# taz.de -- Inselmarketing auf Sylt: Angenehm einschläfernd | |
> Snobistisches Vergnügen? Beim „Langen Literaturwochende“ auf Sylt hat | |
> Elke Heidenreich die Kundschaft im Griff hat wie die geladenen älteren | |
> Herren. | |
Bild: Klotz in den Dünen: Im Hotel Budersand findet das „Lange Literaturwoch… | |
Hörnum taz | Hin und wieder sollte man das Grübeln stoppen. Grade im | |
November. Jedenfalls ist es gut, eine hilfreiche Straße zu wissen, auf der | |
das gelingt. Es gibt so eine, auf Sylt. Sie führt vom Autozug in Westerland | |
nach Hörnum, einem kleinen Dorf im Süden der Insel. Wilde, ungezähmte | |
Dünenlandschaft, kilometerlang, die Geländewagen vom Autozug haben sich | |
schon längst in Luft aufgelöst und alle Vorurteile über Perlenketten und | |
Goldknöpfe auf Deutschlands beliebtester Insel schweigen still. Bis die | |
Straße endet. | |
Denn dort, hinter einem kleinen, charmant verlodderten Fischereihafen, | |
ploppt ein mächtiger Klotz auf, immerhin hübsch verkleidet mit hellen | |
Holzlamellen. 'Budersand’ ist ein 5- Sterne Hotel, Wella-Erbin Claudia | |
Ebert hat es vor sieben Jahren bauen lassen und es sprengt die | |
Reetdachgemütlichkeit der Insel ganz erheblich. Andererseits: das silbrige | |
Lamellenholz zwischen matten Dünenfarben und schimmerndem Meer – manchmal | |
geht eben auch ein Klotz. | |
## Drinnen besänftigen sandige Farben | |
Drinnen in der weitläufigen Lobby besänftigen Holz, Leder, Leinen, sandige | |
Farben und 150 dezent gekleidete Damen im besten Alter, um die sechzig. | |
Einige haben auch ihre Gatten mitgebracht. Kein Chichi weit und breit, das | |
verwirrt schon etwas. | |
Vorne, auf einem kleinen Podium sitzt André Heller, Chansonnier, | |
Aktionskünstler und jede Menge mehr. Daneben Literaturkritikerin Elke | |
Heidenreich, gleich wird gelesen. Alles hat seine gediegene Ordnung, nur | |
ein wilder Hase in den Fünfzigern stakst vehement umher und erregt mit | |
zerzauselten, sehr roten Haaren, Minirock und Highheels einiges Aufsehen. | |
Es ist Albina Bauer, Malerin und Hellers Geliebte. Herrlich, herrlich, es | |
gibt etwas zu sehen. | |
Hellers Lesung gehört zum „Langen Literaturwochenende der Privathotels | |
Sylt“, in der vergangenen Woche fanden die Lesetage im dritten Jahr statt. | |
Ausgedacht hat sich das ganze Hotelbesitzerin Ebert, gemeinsam mit | |
Heidenreich. Die hatte die Bibliothek des Hotels ausgestattet und dann | |
plauderte man so, sprach vier weitere feine Hotels an und alle fanden den | |
Gedanken, Sylt im November zu beleben, eine prima Sache. Jetzt sind sie da, | |
wieder lauter bekannte Namen. André Heller, Miroslav Nemec, Doris Dörrie, | |
Giovanni di Lorenzo und so weiter. | |
## Frech: Sylter hatten Touristen die Karten weggekauft | |
Die Karten sind begehrt, im vergangenen Jahr haben die Sylter fast das | |
ganze Kontingent aufgekauft. Aber so war das nun nicht gemeint. Jetzt | |
informiert man also erst mal die Hotelgäste. 29 Euro kostet die Karte für | |
eine einstündige Lesung. | |
Heller hat seinen ersten Roman dabei. „Das Buch vom Süden“. Der Held des | |
Buchs ist ein Schöngeist und treibt sich im Nachkriegswien herum. „Eine Art | |
Biographie“, erzählt Heller. „Wie wäre es gewesen, wenn ich mich auf eine | |
einzige Verzweiflung konzentriert hätte?“, und das ist schon mal ein | |
herrlich geheimnisvoller Satz. Heller hat viele solcher Sätze und plaudert | |
