist, deren Story so stringent erzählt wird, dass sie die | |
| LeserInnen in andere Welten entführen. Und es gibt Romane, da sollte man | |
| bei der Lektüre auf jede Art von Halt und Klarheit pfeifen und sich einfach | |
| mitziehen lassen in den Strudel des wohlkomponierten Wahnsinns. „Shark“ ist | |
| so ein Roman. Es ist Will Selfs elfter und nach dem 2012 für den Man Booker | |
| Prize nominierten „Regenschirm“ der zweite einer Trilogie. | |
| Der Klappentext informiert darüber, dass der Psychiater Zack Busner an | |
| einem Frühlingstag Anfang der siebziger Jahre mit den Bewohnern seiner | |
| Londoner Psycho-Kommune ein LSD-Experiment durchführt. Und dass nicht alle | |
| freiwillig daran teilnehmen. Dass zwei vom Zweiten Weltkrieg traumatisierte | |
| Männer in Busners Einrichtung aufeinandertreffen: Der eine saß in dem | |
| Flugzeug, das die Atombombe über Hiroshima abgeworfen hat. Der andere hat | |
| den Untergang des Schiffs im „haiverseuchten“ Pazifik überlebt, mit dem die | |
| Bombe angeliefert wurde. | |
| Das sind Informationen, die im Roman erst nach mehr als hundert Seiten | |
| dezent angedeutet werden. Der andere Hinweis, dass sich die Gedankengänge | |
| der Teilnehmer am LSD-Experiment verschränken und die „Grenzen zwischen | |
| Erinnerung und Träumen, Wahn und Wirklichkeit zerfließen“, offenbart sich | |
| jedoch schon auf Seite eins. | |
| ## Ein Höllentrip im Inneren | |
| Der 55-jährige Self, der seine eigene Drogenkarriere vor einigen Jahren | |
| erfolgreich beendet hat, thematisiert in den meisten seiner Werke Drogen | |
| und psychische Krankheiten. In „Shark“ illustriert er verschobene | |
| Bewusstseinszustände auch, indem er fragmentarisch Bonmots, universelle | |
| Wahrheiten, reale historische Begebenheiten und Verweise auf Popkultur und | |
| Klassiker der modernen und fantastischen Weltliteratur von James Joyce über | |
| T. S. Eliot bis zu H. G. Wells gekonnt aneinanderfügt. Wer sie erkennt, | |
| kann sich daran erfreuen. Wer sie nicht erkennt, spürt keinen Verlust. | |
| Die Bewusstseinsströme der Figuren treffen aufeinander, fließen kurze Zeit | |
| nebeneinander her, trennen sich, mäandern in unterschiedliche Richtungen, | |
| um dann wieder zueinanderzufinden. Die Perspektiven wechseln in rascher | |
| Folge, ebenso die Sprecher, die das Geschehen und ihre Gedanken dazu | |
| geistesblitzartig auch selbst kommentieren. Der Akt des Lesens gerät selbst | |
| zu einem Rausch. Zu dem auch die treffsichere Übersetzung von Gregor Hens | |
| beiträgt. Mit Liebe zum Detail hat er ein Vokabular gefunden, das sich | |
| nicht an einen vermeintlichen Bescheidwisser-Drogenslang anbiedert. Das | |
| irrwitzigen Humor durchscheinen lässt und Selfs viele politisch unkorrekte | |
| Phrasen genüsslich transportiert. | |
| Selfs Schreibweise, die menschlichen Makel seiner Protagonisten zu | |
| skizzieren und mit der Nennung physiognomischer Details zu verbinden, ist | |
| stets empathisch. Das trägt dazu bei, dass man sich bereitwillig auf diesen | |
| Höllentrip begibt. | |
| ## Mental verirrt und ohne Ziel | |
| Allmählich entsteht aus den Gedankenbahnen ein Netz, das erkennen lässt, | |
| wie eng die Protagonisten miteinander verwoben sind. Bis dahin bietet die | |
| Topografie Londons Halt. Der Londoner Self ist ein passionierter | |
| Stadtwanderer, der, wie schon Charles Dickens, Schlafstörungen mit | |
| Streifzügen durch die nächtliche Stadt bekämpft. In seinem letzten Roman | |
| „Leberknödel“ (2015) entdeckten die Leser*innen gemeinsam mit der | |
| lebensmüden Protagonistin die Schönheit Zürichs. | |
| In „Shark“ bewegt sich keine Figur von A nach B, ohne dass zumindest der | |
| Stadtteil, Willesden oder Finsbury Park, eine Tube-Station oder am besten | |
| ganze zusammenhängende Straßenzüge angegeben werden. Wenn eine Person | |
| mental verirrt und ohne Ziel ist, ist es gut, sich wenigstens mit | |
| detaillierten Ortsangaben eine Verankerung zu erschleichen. | |
| „Shark“ ist ein Gewaltmarsch. Durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts. | |
| Durch einen üppigen Drogensumpf. Durch die verwinkelten Abgründe der | |
| menschlichen Psyche. Alles zusammengekittet mit allzu Menschlichem: | |
| Körperfunktionen, Gerüchen, Flüssigkeiten. Und wie bei jedem Gewaltmarsch | |
| will man manches Mal erschöpft und verzweifelt aufgeben. Schafft man es | |
| aber bis zum Ende durchzuhalten, ist man verdammt froh, dabei gewesen zu | |
| sein. | |
| 11 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Sylvia Prahl | |
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