# taz.de -- Wie die Sonne aufgeht, wie die Sonne untergeht | |
> In den Herbstbüchern Plebejische Schroffheit, Gattin auf hoher See, | |
> kaputtes Köln, neue Deutsche, alte Österreicher, Naziland ohne Nazis, | |
> Monstereltern | |
## Wie die Sonne untergeht | |
Den schönsten Abgesang auf die Ära des Kathodenstrahlröhrenfernsehers hat | |
die italienische Konzeptkünstlerin Daniela Comani mit ihrer 28-teiligen | |
Fotoserie „Off − Landscapes with Sunset“ geliefert. Typisch für Endzeiten | |
sieht Comani plötzlich einen kaum je thematisierten Gestaltungsaspekt des | |
Fernsehgeräts, der sich eben nur im Off offenbart: den gläsernen | |
Bildschirm. Selbstredend ist uns bewusst, dass dieser Bildschirm im | |
ausgeschalteten Zustand eine Reflexionsfläche ist, in der sich etwa | |
Menschen und Möbel spiegeln. Daniela Comani allerdings erkennt in ihm die | |
Projektionsfläche (als die er eigentlich nur in Betrieb gesehen wird), | |
deren Bedingung die gebogene Mattscheibe der alten Geräte ist. Die | |
Künstlerin fotografiert das Fernsehgerät nicht einfach, sie blitzt es. Der | |
Flash | |
Wie die Sonne untergeht | |
Den schönsten Abgesang auf die Ära des Kathodenstrahlröhrenfernsehers hat | |
die italienische Konzeptkünstlerin Daniela Comani mit ihrer 28-teiligen | |
Fotoserie „Off − Landscapes with Sunset“ geliefert. Typisch für Endzeiten | |
sieht Comani plötzlich einen kaum je thematisierten Gestaltungsaspekt des | |
Fernsehgeräts, der sich eben nur im Off offenbart: den gläsernen | |
Bildschirm. Selbstredend ist uns bewusst, dass dieser Bildschirm im | |
ausgeschalteten Zustand eine Reflexionsfläche ist, in der sich etwa | |
Menschen und Möbel spiegeln. Daniela Comani allerdings erkennt in ihm die | |
Projektionsfläche (als die er eigentlich nur in Betrieb gesehen wird), | |
deren Bedingung die gebogene Mattscheibe der alten Geräte ist. Die | |
Künstlerin fotografiert das Fernsehgerät nicht einfach, sie blitzt es. Der | |
Flash überstrahlt ihr eigenes Spiegelbild und zeigt sich stattdessen selbst | |
− entsprechend der verschiedenen Designs der Mattscheiben − in Formen, die | |
man unbedingt als Sonnenuntergänge interpretieren möchte. | |
Tatsächlich drängen uns kunsthistorisch überkommene Bildkonventionen zu | |
Natur und Landschaft, den Blitz als Sonne zu sehen, wobei seine Position | |
auf der Mattscheibe den jeweiligen Horizont definiert, während die | |
Landschaften durch die verschieden starke Biegung der Bildschirme | |
entstehen, deren mehr oder minder sauberen oder auch beschädigten | |
Oberflächen die Stimmung von Licht und Wetter beitragen. Traditionell | |
gerahmt durch das Gehäuse, von dem Comani feinsäuberlich die Markennamen | |
entfernt hat, geht die Sonne einmal im flirrenden Licht einer heftig | |
zerkratzten Mattscheibe unter, während sie ein anderes Mal makellos | |
strahlend auf einer blanken Mattschiebe versinkt. „Sunsets“ heißt die | |
Publikation, die die im Maßstab 1:2,5 verkleinerte Serie jetzt in einem | |
Band versammelt. In der originalen Installation (wie das Foto auf unserer | |
Doppelseite zeigt) hängen die einzelnen auf MDF-Platten aufgezogenen Bilder | |
höchst ironisch wie Flachbildschirme an der Wand. Brigitte Werneburg | |
Daniela Comani: „Sunsets. No. 217“ Edition Patrick Frey, Zürich 2016, 64 | |
S., 30 Euro | |
Zur Hölle fahren | |
Die Öffentlichkeit hatte John Fante schon fast vergessen, als Charles | |
Bukowski ihn Ende der 70er Jahre als literarische Vaterfigur in Beschlag | |
nahm und ihm dadurch immerhin den verdienten Nachruhm sicherte. „Little | |
Italy“, die bisher umfangreichste Sammlung seiner Short Storys, enthält vor | |
allem Arbeiten aus den 30ern, seiner stärksten Werkphase. Die Parallelen | |
zwischen den beiden sind offensichtlich. Auch Fante hat die Außenseiter und | |
Randständigen im Blick. Bei ihm sind es die italienischen Einwanderer, die | |
armen, streng katholischen Itaker, die an einem ziemlichen | |
Minderwertigkeitskomplex laborieren und den mit großer Fresse, Fäusten und | |
forciertem Machogehabe kompensieren müssen. | |
Der Titel „Littly Italy“ ist mehrdeutig. Fante lässt hier seine eigene | |
Kindheit in Colorada auferstehen. Die Erzähler sind kleine Jungs, die sich | |
nur wundern können über die geduldige Unterwürfigkeit der sich zuschanden | |
arbeitenden Mütter und die lauten, latent gewalttätigen Väter. Noch dazu | |
müssen sie ständig befürchten, zur Hölle zu fahren, weil der katholische | |
