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# taz.de -- Wie die Sonne aufgeht, wie die Sonne untergeht
> In den Herbstbüchern Plebejische Schroffheit, Gattin auf hoher See,
> kaputtes Köln, neue Deutsche, alte Österreicher, Naziland ohne Nazis,
> Monstereltern
## Wie die Sonne untergeht
Den schönsten Abgesang auf die Ära des Kathodenstrahlröhrenfernsehers hat
die italienische Konzeptkünstlerin Daniela Comani mit ihrer 28-teiligen
Fotoserie „Off − Landscapes with Sunset“ geliefert. Typisch für Endzeiten
sieht Comani plötzlich einen kaum je thematisierten Gestaltungsaspekt des
Fernsehgeräts, der sich eben nur im Off offenbart: den gläsernen
Bildschirm. Selbstredend ist uns bewusst, dass dieser Bildschirm im
ausgeschalteten Zustand eine Reflexionsfläche ist, in der sich etwa
Menschen und Möbel spiegeln. Daniela Comani allerdings erkennt in ihm die
Projektionsfläche (als die er eigentlich nur in Betrieb gesehen wird),
deren Bedingung die gebogene Mattscheibe der alten Geräte ist. Die
Künstlerin fotografiert das Fernsehgerät nicht einfach, sie blitzt es. Der
Flash
Wie die Sonne untergeht
Den schönsten Abgesang auf die Ära des Kathodenstrahlröhrenfernsehers hat
die italienische Konzeptkünstlerin Daniela Comani mit ihrer 28-teiligen
Fotoserie „Off − Landscapes with Sunset“ geliefert. Typisch für Endzeiten
sieht Comani plötzlich einen kaum je thematisierten Gestaltungsaspekt des
Fernsehgeräts, der sich eben nur im Off offenbart: den gläsernen
Bildschirm. Selbstredend ist uns bewusst, dass dieser Bildschirm im
ausgeschalteten Zustand eine Reflexionsfläche ist, in der sich etwa
Menschen und Möbel spiegeln. Daniela Comani allerdings erkennt in ihm die
Projektionsfläche (als die er eigentlich nur in Betrieb gesehen wird),
deren Bedingung die gebogene Mattscheibe der alten Geräte ist. Die
Künstlerin fotografiert das Fernsehgerät nicht einfach, sie blitzt es. Der
Flash überstrahlt ihr eigenes Spiegelbild und zeigt sich stattdessen selbst
− entsprechend der verschiedenen Designs der Mattscheiben − in Formen, die
man unbedingt als Sonnenuntergänge interpretieren möchte.
Tatsächlich drängen uns kunsthistorisch überkommene Bildkonventionen zu
Natur und Landschaft, den Blitz als Sonne zu sehen, wobei seine Position
auf der Mattscheibe den jeweiligen Horizont definiert, während die
Landschaften durch die verschieden starke Biegung der Bildschirme
entstehen, deren mehr oder minder sauberen oder auch beschädigten
Oberflächen die Stimmung von Licht und Wetter beitragen. Traditionell
gerahmt durch das Gehäuse, von dem Comani feinsäuberlich die Markennamen
entfernt hat, geht die Sonne einmal im flirrenden Licht einer heftig
zerkratzten Mattscheibe unter, während sie ein anderes Mal makellos
strahlend auf einer blanken Mattschiebe versinkt. „Sunsets“ heißt die
Publikation, die die im Maßstab 1:2,5 verkleinerte Serie jetzt in einem
Band versammelt. In der originalen Installation (wie das Foto auf unserer
Doppelseite zeigt) hängen die einzelnen auf MDF-Platten aufgezogenen Bilder
höchst ironisch wie Flachbildschirme an der Wand. Brigitte Werneburg
Daniela Comani: „Sunsets. No. 217“ Edition Patrick Frey, Zürich 2016, 64
S., 30 Euro
Zur Hölle fahren
Die Öffentlichkeit hatte John Fante schon fast vergessen, als Charles
Bukowski ihn Ende der 70er Jahre als literarische Vaterfigur in Beschlag
nahm und ihm dadurch immerhin den verdienten Nachruhm sicherte. „Little
Italy“, die bisher umfangreichste Sammlung seiner Short Storys, enthält vor
allem Arbeiten aus den 30ern, seiner stärksten Werkphase. Die Parallelen
zwischen den beiden sind offensichtlich. Auch Fante hat die Außenseiter und
Randständigen im Blick. Bei ihm sind es die italienischen Einwanderer, die
armen, streng katholischen Itaker, die an einem ziemlichen
Minderwertigkeitskomplex laborieren und den mit großer Fresse, Fäusten und
forciertem Machogehabe kompensieren müssen.
