# taz.de -- Kommentar Vollverschleierung: Gesicht zeigen, Mensch sein | |
> Der Schleier ist ein Instrument der Religion, das die | |
> Geschlechterhierarchie zementiert. Er entfernt Frauen aus der | |
> Gesellschaft. | |
Bild: Und weg bist du | |
„Wer kein Gesicht hat, kann auch keines verlieren.“ Ein Sprichwort ist das, | |
eine Allerweltsweisheit. Sie setzt etwas voraus: Dass das Gesicht mehr ist | |
als Fassade. Sonst könnte es bei Verlust wieder ersetzt werden. | |
Vielmehr spiegelt sich im Gesicht – anders würde der Spruch keinen Sinn | |
ergeben – etwas jenseits des Materiellen: Charakter, Haltung, | |
Persönlichkeit, Aufrichtigkeit, Ausstrahlung. Etwas von innen zeigt sich | |
außen. Manche sagen Seele dazu. Wer aber, so die Logik im Sprichwort, | |
keinen Charakter, keine Persönlichkeit hat, ist gesichtslos, ist mehr | |
Zombie als Mensch. | |
Wenn es noch eines Argumentes bedurfte, um die Gesichtsverschleierung | |
abzulehnen, die derzeit von einigen auch in westeuropäischen Ländern aus | |
Gründen kultureller Toleranz propagiert wird, es voll verschleierte Frauen | |
gar in Talkshows im deutschen Fernsehen schaffen wie zuletzt bei Anne Will, | |
wenn es also noch eines Argumentes bedurfte, dann bietet es dieses | |
Sprichwort. Denn eine voll verschleierte Frau hat kein Gesicht, und damit | |
auch keine Persönlichkeit. | |
Macht mich das, weil ich Frauen ohne Gesicht nicht will, schon zu einer | |
CDU-Jüngerin? Gerade haben die Christdemokraten auf ihrem Bundesparteitag | |
dem Leitantrag, in dem ein Burkaverbot gefordert wird, zugestimmt. | |
## Eine Haltung haben | |
Zum Gesicht gibt es viele Sprichwörter. „Dein Gesichtsausdruck ist | |
wichtiger als deine Kleider“, heißt es in einem. Oder: „Das verlorene | |
Gesicht des anderen macht dich auch nicht hübscher.“ Und aus dem | |
Chinesischen ist Folgendes überliefert: „Je weniger Gesicht jemand hat, | |
desto mehr sorgt er sich, es zu verlieren.“ In den simplen Sprüchen vom | |
Gesicht, das nur verlieren kann, wer eines hat, steckt aber noch mehr. Denn | |
es wird darin vorausgesetzt, dass man sein Gesicht zeigt. Als wäre Gesicht | |
verlieren und Gesicht zeigen nur im Doppelpack zu haben. Gesicht zeigen | |
gilt auch als Synonym für: eine Haltung haben. | |
Die Sprüche sind auf eine altmodische Weise schön. Denn die Frage ist doch, | |
ob der Gedanke, dass „Gesicht zeigen“ heute noch etwas mit Haltung, | |
Charakter, Persönlichkeit und Spiegel der Seele zu tun hat, nicht passé | |
ist. Heute ist Gesicht zeigen: ein Selfie machen und es in den sozialen | |
Netzwerken posten. Es geht um die Pose. Es geht um den Moment. | |
Jedes Jahr wird der „New Faces Award“ verliehen. Wieder ein neues Gesicht. | |
Wieder ein gelerntes Lächeln. Dabei den Mund leicht öffnen und die Zähne | |
zeigen. Weiß glänzend stehen sie akkurat nebeneinander wie Soldaten. Nimm | |
drei Dutzend Fotos von Models, versuche die Menschen dahinter zu erkennen. | |
Schwierig. Gesicht ist nur noch Ausdruck eines normierten Trendes, einer | |
bewertbaren Blaupause für Schönheit. | |
„Gesicht zeigen“ ist ein interessanter Ausdruck. Wer sein Gesicht zeigt, | |
verweist auf die ureigenste Wahrheit: die des Menschseins. Und wer Gesicht | |
zeigt, zeigt nicht nur sich, sondern Identität. Wer sich hinter Masken, | |
Schleiern, Schminke oder Pseudonymen versteckt, hat das nicht. Dann nämlich | |
ist Haltung nicht identifizierbar, sie ist flüchtig. | |
Ganz am Anfang dieses Textes wurde die Ganzkörperverschleierung erwähnt. | |
Mit Absicht. Wer den Ganzkörperschleier in den westlichen Ländern will, so | |
nämlich die These, karikiert den Verlust des Gesichtes in der westlichen | |
Kultur. | |
## Kein religiöses Dogma | |
Die Ganzkörperverschleierung ist kein religiöses Dogma, nicht im Islam und | |
ebenso wenig im Judentum, wo Ultraorthodoxe ihn – zwar nicht als „Burka“, | |
sondern als „Shal“ – immer aggressiver propagieren. Vielmehr ist sie eine | |