Tugendterror auch noch die letzten Freiräume ihres Alltags durchdringt. Die | |
kleinen Rebellionen, die sie trotzdem anzetteln, erfordern in diesem | |
repressiven System echten Heldenmut. | |
Fante ist ein großartiger Ethnograf seines Milieus, der auch unter der | |
kruden, plebejischen Schroffheit noch einen Glutkern von Zärtlichkeit | |
ausmachen kann. „Ich habe das tapfer wie ein Mann ertragen“, erzählt einer | |
von Fantes juvenilen Helden über seine letzte Prügelstrafe. „Der Grund war | |
einfach, ich wusste, dass er mein Vater war und mit der Prügelei aufhören | |
würde, bevor er mir zu wehtat. Er sagte immer wieder, er würde mich | |
totschlagen, aber er war mein Vater und konnte mich mit solchem Zeug nicht | |
erschrecken.“ | |
Fante schreibe aus „dem Herzen und aus dem Gedärm“, hat ihm der dreckige | |
alte Mann attestiert. Ein größeres Lob gibt es von ihm nicht. Frank Schäfer | |
John Fante: „Little Italy“. Aus dem Englischen von Kurt Pohl und Rainer | |
Wehlen. Maro, Augsburg 2016. 367 Seiten, 20 Euro | |
Jane Austens Frauenbilder | |
Was ist der Anreiz, sich einen Roman der Weltliteratur, den man vermutlich | |
schon vor Jahren gelesen hat, noch einmal vorlesen zu lassen? Kurze | |
Antwort: um die Geschichte noch einmal zu genießen. Eva Mattes’ ungekürzte | |
Lesung von „Überredung“ – dem letzten Roman, den Jane Austen 1816 ein Ja… | |
vor ihrem Tod vollendete, hier in der Übersetzung von Ursula und Christian | |
Grawe aus dem Jahr 1983 – verlockt zu einer ausführlicheren Antwort. | |
Der Roman handelt von Anne Elliott, einer 27-jährigen Landadeligen, die | |
acht Jahre zuvor von ihrer mütterlichen Freundin Lady Russell überredet | |
wurde, ihre Verlobung mit Frederick Wentworth zu lösen. Sie hat nie | |
aufgehört, den Marine-Offizier zu lieben. Als sie durch Zufall wieder | |
regelmäßig auf den inzwischen zum Captain avancierten Wentworth trifft, | |
brechen sorgsam verwahrte Gefühle wieder auf und frühere Entscheidungen | |
werden infrage gestellt. | |
Die gewählte Perspektive der gereiften jungen Frau gibt der ebenfalls | |
gereiften 39-jährigen Autorin Austen Gelegenheit, die Dinge distanziert zu | |
reflektieren. Nie ergeht Austen sich in Beschreibungen irgendwelcher | |
Dekors, die Erwähnung von Profanem erfolgt nur, um intellektuelle oder | |
charakterliche Defizite einer Figur zu illustrieren. Jane Austen bedient | |
sich dabei der Mittel beißender Satire, sprachlicher kleiner Spitzen, die | |
oftmals nur in Nebensätzen fallen. Und die Eva Mattes mit unerbittlicher | |
Bestimmtheit bei gleichzeitig zerbrechlicher Besonnenheit zum Klingen | |
bringt – und damit vor dem „Überlesen“ bewahrt. | |
Die für das frühe 19. Jahrhundert sehr emanzipatorische Zeichnung der | |
Frauenfiguren – die Admiralsgattin Mrs Croft begleitet ihren Mann auf See, | |
Anne Elliott ist der Inbegriff weiblicher Charakterfestigkeit – | |
unterstreicht Mattes mit lichter Eleganz, was die Hörer*innen zu weiterem | |
Nachdenken über gängige Frauenbilder bringt, damals wie heute. | |
Dass die Lesung so organisch ist, mag auch an Mattes’ Vertrautheit mit dem | |
Stoff liegen: Bereits 2010 hat sie für HörbuchHamburg eine gekürzte Fassung | |
der Übersetzung von Sabine Roth eingelesen.Sylvia Prahl | |
Jane Austen: „Überredung“. 8 CDs, 9 h 32 min., Argon Verlag, 2016 | |
Wunsch nach Frieden | |
Zu ihrer Zeit war Irmgard Keun eine der erfolgreichsten deutschen | |
SchriftstellerInnen. Als die Nazis ihre Literatur verboten, ging sie ins | |
Exil. Auf ihren 2016 wiederentdeckten Roman „Kind aller Länder“ folgte nun | |
die Neuauflage eines weiteren Keun-Klassikers. „Das Mädchen, mit dem die | |
Kinder nicht verkehren durften“ aus dem Jahr 1936 erzählt genau wie „Kind | |
aller Länder“ aus der Sicht einer Zehnjährigen. | |
Köln im Jahr 1918, zum Ende des Ersten Weltkriegs. Die namenlose | |
Protagonistin ist ein lebensfroher Quälgeist, der den Eltern und Lehrern | |
das Leben schwer macht. Fantasievoll eröffnet Keun eine Welt voller | |
Flausen. Vor trübenden Problemen bleibt allerdings auch ein Kind nicht | |
verschont. Denn da sind diese vielen Erwachsenen, vor denen kein Streich | |
sicher zu sein scheint. Den KlassenkameradInnen wird sogar der Umgang mit | |
der frechen Zehnjährigen untersagt. Mit den Nachbarskindern lässt sich | |
dennoch unbekümmert Unfug treiben. | |
Die Abgründe des Kriegsalltags und der folgenden Besatzung sind dennoch | |
