# taz.de -- taz-Serie Verschwindende Dinge (9): Schließzwang mit zwei Bärten | |
> Anfang der Neunziger war er noch fester Bestandteil der Westberliner | |
> Haustürschließkultur: der Durchsteckschlüssel. | |
Bild: Ein Durchsteckschlüssel. | |
Es dauerte eine Weile, bis ich das Warum verstand. Das Wie hatte ich | |
notgedrungen schnell begriffen: Den komischen Schlüssel mit den zwei | |
Bärten, den Anfang der neunziger Jahre alle in Berlin zu haben schienen, | |
musste man in den senkrechten Schlitz im Haustürschloss schieben und nach | |
einer Dreivierteldrehung hineindrücken, bis er darin verschwand und auf der | |
anderen Seite der Tür herausschaute, die nun offen war. | |
Drinnen oder draußen – je nachdem, wo man gerade hinwollte – drehte man ihn | |
wieder um 270 Grad zurück und konnte ihn auch jetzt erst wieder abziehen. | |
Tür zu. Aber wozu das Ganze? Und wieso gab es dieses Ding nur in Berlin? | |
Sehr viel später, als es schon kaum noch Durchsteckschlösser gab, fiel mir | |
die Patentschrift in die Hände. Johann Schweiger hieß der Mann, der das | |
System entwickelt hatte. Seit dem 15. Februar 1925 schützte das | |
Reichspatentamt seine Erfindung, die „bezweckt, […] den Mieter zu | |
veranlassen, die abends von dem Hauswirt oder Hauswart abgeschlossene Tür | |
nach dem Öffnen auf jeden Fall wieder zuschließen zu müssen“. | |
„Schließzwang“ nennt man das. | |
Am Anfang muss die Technik noch relativ leicht zu überlisten gewesen sein, | |
weshalb Schweiger sie 1931 verbesserte. Patent 585232 war dann die | |
Geburtsstunde des Schlüssels mit den zwei Bärten, der sich meinem | |
Schlüsselbund konsequent verweigerte. | |
Im Grunde war dieser Schlüssel ein winziges, in Metall gegossenes Stück | |
preußischen Gehorsams. Sobald der Hauswart mit seinem Spezialschlüssel das | |
Haus verriegelt hatte, blieb einem nichts anderes mehr übrig, als diesen | |
Zustand aufrechtzuhalten. Solange die Tür offen war, ließ sich der | |
Schlüssel nämlich nicht abziehen. Umgekehrt hieß das allerdings auch: | |
Tagsüber standen viele Berliner Mietshäuser jedem mehr oder weniger | |
gebetenen Besucher offen. | |
Es waren die Jahre kurz vor dem Siegeszug der elektrischen Gegensprech- und | |
Schließanlagen, der Westberlin sehr spät erreichte, im Grunde gleichzeitig | |
wie den Osten der eben noch geteilten Stadt. Dort war die nächtliche | |
Sicherheit des Hauses tatsächlich eine Frage der Disziplin beziehungsweise | |
der sozialen Kontrolle gewesen: Das Durchsteckschloss, das Johann Schweiger | |
einst für die 1893 gegründete Kreuzberger Firma Albert Kerfin & Co. erfand, | |
hatte zwar spätestens in den dreißiger Jahren die Mieterstadt Berlin | |
erobert, aber nach dem Mauerbau war die patentierte Technik nur noch im | |
Westteil erhältlich. In der Hauptstadt der DDR starb sie aus. | |
## Andere Zeiten | |
Für mich bedeutete das 1991als frisch gebackenen Neuköllner, ein echtes | |
Berliner Original in der Hosentasche herumzutragen und gleichzeitig ein | |
monatelanges Martyrium. So lange nämlich wartete ich in meiner winzigen | |
Hinterhauswohnung auf einen Telefonanschluss, das Wort „Handy“ war noch | |
nicht erfunden, und weil das Haus über keine Außenklingel verfügte, litt | |
ich an meinen Abenden daheim unter großer Einsamkeit: Niemand konnte sich | |
bei mir bemerkbar machen, während die Haustür dank Durchsteckschlüssel fest | |
verschlossen war. | |
Heute können viele NeuberlinerInnen mit dem Begriff „Durchsteckschlüssel“ | |
gar nichts mehr anfangen. Aber es gibt ihn tatsächlich noch. An wie vielen | |
Haustüren genau, kann Daniel Kannengießer, seit gut vier Jahren Inhaber der | |
Trafitionsfirma Kerfin, auch nicht sagen. Aber der 36-Jährige, der | |
gleichzeitig den Schlüsseldienst Zingler mit einem Ladengeschäft in der | |
Sophienstraße betreibt, weiß, dass das Durchsteckschloss vor allem jenseits | |
von Haustüren weiterlebt und nachgefragt wird – etwa für Hof- und | |
Gartentore: „Wir bauen im Schnitt zwei bis drei Stück täglich.“ | |
Für ihn und seine zwölf Angestellten ist das alte Schweiger-Patent (das im | |
Übrigen bereits abgelaufen ist) ohnehin nur ein kleiner Teil ihres | |
Portfolios. Sie bauen ganz konventionelle Schlösser, machen aber auch | |
Maßanfertigungen für historische Gebäude. | |
## Bewahrter Anachronismus | |
Die traditionsreiche Werkstatt wurde vor einigen Jahren aus den Weddinger | |
Gerichtshöfen herausgekündigt, in denen schicke Lofts entstehen sollen. | |
Kerfin/Zingler produziert jetzt auf einem eigenen Grundstück in Biesdorf. | |
„Klein, aber fein“ sieht Kannengießer seine Firma, „ein ‚Geiz ist geil… | |
wollen wir nicht.“ Insofern ist es nur konsequent, dass er den | |
vermeintlichen Anachronismus Durchsteckschloss bewahrt und pflegt. | |
Dass es doch eine Möglichkeit gab – und gibt –, den Schlüssel mit den zwei | |
Bärten und ohne jede Öffnung an den Schlüsselbund zu hängen, fand ich | |
übrigens auch noch heraus. Manchmal lasse ich Spätgeborene raten, wozu die | |
kleine, messinggelbe Vorrichtung mit innenliegender Spiralfeder, die man | |
über den Durchsteckschlüssel schnappen lassen konnte, wohl gut sein könnte. | |
Wenn sie die Geschichte dahinter erfahren, ist Staunen garantiert. | |
11 Jan 2017 | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
## TAGS | |
90er Jahre | |
Verschwindende Dinge | |
Volkswagen | |
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