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# taz.de -- Kolumne Warum so ernst?: Die Leere ist vollkommen
> Die Berliner Kälte treibt mir die Tränen in die Augen. Alle, die mich
> sehen, denken, ich weine einen Eimer Tränen um Syrien.
Bild: Diese verfluchte Berliner Kälte
Die Lehrerin in der Sprachschule schimpft mit mir / Sie sagt in scharfem
Ton: Ruhig da! Ich schweige und sitze still mit verschränkten Armen.
Also weil ich auf Facebook „guten Morgen“ schreibe, muss ich mit
verschränkten Armen still dasitzen und Schimpfe einstecken / Ein
Weltuntergang / Nur weil ich etwas 500 Mal like! Vater, vergib ihnen, denn
sie wissen nicht, was sie tun.
***
Ich wache normalerweise zuerst mit einem Auge auf / Sehe die leere Hälfte
meines Lebens / Ein paar Minuten später wacht auch das andere Auge auf /
Ich reibe mir kurz beide Augen / Nun ist die Leere vollständig.
***
Ich starte einen persönlichen Integrationsversuch / Ich gehe mit meinem
deutschen Freund und seiner blonden Freundin in die Bar/ Wir trinken Bier /
Wie ein Idiot bezahle ich für alle / Wir unterhalten uns: Ich sage zu der
Dame: Sie haben schönes Haar! Sie erwidert: Ich muss es kurz schneiden
lassen, denn ich habe Läuse. Meine Augen platzen vor übertriebenem
Integrationslachen! Ihr Mann klärt mich auf Englisch lang und breit über
Läuse und Mittel, die sie zu ihrer Bekämpfung einsetzen, auf. Er fügt
hinzu, dass er auch von Läusen befallen sei. / Wir bleiben dabei: Wir
unterhalten uns über Läuse, Haare, trinken weiter Bier, und sie lachen die
ganze Zeit, als wäre nichts passiert. / Ich weiß noch, als ich einmal Läuse
hatte. Damals redete ganz Syrien nicht mehr mit mir.
***
Ich habe eine Allergie / Eine Augenallergie / Meine Augen tränen bei Kälte
und verschmutzter Luft / Es fing an, als ich begann, als Schweißer und
Dreher zu arbeiten / Ich bekam Millionen von Eisenstaubkörnen in die Augen,
die meine Augen aber wieder verließen / Und im Gegensatz zu allem in mir /
sind meine Augen empfindlich geworden / Besonders für Kälte.
Den ganzen Winter in Berlin habe ich Tränen in den Augen / Mit tränenden
Augen gehe ich durch die Straßen, als hätte ich Hab und Gut verloren /
Diese beißende Kälte! / Selbst wenn ich zu meinem türkischen Nachbarn
hinuntergehe, um eine Schachtel Zigaretten zu kaufen, vergieße ich einen
Eimer Tränen, schon bevor ich den Laden erreiche / Verfroren und mit
feuchten Augen betrete ich den Laden meines türkischen Nachbarn / Er reicht
mir die Zigaretten und bekundet sein Mitleid / Er will fast weinen / Doch
bevor er zu weinen beginnt, bezahle ich und verlasse den Laden.
Ich schlendere durch die Straßen / Die Hände in den Hosentaschen / Tränen
in den Augen / Die Menschen sollen mir bei Gott ausweichen / Im Bus stehen
sie auf und bieten mir ihre Plätze an, wenn sie meine Tränen sehen. Dabei
sagen sie: Syrien! Krieg! Wir verstehen …
Ich gehe zur Schule / Will die Tür aufmachen / Die Lehrerin richtet ihre
Blicke auf mich / Schweigend mustert sie mich / Beschämt sagt sie zu mir:
Ich verstehe! Du kannst nach Hause! Ruh dich aus! / Dies sagt sie ohne
Attest und ohne jegliche Begründung.
Jeder, der meine Augen sieht, sagt: Ich verstehe!
Schneidende Kälte, empfindliche Augen und ein Leben zum Heulen!
Aus dem Arabischen: Mustafa Al-Slaiman
21 Dec 2016
## AUTOREN
Aboud Saeed
## TAGS
Schwerpunkt Syrien
Exil
Warum so ernst?
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Aleppo
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