deutlich spürbar: Mangel, Krankheiten und die Trauer um Gefallene. Die | |
bedrückenden Umstände sind nicht nur beängstigend, sondern lassen dem | |
Mädchen auch die absurdesten Lösungen einfallen. Soldaten werden zu | |
Spielkameraden, verlassene Häuser zu Abenteuerplätzen und das Stehlen der | |
Steckrüben zu einem spannenden Ausflug. | |
Der Roman begleitet die Ich-Erzählerin über drei Jahre, hinein in die | |
Pubertät. Keun kreiert unbeschwert scharfsinnig Begegnungen zwischen | |
Verstehen und Ungläubigkeit, Erwachsenwerden und Kindbleiben. Sie schreibt | |
mit einer ordentlichen Portion Naivität und Komik. | |
In ihrem ersten Exilroman spielt trotz aller Leichtigkeit der Wunsch nach | |
Frieden die zentrale Rolle. Genau 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung | |
ist der Roman mit seinem kindlichen Erzählton immer noch genauso | |
erfrischend. Verena Krippner | |
Irmgard Keun: „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“. | |
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 208 Seiten, 16 Euro | |
Optimistisch ungemütlich | |
Herfried und Marina Münklers Buch „Die neuen Deutschen“ ist im Untertitel | |
viel zu kühl mit „Ein Land vor seiner Zukunft“ bezeichnet. Der Clou der | |
Streitschrift steckt bereits in den Überschriften, denn beide diskutieren | |
die politischen und gesellschaftlichen Umstände, die neu eingewanderten | |
Bürger*innen, vor allem die Geflüchteten, als zu lösende Aufgabe, nicht als | |
apokalyptische Heimsuchung (wie die Rechtspopulisten) oder als schweres | |
Zeichen postkolonialer Rechthaberei (wie viele Linke). Sie wollen, dass | |
gelingt, was Kanzlerin Merkel mit ihrem „Wir schaffen das“ so lakonisch wie | |
anregend als Credo in die öffentliche Arena getragen hat. | |
Es sei keine „erbauliche“ Schrift, die sie schreiben wollten, sondern eine | |
„politische“. Keine Schaumschlägerei um „Fluchtursachen“, „Kapitalis… | |
oder „Schuldfragen“, also analytisch Scheinmuskuläres für Sonntagsreden. | |
Vielmehr verstehen sie ihren großen Text als pragmatisch und lösungs-, | |
mithin zukunftsorientiert. Ihre These: Jene, die kommen und kamen, werden | |
deutsch werden (müssen), also die neuen Deutschen, die bislang | |
Einheimischen werden sich auch ändern (müssen), sie sind in diesem Sinne | |
dann auch neue Deutsche. Woher sie ihre Zuversicht nehmen? Weil es, sehr | |
schön nachgewiesen in diesem Buch, historisch immer schon so war: | |
Deutschland war schon immer eine Migrationsgesellschaft – mit hohem | |
Integrationsvermögen. | |
Zu ihren Vorschlägen für das Alltägliche unterbreiten sie auch die kluge | |
Idee, dass keine Schulklasse einen höheren als einen 25-Prozent-Anteil an | |
migrantischen Kindern haben sollte, das verhindere die üblichen Probleme. | |
Wie man das löse, da es doch diese (klassen- und kultur-)gemischten Viertel | |
nur selten gäbe? Durcn Schulbusse. Wie in den USA. Na: Das wird die | |
elitebewussten Mittelschichten aber freuen, möchte man anfügen, vor allem | |
die grünen. | |
Nicht nur dieser Punkt überzeugt, auch dieser: Die Münklers finden, dass | |
der Kern, der den „beschwerlichen Weg“ ermöglichen kann, jener ist, den man | |
als Verfassungspatriotismus bezeichnen müsste. Die Verpflichtung, ähnlich | |
wie in den USA, aller auf den guten Zweck der solidarischen Anstrengung im | |
Namen der Nation. | |
Dass dies nicht als Hitlerei misszuverstehen ist, finden nur | |
bequem-internationalistische Linke nicht. Dass dieser Trick ein | |
Solidaritätstreiber der nichtvölkischen Inklusion wäre, entspricht der | |
Argumentation der Autor*innen sehr. Die Streitschrift der Saison, | |
optimistisch und ungemütlich zugleich. Jan Feddersen | |
Herfried und Marina Münkler: „Die neuen Deutschen“. Rowohlt Berlin, Berlin | |
2016, 338 Seiten, 19,95 Euro | |
Ach, Österreich! | |
Schon der Titel ist ein Seufzer. Und Armin Thurnher, Mitbegründer und | |
Herausgeber der Wiener Stadtzeitung Falter, verzweifelt immer wieder an der | |
österreichischen Realpolitik. Eigentlich wollte er ein Buch über die Medien | |
schreiben. Der Zsolnay Verlag hatte den Titel schon in der Werbung. Dann | |
kam Anfang Juli die Aufhebung der Bundespräsidentenstichwahl und Thurnher | |
sah sich veranlasst, sein Versprechen, kein Österreich-Buch mehr zu | |
schreiben, zu brechen. | |
Er ist angesichts der Umfragewerte der FPÖ und des möglichen Wahlsiegs des | |
FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer ehrlich besorgt über den | |