in seinem weichen Wienerisch so dahin, sehr angenehm ist das, im Angesicht | |
des Meeres, das draußen vor den Fenstern grau umherwellt. | |
„Mich interessiert im anderen, was ihn von mir unterscheidet“, sagt Heller | |
und spricht davon, wie unfertig er sei, wie sehr er immer noch suche, und | |
wirkt bei all dem durch und durch aufrichtig. Dann mäandert er umher, | |
erzählt von seinem ersten Besuch in Marrakesch und den alten, | |
homosexuellen, europäischen Herren, die dort ihren Leidenschaften frönten. | |
Jetzt könnte er auch von 'Anima’ berichten, seinem Garten am Fuß des | |
Atlasgebirges, den er im April eröffnet hat. Ein opulentes, phantasievolles | |
Paradies, ein Lebenswerk, mit dem Heller Schönheit schaffen, Touristen | |
anlocken, das Mikroklima verbessern und fair bezahlte Arbeit schaffen will, | |
so einfach ist das. Aber Heidenreich ruft: „So! Jetzt komm zum Buch und | |
lies!“ „Tadel mich nicht!“, sagt Heller ganz richtig, „Da musst du eben | |
Peter Handke einladen.“ | |
## Heller würde lieber erzählen, muss aber lesen | |
Und dann fragt er das Publikum: „Lesen oder Erzählen?“ „Erzählen!“, r… | |
die Damen, aber hier ist nur eine die Chefin und das ist Heidenreich. | |
Anderswo würde Protest gepfiffen werden, aber Damen pfeifen nicht. Also | |
liest Heller eben ergeben vor, hübsch verschwurbelte, artifizielle Sätze in | |
müdem wienerischen Singsang. | |
Der Regen trommelt an die hohen Fensterschreiben, vor der Tür macht die | |
See, was sie immer tut, wogen, und alles ist angenehm einschläfernd. | |
Zwischendurch dreht sich eine kleine, hinreißend hübsche Frau mit einer | |
umwerfenden Ausstrahlung zu mir um. „In Kroatien liest man nie auf | |
Lesereisen!“, flüstert sie. „Nie! Man will nur hören, was einer zu erzäh… | |
hat.“ | |
Später erfahre ich, dass es Adriana Altaras ist, vielfach ausgezeichnete | |
Schauspielerin und Theaterregisseurin, geboren in Zagreb, Jüdin in Berlin, | |
und nebenbei auch eine der eingeladenen AutorInnen. Sie wird aus „Das Meer | |
und ich waren im besten Alter“ lesen, Kurzgeschichten, die im nächsten Jahr | |
erscheinen. „Man muss immer wie ein Rennpferd sein“, wird sie sagen. „Man | |
weiß ja nie, was wann irgendwo geschieht.“ Man kommt leicht ins Gespräch | |
hier, wenn man will, alle Autoren wohnen im Budersand, sie werden mit | |
Meeresblick aus freistehenden Badewannen geködert. | |
Jetzt möchte Heller sagen, worum es ihm eigentlich geht, in seinem Buch. | |
Das Ego aufzulösen nämlich. So viel wie möglich dankbar zu sein, für alles. | |
Und bedingungslos zu lieben. Heidenreich sitzt auf glühenden Kohlen, so war | |
das alles anscheinend nicht geplant, und also liest sie einfach selber vor | |
und erzählt ein bisschen von sich. Man möchte „Menno!“, rufen und sie | |
rausschicken in den Regen, mal ein bisschen runterkommen. Aber soll man | |
meckern, im Angesicht des Meeres? | |
Nach der Lesung steht Michael Krüger an der Bar, bis vor drei Jahren Chef | |
des Hanser Verlags, 40 Jahre war er da. Er hat jede Menge | |
Literaturnobelpreisträger verlegt und Umberto Eco zugesehen, wenn der in | |
heißen Hochsommern in Badehose Großes schrieb. Was Krüger selbst schreibt, | |
ist klar und wahr, auch seine Fragen sind es: „Liegt denn nicht alles, was | |
wir waren und was wir werden könnten, zwischen zwei Abschieden?“ Abgesehen | |