Instrumentalisierung der Religion, um die Geschlechterhierarchie zu | |
zementieren. Und sie ist eine Instrumentalisierung der | |
Geschlechterhierarchie, um ein politisches Statement zu demonstrieren – die | |
Abkehr von einer säkularen Gesellschaft. | |
Oft werden scheinbar harmlose Argumente von voll verschleierten Frauen | |
vorgebracht, um Verständnis und Toleranz zu generieren für die | |
Verschleierung. Die Frauen fühlten sich Gott näher, heißt es dann etwa. Es | |
werden individuelle Gründe für den Ganzkörperschleier genannt, die die | |
Entscheidung doch akzeptabel machen sollen. Aber sie ist nicht akzeptabel, | |
da sich voll verschleierte Frauen, selbst wenn sie es angeblich | |
selbstbewusst tun, aus der Gesellschaft entfernen. In einem Kloster wäre es | |
opportun, nur ist die Welt kein Kloster. | |
Neulich auf der Fußgängerbrücke am Nordhafen in Berlin, dort wo die Panke, | |
einer der kleinen Berliner Flüsse, in den Hafen fließt. Ein Mann geht über | |
die Brücke. Drei Meter hinter ihm eine voll verschleierte Frau mit | |
Kinderwagen. Rechts und links noch zwei Kinder. Es ist eng. „Muss das | |
sein“, sage ich laut, als ich mit dem Fahrrad an der Familie vorbei fahre, | |
nicht erwartend – und das zeigt jetzt wirklich meine Voreingenommenheit – | |
verstanden zu werden. | |
„Wie, halt, wie, was meinen Sie mit muss das sein?“, sagt der Mann sofort. | |
Ich halte an, sage: „ Das mit dem verhängten Gesicht.“ | |
Er: „Das ist unser Glaube.“ | |
Ich: „Hatte Ihre Frau einen Unfall? Ist sie entstellt?“ | |
Er: „Nein, das ist Schönheit.“ | |
Schönheit also. Genauso wie die nach Trends geschminkten Glamourfrauen sich | |
auf Schönheit berufen und ihr authentisches Gesicht darunter verbergen. Die | |
Frau hinterm Schleier erspart sich die Schminke. | |
Ein weiterer Fahrradfahrer kam dann vorbei, der sich, noch bevor er ein | |
Wort verstanden hatte, mit dem Mann solidarisierte. Als erklärte sich die | |
Situation von selbst. Er schrie mich an, ich sei keine Deutsche, Deutsche | |
denken nicht so wie ich, Deutsche seien tolerant. | |
Mir wurde es zu brenzlig. Auf der Weiterfahrt stellte ich mir vor, wie | |
alles Schöne verhüllt werden würde: Blumen, Bäume, Häuser, der Himmel, die | |
Weite, der Blick auf den Hauptbahnhof, andere Menschen. Gut, manches wäre | |
lieber verhüllt: das Hässliche, die wilden Müllkippen zum Beispiel. | |
## Das geschminkte Gesicht ist das vermarktbare | |
Neuerdings gibt es den Trend bei Models, Schauspielerinnen oder anderen | |
weiblichen VIPs, sich wieder ungeschminkt zu zeigen. Das private Gesicht | |
der Frauen ist das authentische, das, das sie verlieren können. Das | |
geschminkte Gesicht aber ist das vermarktbare. In der Argumentation ist es | |
demnach sehr wichtig, eines klar zu stellen: Auch das vermarktete, | |
geschminkte Gesicht instrumentalisiert die Frau, um eine politische | |
Ideologie zu zementieren: jene des Kapitalismus. | |
Und dass es der CDU bei der Idee, ein Burkaverbot einzuführen, um | |
Instrumentalisierung der Frauen für ihre Politik geht, beruhigt ebenso | |
wenig. Der Frage, ob neben dem Gesichtsschleier auch Schminke verboten | |
werde müsste, darf ebenfalls nicht ausgewichen werden, obwohl dabei Äpfel | |
mit Birnen verglichen werden. Mir ist eine Frau mit schwer geschminktem | |
Gesicht, das auf diese Weise schön sein soll, lieber, als Schönheit, die | |
mit einem schwarzen Tuch verdeckt ist. Die Geschminkte setzt mir, anders | |
als die Verhüllte, im Dialog keine sichtbaren Grenzen. Aber am | |
allerschönsten ist: erkennbare Individualität. | |
Bei so viel Gedachtem bietet sich am Ende noch Christian Morgensterns | |
Spruch an: „Das ist ein äußerst merkwürdiges Gefühl“, schrieb er, „we… | |
sich frühmorgens das Gesicht abreibt, und sich dabei vorstellt: Nun hast du | |
deine Gedanken mit gewaschen und abgetrocknet.“ | |
11 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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