Vormarsch des Rechtspopulismus und dass gerade in Österreich eine Rechte an | |
die Macht kommt, „die man in Teilen als faschistisch bezeichnen kann“. Die | |
FPÖ habe die Defizite des Systems „beinhart für sich auszunutzen gewusst“, | |
komme gleichermaßen „bieder, elterntauglich und hetzerisch rüber“ und mei… | |
„mit einem gewissen Schuss Dämonie“. | |
Die ÖVP bleibt für Thurnher immer noch ein großes Rätsel: zerrissen von den | |
Interessen der Bünde, aus denen sie besteht, und immer wieder blockiert von | |
Querschüssen der mächtigen Landeshauptmänner, gelinge es ihr nicht, das | |
bürgerliche Profil anzunehmen, das sie eigentlich beanspruche. Ein | |
Vorabdruck dieses Kapitels provozierte den Zorn der Konservativen: Ein | |
Linker habe nicht das Recht, ihre Partei zu kritisieren. Vom Furor des | |
Autors bleibt aber auch die SPÖ nicht verschont: Gekettet an eine | |
ungeliebte Koalition mit der ÖVP habe sie ihre „inhaltliche und | |
organisatorische Schwachbrüstigkeit“ veranlasst, die Gunst der | |
Boulevardmedien zu erkaufen. Der Bevölkerung, die immer wieder den Nachweis | |
erbringe, dass sie nichts Besseres verdient habe als ebendiese politische | |
Klasse, wirft er Untertanenmentalität vor. An einer Stelle sogar | |
„Sklavenmentalität“, was er dann doch nicht so kategorisch nicht gemeint | |
haben will. | |
Auch der Verfassungsgerichtshof bekommt sein Fett ab. Denn, so hat sich der | |
Autor von befreundeten Juristen überzeugen lassen, die Aufhebung der | |
Stichwahl sei eine Fehlentscheidung gewesen. Und er resümiert, dass er | |
lieber in einem Staatswesen leben würde, „in dem saubere Gesetze bei Bedarf | |
etwas schlampig angewendet werden, als umgekehrt schlampige Gesetze auf | |
Punkt und Beistrich exekutiert“. | |
Ralf Leonhard | |
Armin Thurnher: „Ach, Österreich! Europäische Lektionen aus der | |
Alpenrepublik“. Zsolnay Verlag, Wien 2016, 176 Seiten, 16 Euro | |
Kein Nazi nirgends | |
Den ehemaligen stern-Reporter Niklas Frank hat das Thema NS sein Leben lang | |
verfolgt. Und das ist kein Wunder, denn als Sohn von Hans Frank, der | |
zwischen 1939 und 1945 Generalgouverneur von Polen war und 1946 | |
hingerichtet wurde, konnte er seiner Vergangenheit nicht entfliehen, zu | |
monströs war für Niklas Frank die Tatsache, dass er von zwei Monstern | |
abstammte, die sich als Herrscher über „minderwertiges“ Leben und Tod | |
aufspielten. | |
Die meisten Kinder von NS-Prominenten haben die Schuld ihrer Eltern | |
relativiert und verdrängt. Niklas Frank hingegen hat schonungslos gegenüber | |
sich selbst seinen Hass auf seinen Vater publik gemacht. „Der Vater. Eine | |
Abrechnung“ hieß sein 1987 erschienenes und im stern vorabgedrucktes Buch, | |
das die Gesellschaft stark in Wallung geraten ließ und das ihm | |
wahrscheinlich mehr Anfeindungen einbrachte als seinem Vater, der als | |
„Schlächter von Polen“ bekannt wurde. | |
Immer wieder hat Niklas Frank mit unversöhnlicher Kritik des NS und seiner | |
Mitläufer das Trauma seiner Kindheit bearbeitet. Nachsehen muss man ihm, | |
dass er das nicht mit einem historisch-distanzierten Blick tun kann. Niklas | |
Frank hat in seinem neuen Buch, „Dunkle Seele feiges Maul. Wie skandalös | |
und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reinwaschen“, den Blick | |
auf das große Herausreden der Nazis gerichtet, und das Präsens im | |
Untertitel zeigt an, dass für Frank die Geschichte der „Feigheit“ nicht zu | |
Ende ist. Er sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Nazis, die | |
nicht zu dem standen, was sie getan hatten, und der geistigen Verfassung | |
der Täter, die Asylbewerberheime anzünden und ihre politische Heimat bei | |
der AfD gefunden haben. | |
3.660.648 Entnazifizierungsakten in den alten Bundesländern gibt es. Niklas | |
Frank hat in zahlreichen Archiven wahllos Akten durchgesehen und ist immer | |
auf dasselbe gestoßen: auf Dokumente der Niedertracht und Dummheit, die er | |
unermüdlich und mit großer Empörung kommentiert, obwohl sich der Schrecken | |
dadurch nicht steigern lässt. | |
Im schleswig-holsteinischen Landesarchiv sagte der Archivar: „Bei mir | |
werden Sie nur Widerständler finden“, denn als solche haben sich die | |
Deutschen in der Nachkriegszeit stilisiert. An dieser Einstellung sind | |
schon Kriegsreporterinnen wie Martha Gellhorn verzweifelt, denn nirgends | |
konnte sie auch nur einen Nazi entdecken. Die Dokumente sind aber auch von | |