davon ist er auch noch mit 72 ein extrem attraktiver Mann und atmet mit | |
einer leichten Müdigkeit aus jeder Pore Klugheit, Stil und Lässigkeit aus. | |
## Ohne Lesebrille wirkt auch ein Gentleman bedürftig | |
Gerade wirkt er allerdings einen Hauch bedürftig, er hat seine Lesebrille | |
verloren. Natürlich offeriert das Hotel sogleich ein Holzkästchen mit einer | |
Auswahl Brillen. Dann raucht er eine Zigarette mit mir, weil ich ihn darum | |
bitte, draußen im Regen, natürlich. Er erzählt von Kafkas Tagebüchern, die | |
ihn mehr berühren als jede andere Literatur. Und von seinem | |
Lieblingsgedicht. 'Auf eine Lampe’ von Mörike. „Das beste Gedicht der | |
Welt“, sagt Krüger, „es verdichtet alles.“ | |
Er bedankt sich fürs Gespräch, wie es nur ein Gentleman zustande bringt. | |
Rainer Moritz, der Chef des Hamburger Literaturhauses, reist an, man winkt | |
Hallo, man freut sich sehr, alle kennen sich und fühlen sich sehr gemütlich | |
hier. | |
Am nächsten Morgen liest Krüger aus seinem Erzählband „Der Gott hinter dem | |
Fenster“. Melancholische Geschichten von verunsicherten, alten Männern, die | |
Glücksmomente suchen. Und seinen Gedichtband hat er mitgebracht, denn er | |
liebt Gedichte über alles. | |
„Es gibt Wirklichkeiten, die sich vom Leben deutlich unterscheiden“, liest | |
Krüger und „Ja“, sagt Heidenreich, „da müssten wir jetzt eigentlich üb… | |
Lyrik reden. Aber das tun wir nicht.“ Krüger fügt sich milde lächelnd und | |
ich möchte endlich ein bisschen schreien. „Warum nicht?!“, möchte ich | |
schreien. „Hallo?! Hier sitzt vor dir einer der belesensten, | |
leidenschaftlichsten Gedichtliebhaber der Welt!“ | |
Aber Elke möchte lieber von ihrer Kindheit im zerbombten Ruhrgebiet | |
erzählen und mahnend ins verschreckte Publikum schauen: „Ich fordere von | |
jedem hier, wenn ich nachher auf ihn zugehe, dass er mir aus dem Stand | |
mindestens ein Gedicht aufsagen kann, sonst werde ich böse.“ Die anwesenden | |
Damen lächeln furchtsam und forschen eilig in ihren Köpfen, ist da ein | |
Gedicht, irgendeines? | |
## Snobistisch? Literaturvermittlung kann nie falsch sein | |
Nach der Lesung laufe ich schnell, hinein in die Dünen, an den Strand. | |
Einer meiner Schuhe löst sich auf, wie sich das gehört, im November, und | |
während die Gischt an meinen nackten Füßen leckt, frage ich mich so | |
einiges: Ist das snobistisch, so eine Veranstaltung für begüterte | |
Hotelgäste? Aber dann denke ich, dass sie doch alle sehr bescheiden und | |
ungemein zugewandt in der feinen Lobby sitzen und Literaturvermittlung | |
niemals falsch sein kann und jeder seine Art von Spaß haben soll. | |
Auf der Rückfahrt über den Hindenburgdamm prasselt Hagel aufs Wagendach, | |
das ist ein gutes Gedicht. Meer und Himmel, Wolken und Licht veranstalten | |
betörende Spiele und am Abend spielen in einem stickigen Hamburger Club | |
sechs Jungs aus Manchester schwermütige Weisen. Melancholiker zum | |
Niederknien. Heller und Krüger hätten ihren Spaß gehabt. | |
21 Nov 2016 | |
## AUTOREN | |
Sylvia Heinlein | |
## TAGS | |
Sylt | |
Literaturbetrieb | |
tazbehinderung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Dichter*innen mit Lernschwierigkeiten: Literaturkreis ganz klein | |
Seit zehn Jahren gibt es den „Ohrenschmaus“-Preis für Autor*innen mit einer | |
Lernschwäche. Die eingereichten literarischen Texte sind oft wunderbar. |