Der Titel „Littly Italy“ ist mehrdeutig. Fante lässt hier seine eigene
Kindheit in Colorada auferstehen. Die Erzähler sind kleine Jungs, die sich
nur wundern können über die geduldige Unterwürfigkeit der sich zuschanden
arbeitenden Mütter und die lauten, latent gewalttätigen Väter. Noch dazu
müssen sie ständig befürchten, zur Hölle zu fahren, weil der katholische
Tugendterror auch noch die letzten Freiräume ihres Alltags durchdringt. Die
kleinen Rebellionen, die sie trotzdem anzetteln, erfordern in diesem
repressiven System echten Heldenmut.
Fante ist ein großartiger Ethnograf seines Milieus, der auch unter der
kruden, plebejischen Schroffheit noch einen Glutkern von Zärtlichkeit
ausmachen kann. „Ich habe das tapfer wie ein Mann ertragen“, erzählt einer
von Fantes juvenilen Helden über seine letzte Prügelstrafe. „Der Grund war
einfach, ich wusste, dass er mein Vater war und mit der Prügelei aufhören
würde, bevor er mir zu wehtat. Er sagte immer wieder, er würde mich
totschlagen, aber er war mein Vater und konnte mich mit solchem Zeug nicht
erschrecken.“
Fante schreibe aus „dem Herzen und aus dem Gedärm“, hat ihm der dreckige
alte Mann attestiert. Ein größeres Lob gibt es von ihm nicht. Frank Schäfer
John Fante: „Little Italy“. Aus dem Englischen von Kurt Pohl und Rainer
Wehlen. Maro, Augsburg 2016. 367 Seiten, 20 Euro
Jane Austens Frauenbilder
Was ist der Anreiz, sich einen Roman der Weltliteratur, den man vermutlich
schon vor Jahren gelesen hat, noch einmal vorlesen zu lassen? Kurze
Antwort: um die Geschichte noch einmal zu genießen. Eva Mattes’ ungekürzte
Lesung von „Überredung“ – dem letzten Roman, den Jane Austen 1816 ein Ja…
vor ihrem Tod vollendete, hier in der Übersetzung von Ursula und Christian
Grawe aus dem Jahr 1983 – verlockt zu einer ausführlicheren Antwort.
Der Roman handelt von Anne Elliott, einer 27-jährigen Landadeligen, die
acht Jahre zuvor von ihrer mütterlichen Freundin Lady Russell überredet
wurde, ihre Verlobung mit Frederick Wentworth zu lösen. Sie hat nie
aufgehört, den Marine-Offizier zu lieben. Als sie durch Zufall wieder
regelmäßig auf den inzwischen zum Captain avancierten Wentworth trifft,
brechen sorgsam verwahrte Gefühle wieder auf und frühere Entscheidungen
werden infrage gestellt.
Die gewählte Perspektive der gereiften jungen Frau gibt der ebenfalls
gereiften 39-jährigen Autorin Austen Gelegenheit, die Dinge distanziert zu
reflektieren. Nie ergeht Austen sich in Beschreibungen irgendwelcher
Dekors, die Erwähnung von Profanem erfolgt nur, um intellektuelle oder
charakterliche Defizite einer Figur zu illustrieren. Jane Austen bedient
sich dabei der Mittel beißender Satire, sprachlicher kleiner Spitzen, die
oftmals nur in Nebensätzen fallen. Und die Eva Mattes mit unerbittlicher
Bestimmtheit bei gleichzeitig zerbrechlicher Besonnenheit zum Klingen
bringt – und damit vor dem „Überlesen“ bewahrt.
Die für das frühe 19. Jahrhundert sehr emanzipatorische Zeichnung der
Frauenfiguren – die Admiralsgattin Mrs Croft begleitet ihren Mann auf See,
Anne Elliott ist der Inbegriff weiblicher Charakterfestigkeit –
unterstreicht Mattes mit lichter Eleganz, was die Hörer*innen zu weiterem
Nachdenken über gängige Frauenbilder bringt, damals wie heute.