unfreiwilliger Komik, wenn sich Belastete mit den absurdesten Argumenten | |
aus der Verantwortung stehlen wollen, so ähnlich wie das | |
Vernehmungsprotokoll von Adolf Eichmann, das Hannah Arendt gelesen hat und | |
dabei laut lachen musste. | |
Aber auf 584 Seiten ist die Lektüre deprimierend und kaum auszuhalten. Die | |
fremdenfeindlichen 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die hier in einen | |
Spiegel sehen könnten, werden das Buch kaum lesen, und es ist schade, dass | |
man sie nicht dazu verurteilen kann, diese Anklageschrift Wort für Wort zu | |
lesen, sie zu konfrontieren mit der jämmerlichen Wirklichkeit ihres | |
xenophobischen Daseins. | |
Klaus Bittermann | |
Niklas Frank: „Dunkle Seele, feiges Maul. Wie skandalös und komisch sich | |
die Deutschen beim Entnazifizierungsprozess reinwaschen“. Dietz Verlag, | |
Bonn 2016, 584 Seiten, 29,90 Euro | |
überstrahlt ihr eigenes Spiegelbild und zeigt sich stattdessen selbst − | |
entsprechend der verschiedenen Designs der Mattscheiben − in Formen, die | |
man unbedingt als Sonnenuntergänge interpretieren möchte. | |
Tatsächlich drängen uns kunsthistorisch überkommene Bildkonventionen zu | |
Natur und Landschaft, den Blitz als Sonne zu sehen, wobei seine Position | |
auf der Mattscheibe den jeweiligen Horizont definiert, während die | |
Landschaften durch die verschieden starke Biegung der Bildschirme | |
entstehen, deren mehr oder minder sauberen oder auch beschädigten | |
Oberflächen die Stimmung von Licht und Wetter beitragen. Traditionell | |
gerahmt durch das Gehäuse, von dem Comani feinsäuberlich die Markennamen | |
entfernt hat, geht die Sonne einmal im flirrenden Licht einer heftig | |
zerkratzten Mattscheibe unter, während sie ein anderes Mal makellos | |
strahlend auf einer blanken Mattschiebe versinkt. „Sunsets“ heißt die | |
Publikation, die die im Maßstab 1:2,5 verkleinerte Serie jetzt in einem | |
Band versammelt. In der originalen Installation (wie das Foto auf unserer | |
Doppelseite zeigt) hängen die einzelnen auf MDF-Platten aufgezogenen Bilder | |
höchst ironisch wie Flachbildschirme an der Wand. Brigitte Werneburg | |
Daniela Comani: „Sunsets. No. 217“ Edition Patrick Frey, Zürich 2016, 64 | |
S., 30 Euro | |
## Zur Hölle fahren | |
Die Öffentlichkeit hatte John Fante schon fast vergessen, als Charles | |
Bukowski ihn Ende der 70er Jahre als literarische Vaterfigur in Beschlag | |
nahm und ihm dadurch immerhin den verdienten Nachruhm sicherte. „Little | |
Italy“, die bisher umfangreichste Sammlung seiner Short Storys, enthält vor | |
allem Arbeiten aus den 30ern, seiner stärksten Werkphase. Die Parallelen | |
zwischen den beiden sind offensichtlich. Auch Fante hat die Außenseiter und | |
Randständigen im Blick. Bei ihm sind es die italienischen Einwanderer, die | |
armen, streng katholischen Itaker, die an einem ziemlichen | |
Minderwertigkeitskomplex laborieren und den mit großer Fresse, Fäusten und | |
forciertem Machogehabe kompensieren müssen. | |
Der Titel „Littly Italy“ ist mehrdeutig. Fante lässt hier seine eigene | |
Kindheit in Colorada auferstehen. Die Erzähler sind kleine Jungs, die sich | |
nur wundern können über die geduldige Unterwürfigkeit der sich zuschanden | |
arbeitenden Mütter und die lauten, latent gewalttätigen Väter. Noch dazu | |
müssen sie ständig befürchten, zur Hölle zu fahren, weil der katholische | |
Tugendterror auch noch die letzten Freiräume ihres Alltags durchdringt. Die | |
kleinen Rebellionen, die sie trotzdem anzetteln, erfordern in diesem | |
repressiven System echten Heldenmut. | |
Fante ist ein großartiger Ethnograf seines Milieus, der auch unter der | |
kruden, plebejischen Schroffheit noch einen Glutkern von Zärtlichkeit | |
ausmachen kann. „Ich habe das tapfer wie ein Mann ertragen“, erzählt einer | |
von Fantes juvenilen Helden über seine letzte Prügelstrafe. „Der Grund war | |
einfach, ich wusste, dass er mein Vater war und mit der Prügelei aufhören | |
würde, bevor er mir zu wehtat. Er sagte immer wieder, er würde mich | |
totschlagen, aber er war mein Vater und konnte mich mit solchem Zeug nicht | |
erschrecken.“ | |
Fante schreibe aus „dem Herzen und aus dem Gedärm“, hat ihm der dreckige | |
alte Mann attestiert. Ein größeres Lob gibt es von ihm nicht. Frank Schäfer | |
John Fante: „Little Italy“. Aus dem Englischen von Kurt Pohl und Rainer | |
Wehlen. Maro, Augsburg 2016. 367 Seiten, 20 Euro | |
## Jane Austens Frauenbilder | |
Was ist der Anreiz, sich einen Roman der Weltliteratur, den man vermutlich | |
