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# taz.de -- Streitgespräch zum Bundesteilhabegesetz: „Im Gesetz wird herumge…
> Für Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen stellt das neue Teilhabegesetz
> keinen Meilenstein dar. taz-Redakteurin Barbara Dribbusch sieht
> Fortschritte. Ein Gespräch.
Bild: Selbstbestimmt leben ist für jeden das Wichtigste: Demonstration zum Tei…
taz: Der Bundestag hat das Bundesteilhabegesetz verabschiedet. Wie schätzt
Ihr das ein?
Raúl Krauthausen: Ich teile nicht die Auffassung der Bundesregierung, dass
es sich hierbei um einen Meilenstein für Menschen mit Behinderungen
handelt. Das letzte halbe Jahr haben wir damit verbracht,
Verschlechterungen aus dem Gesetz herauszukämpfen, aber es ist ein Gesetz,
das immer noch Verschlechterungen beinhaltet. Es ist aber insoweit ein
Meilenstein für die Behindertenrechtsbewegung, weil sie Allianzen
geschlossen hat und Menschen mit Behinderungen sichtbar waren und nicht nur
ständig ihre Fürsprecher aus der Wohlfahrt.
Barbara Dribbusch: So negativ sehe ich das Gesetz nicht. Es gibt doch klare
Verbesserungen. Nach dem neuen Gesetz können ab dem Jahre 2020 behinderte
Menschen bis zu 50.000 Euro sparen und 30.000 Euro brutto im Jahr
verdienen, bevor sie etwas dazuzahlen zu den Assistenzen. Der Partner und
die Partnerin sind komplett freigestellt. Früher wurde fast alles
angerechnet, das sind doch Fortschritte.
Krauthausen: Das stimmt, aber das sind Verbesserungen, die überfällig sind.
Diese Regelungen mit den Anrechnungen sind ja 30 Jahre lang nicht angefasst
worden. Und mal ehrlich: 50.000 Euro sind nicht viel, das ist vielleicht
eine Lebensversicherung oder ein Auto, dass auch noch umgebaut werden muss.
Wer Karriere macht, knackt auch die Freigrenze von 30.000 Euro brutto im
Jahr und bekommt dann durch die Anrechnung am Ende weniger als die Kollegen
ohne Behinderung.
Dribbusch: Aber man kann die Kostenfrage doch nicht totschweigen. Bei einer
Rund-um-die-Uhr-Assistenz kosten die HelferInnen im Schichtbetrieb im Monat
mehr als 10.000 Euro. Bei Hartz-IV-Empfängern und alten Menschen in Heimen
werden Einkommen und Vermögen, auch des Partners, mit angerechnet auf die
Sozialleistungen. Insofern ist das Teilhabegesetz mit den höheren
Freibeträgen doch ein Fortschritt für behinderte Menschen.
Krauthausen: Wenn ich weniger verdiene als Kollegen, die die gleiche Arbeit
machen, bin ich doch doppelt gestraft, durch die Tatsache, dass ich durch
Barrieren im Alltag behindert werde und durch den Abzug. Es geht uns nicht
um Luxus wie eine Yacht oder Villa. Wir wollen nur eine Gleichbehandlung
mit Nichtbehinderten. Die Sozialleistung ist der Nachteilsausgleich für
eine Behinderung, die man nicht aus eigener Kraft ändern kann, ein Leben
lang nicht.
taz: Die Aktivisten kritisieren am Teilhabegesetz, dass dies den
Sozialämtern erleichtern könnte, Menschen mit Behinderungen in Heime
abzuschieben, anstatt ihnen das selbständige Wohnen mit Assistenzen zu
ermöglichen. Wie schätzt Ihr das ein?
Dribbusch: Der entsprechende Passus ist erheblich nachgebessert worden.
Dort steht jetzt, dass dem Wohnen außerhalb von Einrichtungen der Vorzug zu
geben ist, wenn ein behinderter Mensch das wünscht.
Krauthausen: Nach der Einschätzung unserer Juristen, die eine Behinderung
haben, ist die neue Regelung im Teilhabegesetz schwächer als sie bisher im
Sozialgesetzbuch steht. Wenn man sich den Absatz im Gesetz genau anschaut,
wird da tierisch herumgeeiert zwischen Zumutbarkeit und Angemessenheit. Das
heißt, in Zukunft, werden es die Sozialämter leichter haben als bisher,
Menschen mit Behinderungen aus Kostengründen in Heime zu schicken.
Vielleicht nicht in der Masse, aber es wird mehr Einzelfälle geben, als es
sie heute schon gibt.
Dribbusch: Auf einer Veranstaltung der Grünen sagten Sachverständige, dass
spätestens die Gerichte in der Regel bisher schon so entscheiden, dass
behinderte Menschen alleine mit Assistenzen leben können und nicht ins Heim
geschickt werden dürfen, nur weil die Versorgung dort billiger ist.
Krauthausen: Es gibt zwei prominente Fälle, wo behinderte Menschen ins Heim
gezwungen wurden, ganz aktuell die Geschichte von Dirk Bergen zum Beispiel
und ich kann weitere Fälle nennen. Man muss sich außerdem mal vorstellen,
welche Kraft, welche Zeit und welche Mühe es kostet für einen behinderten
Menschen, gegen eine solche Entscheidung des Sozialamts zu klagen. Ich war
selbst einmal undercover, unter anderem Namen in einem Heim zur Recherche.
Ich habe dort einen jungen Bewohner kennengelernt, der war geistig voll da,
nur körperlich schwer eingeschränkt. Der wurde überhaupt nicht unterstützt,
aus dem Heim mal herauszugehen, etwas auszuprobieren. Der hat fünf Tage RTL
II geguckt. Das ist eine Schattenwelt, die hat mich so zornig gemacht. Man
muss sich auch genau anschauen, wer beim Teilhabegesetz wo klatscht. Das
ist nämlich auch die Wohlfahrt, darunter sind Verbände, die Heime
betreiben. Die wollen nicht, dass die Heime leer werden.
taz: Wie geht es denn jetzt weiter mit dem Protest?
Krauthausen: Wir als AbilityWatch werden jetzt Fälle sammeln, die von dem
neuen Gesetz betroffen sind und wir werden das begleiten, auch juristisch,
und dokumentieren, wo es regional unterschiedliche Auslegungen gibt, etwa
in Bayern oder in Niedersachsen. Wir werden Alarm schlagen.
Moderation: Katrin Gottschalk
3 Dec 2016
## AUTOREN
Katrin Gottschalk
## TAGS
Assistenz
Bundesteilhabegesetz
Hartz IV
Menschen mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Bundesteilhabegesetz
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