Dass die Lesung so organisch ist, mag auch an Mattes’ Vertrautheit mit dem
Stoff liegen: Bereits 2010 hat sie für HörbuchHamburg eine gekürzte Fassung
der Übersetzung von Sabine Roth eingelesen.Sylvia Prahl
Jane Austen: „Überredung“. 8 CDs, 9 h 32 min., Argon Verlag, 2016
Wunsch nach Frieden
Zu ihrer Zeit war Irmgard Keun eine der erfolgreichsten deutschen
SchriftstellerInnen. Als die Nazis ihre Literatur verboten, ging sie ins
Exil. Auf ihren 2016 wiederentdeckten Roman „Kind aller Länder“ folgte nun
die Neuauflage eines weiteren Keun-Klassikers. „Das Mädchen, mit dem die
Kinder nicht verkehren durften“ aus dem Jahr 1936 erzählt genau wie „Kind
aller Länder“ aus der Sicht einer Zehnjährigen.
Köln im Jahr 1918, zum Ende des Ersten Weltkriegs. Die namenlose
Protagonistin ist ein lebensfroher Quälgeist, der den Eltern und Lehrern
das Leben schwer macht. Fantasievoll eröffnet Keun eine Welt voller
Flausen. Vor trübenden Problemen bleibt allerdings auch ein Kind nicht
verschont. Denn da sind diese vielen Erwachsenen, vor denen kein Streich
sicher zu sein scheint. Den KlassenkameradInnen wird sogar der Umgang mit
der frechen Zehnjährigen untersagt. Mit den Nachbarskindern lässt sich
dennoch unbekümmert Unfug treiben.
Die Abgründe des Kriegsalltags und der folgenden Besatzung sind dennoch
deutlich spürbar: Mangel, Krankheiten und die Trauer um Gefallene. Die
bedrückenden Umstände sind nicht nur beängstigend, sondern lassen dem
Mädchen auch die absurdesten Lösungen einfallen. Soldaten werden zu
Spielkameraden, verlassene Häuser zu Abenteuerplätzen und das Stehlen der
Steckrüben zu einem spannenden Ausflug.
Der Roman begleitet die Ich-Erzählerin über drei Jahre, hinein in die
Pubertät. Keun kreiert unbeschwert scharfsinnig Begegnungen zwischen
Verstehen und Ungläubigkeit, Erwachsenwerden und Kindbleiben. Sie schreibt
mit einer ordentlichen Portion Naivität und Komik.
In ihrem ersten Exilroman spielt trotz aller Leichtigkeit der Wunsch nach
Frieden die zentrale Rolle. Genau 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung
ist der Roman mit seinem kindlichen Erzählton immer noch genauso
erfrischend. Verena Krippner
Irmgard Keun: „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 208 Seiten, 16 Euro
Optimistisch ungemütlich
Herfried und Marina Münklers Buch „Die neuen Deutschen“ ist im Untertitel
viel zu kühl mit „Ein Land vor seiner Zukunft“ bezeichnet. Der Clou der
Streitschrift steckt bereits in den Überschriften, denn beide diskutieren
die politischen und gesellschaftlichen Umstände, die neu eingewanderten
Bürger*innen, vor allem die Geflüchteten, als zu lösende Aufgabe, nicht als
apokalyptische Heimsuchung (wie die Rechtspopulisten) oder als schweres
Zeichen postkolonialer Rechthaberei (wie viele Linke). Sie wollen, dass
gelingt, was Kanzlerin Merkel mit ihrem „Wir schaffen das“ so lakonisch wie
anregend als Credo in die öffentliche Arena getragen hat.
Es sei keine „erbauliche“ Schrift, die sie schreiben wollten, sondern eine
„politische“. Keine Schaumschlägerei um „Fluchtursachen“, „Kapitalis…
oder „Schuldfragen“, also analytisch Scheinmuskuläres für Sonntagsreden.