schon vor Jahren gelesen hat, noch einmal vorlesen zu lassen? Kurze | |
Antwort: um die Geschichte noch einmal zu genießen. Eva Mattes’ ungekürzte | |
Lesung von „Überredung“ – dem letzten Roman, den Jane Austen 1816 ein Ja… | |
vor ihrem Tod vollendete, hier in der Übersetzung von Ursula und Christian | |
Grawe aus dem Jahr 1983 – verlockt zu einer ausführlicheren Antwort. | |
Der Roman handelt von Anne Elliott, einer 27-jährigen Landadeligen, die | |
acht Jahre zuvor von ihrer mütterlichen Freundin Lady Russell überredet | |
wurde, ihre Verlobung mit Frederick Wentworth zu lösen. Sie hat nie | |
aufgehört, den Marine-Offizier zu lieben. Als sie durch Zufall wieder | |
regelmäßig auf den inzwischen zum Captain avancierten Wentworth trifft, | |
brechen sorgsam verwahrte Gefühle wieder auf und frühere Entscheidungen | |
werden infrage gestellt. | |
Die gewählte Perspektive der gereiften jungen Frau gibt der ebenfalls | |
gereiften 39-jährigen Autorin Austen Gelegenheit, die Dinge distanziert zu | |
reflektieren. Nie ergeht Austen sich in Beschreibungen irgendwelcher | |
Dekors, die Erwähnung von Profanem erfolgt nur, um intellektuelle oder | |
charakterliche Defizite einer Figur zu illustrieren. Jane Austen bedient | |
sich dabei der Mittel beißender Satire, sprachlicher kleiner Spitzen, die | |
oftmals nur in Nebensätzen fallen. Und die Eva Mattes mit unerbittlicher | |
Bestimmtheit bei gleichzeitig zerbrechlicher Besonnenheit zum Klingen | |
bringt – und damit vor dem „Überlesen“ bewahrt. | |
Die für das frühe 19. Jahrhundert sehr emanzipatorische Zeichnung der | |
Frauenfiguren – die Admiralsgattin Mrs Croft begleitet ihren Mann auf See, | |
Anne Elliott ist der Inbegriff weiblicher Charakterfestigkeit – | |
unterstreicht Mattes mit lichter Eleganz, was die Hörer*innen zu weiterem | |
Nachdenken über gängige Frauenbilder bringt, damals wie heute. | |
Dass die Lesung so organisch ist, mag auch an Mattes’ Vertrautheit mit dem | |
Stoff liegen: Bereits 2010 hat sie für HörbuchHamburg eine gekürzte Fassung | |
der Übersetzung von Sabine Roth eingelesen.Sylvia Prahl | |
Jane Austen: „Überredung“. 8 CDs, 9 h 32 min., Argon Verlag, 2016 | |
## Wunsch nach Frieden | |
Zu ihrer Zeit war Irmgard Keun eine der erfolgreichsten deutschen | |
SchriftstellerInnen. Als die Nazis ihre Literatur verboten, ging sie ins | |
Exil. Auf ihren 2016 wiederentdeckten Roman „Kind aller Länder“ folgte nun | |
die Neuauflage eines weiteren Keun-Klassikers. „Das Mädchen, mit dem die | |
Kinder nicht verkehren durften“ aus dem Jahr 1936 erzählt genau wie „Kind | |
aller Länder“ aus der Sicht einer Zehnjährigen. | |
Köln im Jahr 1918, zum Ende des Ersten Weltkriegs. Die namenlose | |
Protagonistin ist ein lebensfroher Quälgeist, der den Eltern und Lehrern | |
das Leben schwer macht. Fantasievoll eröffnet Keun eine Welt voller | |
Flausen. Vor trübenden Problemen bleibt allerdings auch ein Kind nicht | |
verschont. Denn da sind diese vielen Erwachsenen, vor denen kein Streich | |
sicher zu sein scheint. Den KlassenkameradInnen wird sogar der Umgang mit | |
der frechen Zehnjährigen untersagt. Mit den Nachbarskindern lässt sich | |
dennoch unbekümmert Unfug treiben. | |
Die Abgründe des Kriegsalltags und der folgenden Besatzung sind dennoch | |
deutlich spürbar: Mangel, Krankheiten und die Trauer um Gefallene. Die | |
bedrückenden Umstände sind nicht nur beängstigend, sondern lassen dem | |
Mädchen auch die absurdesten Lösungen einfallen. Soldaten werden zu | |
Spielkameraden, verlassene Häuser zu Abenteuerplätzen und das Stehlen der | |
Steckrüben zu einem spannenden Ausflug. | |
Der Roman begleitet die Ich-Erzählerin über drei Jahre, hinein in die | |
Pubertät. Keun kreiert unbeschwert scharfsinnig Begegnungen zwischen | |
Verstehen und Ungläubigkeit, Erwachsenwerden und Kindbleiben. Sie schreibt | |
mit einer ordentlichen Portion Naivität und Komik. | |
In ihrem ersten Exilroman spielt trotz aller Leichtigkeit der Wunsch nach | |
Frieden die zentrale Rolle. Genau 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung | |
ist der Roman mit seinem kindlichen Erzählton immer noch genauso | |
erfrischend. Verena Krippner | |
Irmgard Keun: „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“. | |
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 208 Seiten, 16 Euro | |
## Optimistisch ungemütlich | |
Herfried und Marina Münklers Buch „Die neuen Deutschen“ ist im Untertitel | |
viel zu kühl mit „Ein Land vor seiner Zukunft“ bezeichnet. Der Clou der | |
Streitschrift steckt bereits in den Überschriften, denn beide diskutieren | |
die politischen und gesellschaftlichen Umstände, die neu eingewanderten | |
Bürger*innen, vor allem die Geflüchteten, als zu lösende Aufgabe, nicht als | |
apokalyptische Heimsuchung (wie die Rechtspopulisten) oder als schweres | |
Zeichen postkolonialer Rechthaberei (wie viele Linke). Sie wollen, dass | |
gelingt, was Kanzlerin Merkel mit ihrem „Wir schaffen das“ so lakonisch wie | |
anregend als Credo in die öffentliche Arena getragen hat. | |
Es sei keine „erbauliche“ Schrift, die sie schreiben wollten, sondern eine | |
„politische“. Keine Schaumschlägerei um „Fluchtursachen“, „Kapitalis… | |
oder „Schuldfragen“, also analytisch Scheinmuskuläres für Sonntagsreden. | |
Vielmehr verstehen sie ihren großen Text als pragmatisch und lösungs-, | |
mithin zukunftsorientiert. Ihre These: Jene, die kommen und kamen, werden | |
deutsch werden (müssen), also die neuen Deutschen, die bislang | |
Einheimischen werden sich auch ändern (müssen), sie sind in diesem Sinne | |
dann auch neue Deutsche. Woher sie ihre Zuversicht nehmen? Weil es, sehr | |
schön nachgewiesen in diesem Buch, historisch immer schon so war: | |
Deutschland war schon immer eine Migrationsgesellschaft – mit hohem | |
Integrationsvermögen. | |
Zu ihren Vorschlägen für das Alltägliche unterbreiten sie auch die kluge | |
Idee, dass keine Schulklasse einen höheren als einen 25-Prozent-Anteil an | |
migrantischen Kindern haben sollte, das verhindere die üblichen Probleme. | |
Wie man das löse, da es doch diese (klassen- und kultur-)gemischten Viertel | |
nur selten gäbe? Durcn Schulbusse. Wie in den USA. Na: Das wird die | |
elitebewussten Mittelschichten aber freuen, möchte man anfügen, vor allem | |
die grünen. | |
Nicht nur dieser Punkt überzeugt, auch dieser: Die Münklers finden, dass | |
der Kern, der den „beschwerlichen Weg“ ermöglichen kann, jener ist, den man | |
als Verfassungspatriotismus bezeichnen müsste. Die Verpflichtung, ähnlich | |
wie in den USA, aller auf den guten Zweck der solidarischen Anstrengung im | |
Namen der Nation. | |
Dass dies nicht als Hitlerei misszuverstehen ist, finden nur | |
bequem-internationalistische Linke nicht. Dass dieser Trick ein | |
Solidaritätstreiber der nichtvölkischen Inklusion wäre, entspricht der | |
Argumentation der Autor*innen sehr. Die Streitschrift der Saison, | |
optimistisch und ungemütlich zugleich. Jan Feddersen | |
Herfried und Marina Münkler: „Die neuen Deutschen“. Rowohlt Berlin, Berlin | |
2016, 338 Seiten, 19,95 Euro | |
## Ach, Österreich! | |
Schon der Titel ist ein Seufzer. Und Armin Thurnher, Mitbegründer und | |
Herausgeber der Wiener Stadtzeitung Falter, verzweifelt immer wieder an der | |
österreichischen Realpolitik. Eigentlich wollte er ein Buch über die Medien | |
schreiben. Der Zsolnay Verlag hatte den Titel schon in der Werbung. Dann | |
kam Anfang Juli die Aufhebung der Bundespräsidentenstichwahl und Thurnher | |
sah sich veranlasst, sein Versprechen, kein Österreich-Buch mehr zu | |
schreiben, zu brechen. | |
Er ist angesichts der Umfragewerte der FPÖ und des möglichen Wahlsiegs des | |
FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer ehrlich besorgt über den | |
Vormarsch des Rechtspopulismus und dass gerade in Österreich eine Rechte an | |
die Macht kommt, „die man in Teilen als faschistisch bezeichnen kann“. Die | |
FPÖ habe die Defizite des Systems „beinhart für sich auszunutzen gewusst“, | |
komme gleichermaßen „bieder, elterntauglich und hetzerisch rüber“ und mei… | |
„mit einem gewissen Schuss Dämonie“. | |
Die ÖVP bleibt für Thurnher immer noch ein großes Rätsel: zerrissen von den | |
Interessen der Bünde, aus denen sie besteht, und immer wieder blockiert von | |
Querschüssen der mächtigen Landeshauptmänner, gelinge es ihr nicht, das | |
bürgerliche Profil anzunehmen, das sie eigentlich beanspruche. Ein | |
Vorabdruck dieses Kapitels provozierte den Zorn der Konservativen: Ein | |
Linker habe nicht das Recht, ihre Partei zu kritisieren. Vom Furor des | |
Autors bleibt aber auch die SPÖ nicht verschont: Gekettet an eine | |
ungeliebte Koalition mit der ÖVP habe sie ihre „inhaltliche und | |
organisatorische Schwachbrüstigkeit“ veranlasst, die Gunst der | |
Boulevardmedien zu erkaufen. Der Bevölkerung, die immer wieder den Nachweis | |
erbringe, dass sie nichts Besseres verdient habe als ebendiese politische | |
Klasse, wirft er Untertanenmentalität vor. An einer Stelle sogar | |
„Sklavenmentalität“, was er dann doch nicht so kategorisch nicht gemeint | |
haben will. | |
Auch der Verfassungsgerichtshof bekommt sein Fett ab. Denn, so hat sich der | |
Autor von befreundeten Juristen überzeugen lassen, die Aufhebung der | |
Stichwahl sei eine Fehlentscheidung gewesen. Und er resümiert, dass er | |
lieber in einem Staatswesen leben würde, „in dem saubere Gesetze bei Bedarf | |
etwas schlampig angewendet werden, als umgekehrt schlampige Gesetze auf | |
Punkt und Beistrich exekutiert“. | |
Ralf Leonhard | |
Armin Thurnher: „Ach, Österreich! Europäische Lektionen aus der | |
Alpenrepublik“. Zsolnay Verlag, Wien 2016, 176 Seiten, 16 Euro | |
## Kein Nazi nirgends | |
Den ehemaligen stern-Reporter Niklas Frank hat das Thema NS sein Leben lang | |
verfolgt. Und das ist kein Wunder, denn als Sohn von Hans Frank, der | |
zwischen 1939 und 1945 Generalgouverneur von Polen war und 1946 | |
hingerichtet wurde, konnte er seiner Vergangenheit nicht entfliehen, zu | |
monströs war für Niklas Frank die Tatsache, dass er von zwei Monstern | |
abstammte, die sich als Herrscher über „minderwertiges“ Leben und Tod | |
aufspielten. | |
Die meisten Kinder von NS-Prominenten haben die Schuld ihrer Eltern | |
relativiert und verdrängt. Niklas Frank hingegen hat schonungslos gegenüber | |
sich selbst seinen Hass auf seinen Vater publik gemacht. „Der Vater. Eine | |
Abrechnung“ hieß sein 1987 erschienenes und im stern vorabgedrucktes Buch, | |
das die Gesellschaft stark in Wallung geraten ließ und das ihm | |
wahrscheinlich mehr Anfeindungen einbrachte als seinem Vater, der als | |
„Schlächter von Polen“ bekannt wurde. | |
Immer wieder hat Niklas Frank mit unversöhnlicher Kritik des NS und seiner | |
Mitläufer das Trauma seiner Kindheit bearbeitet. Nachsehen muss man ihm, | |
dass er das nicht mit einem historisch-distanzierten Blick tun kann. Niklas | |
Frank hat in seinem neuen Buch, „Dunkle Seele feiges Maul. Wie skandalös | |
und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reinwaschen“, den Blick | |
auf das große Herausreden der Nazis gerichtet, und das Präsens im | |
Untertitel zeigt an, dass für Frank die Geschichte der „Feigheit“ nicht zu | |
Ende ist. Er sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Nazis, die | |
nicht zu dem standen, was sie getan hatten, und der geistigen Verfassung | |
der Täter, die Asylbewerberheime anzünden und ihre politische Heimat bei | |
der AfD gefunden haben. | |
3.660.648 Entnazifizierungsakten in den alten Bundesländern gibt es. Niklas | |
Frank hat in zahlreichen Archiven wahllos Akten durchgesehen und ist immer | |
auf dasselbe gestoßen: auf Dokumente der Niedertracht und Dummheit, die er | |
unermüdlich und mit großer Empörung kommentiert, obwohl sich der Schrecken | |
dadurch nicht steigern lässt. | |
Im schleswig-holsteinischen Landesarchiv sagte der Archivar: „Bei mir | |
werden Sie nur Widerständler finden“, denn als solche haben sich die | |
Deutschen in der Nachkriegszeit stilisiert. An dieser Einstellung sind | |
schon Kriegsreporterinnen wie Martha Gellhorn verzweifelt, denn nirgends | |
konnte sie auch nur einen Nazi entdecken. Die Dokumente sind aber auch von | |
unfreiwilliger Komik, wenn sich Belastete mit den absurdesten Argumenten | |
aus der Verantwortung stehlen wollen, so ähnlich wie das | |
Vernehmungsprotokoll von Adolf Eichmann, das Hannah Arendt gelesen hat und | |
dabei laut lachen musste. | |
Aber auf 584 Seiten ist die Lektüre deprimierend und kaum auszuhalten. Die | |
fremdenfeindlichen 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die hier in einen | |
Spiegel sehen könnten, werden das Buch kaum lesen, und es ist schade, dass | |
man sie nicht dazu verurteilen kann, diese Anklageschrift Wort für Wort zu | |
lesen, sie zu konfrontieren mit der jämmerlichen Wirklichkeit ihres | |
xenophobischen Daseins. | |
Klaus Bittermann | |
Niklas Frank: „Dunkle Seele, feiges Maul. Wie skandalös und komisch sich | |
die Deutschen beim Entnazifizierungsprozess reinwaschen“. Dietz Verlag, | |
Bonn 2016, 584 Seiten, 29,90 Euro | |
18 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
Klaus Bittermann | |
Ralf Leonhard | |
Frank Schäfer | |
Sylvia Prahl | |
Verena Krippner | |
Jan Feddersen | |
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