Vielmehr verstehen sie ihren großen Text als pragmatisch und lösungs-,
mithin zukunftsorientiert. Ihre These: Jene, die kommen und kamen, werden
deutsch werden (müssen), also die neuen Deutschen, die bislang
Einheimischen werden sich auch ändern (müssen), sie sind in diesem Sinne
dann auch neue Deutsche. Woher sie ihre Zuversicht nehmen? Weil es, sehr
schön nachgewiesen in diesem Buch, historisch immer schon so war:
Deutschland war schon immer eine Migrationsgesellschaft – mit hohem
Integrationsvermögen.
Zu ihren Vorschlägen für das Alltägliche unterbreiten sie auch die kluge
Idee, dass keine Schulklasse einen höheren als einen 25-Prozent-Anteil an
migrantischen Kindern haben sollte, das verhindere die üblichen Probleme.
Wie man das löse, da es doch diese (klassen- und kultur-)gemischten Viertel
nur selten gäbe? Durcn Schulbusse. Wie in den USA. Na: Das wird die
elitebewussten Mittelschichten aber freuen, möchte man anfügen, vor allem
die grünen.
Nicht nur dieser Punkt überzeugt, auch dieser: Die Münklers finden, dass
der Kern, der den „beschwerlichen Weg“ ermöglichen kann, jener ist, den man
als Verfassungspatriotismus bezeichnen müsste. Die Verpflichtung, ähnlich
wie in den USA, aller auf den guten Zweck der solidarischen Anstrengung im
Namen der Nation.
Dass dies nicht als Hitlerei misszuverstehen ist, finden nur
bequem-internationalistische Linke nicht. Dass dieser Trick ein
Solidaritätstreiber der nichtvölkischen Inklusion wäre, entspricht der
Argumentation der Autor*innen sehr. Die Streitschrift der Saison,
optimistisch und ungemütlich zugleich. Jan Feddersen
Herfried und Marina Münkler: „Die neuen Deutschen“. Rowohlt Berlin, Berlin
2016, 338 Seiten, 19,95 Euro
Ach, Österreich!
Schon der Titel ist ein Seufzer. Und Armin Thurnher, Mitbegründer und
Herausgeber der Wiener Stadtzeitung Falter, verzweifelt immer wieder an der
österreichischen Realpolitik. Eigentlich wollte er ein Buch über die Medien
schreiben. Der Zsolnay Verlag hatte den Titel schon in der Werbung. Dann
kam Anfang Juli die Aufhebung der Bundespräsidentenstichwahl und Thurnher
sah sich veranlasst, sein Versprechen, kein Österreich-Buch mehr zu
schreiben, zu brechen.
Er ist angesichts der Umfragewerte der FPÖ und des möglichen Wahlsiegs des
FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer ehrlich besorgt über den
Vormarsch des Rechtspopulismus und dass gerade in Österreich eine Rechte an
die Macht kommt, „die man in Teilen als faschistisch bezeichnen kann“. Die
FPÖ habe die Defizite des Systems „beinhart für sich auszunutzen gewusst“,
komme gleichermaßen „bieder, elterntauglich und hetzerisch rüber“ und mei…
„mit einem gewissen Schuss Dämonie“.
Die ÖVP bleibt für Thurnher immer noch ein großes Rätsel: zerrissen von den
Interessen der Bünde, aus denen sie besteht, und immer wieder blockiert von
Querschüssen der mächtigen Landeshauptmänner, gelinge es ihr nicht, das
bürgerliche Profil anzunehmen, das sie eigentlich beanspruche. Ein
Vorabdruck dieses Kapitels provozierte den Zorn der Konservativen: Ein
Linker habe nicht das Recht, ihre Partei zu kritisieren. Vom Furor des
Autors bleibt aber auch die SPÖ nicht verschont: Gekettet an eine
ungeliebte Koalition mit der ÖVP habe sie ihre „inhaltliche und
organisatorische Schwachbrüstigkeit“ veranlasst, die Gunst der
Boulevardmedien zu erkaufen. Der Bevölkerung, die immer wieder den Nachweis
erbringe, dass sie nichts Besseres verdient habe als ebendiese politische
Klasse, wirft er Untertanenmentalität vor. An einer Stelle sogar
„Sklavenmentalität“, was er dann doch nicht so kategorisch nicht gemeint
haben will.
Auch der Verfassungsgerichtshof bekommt sein Fett ab. Denn, so hat sich der
Autor von befreundeten Juristen überzeugen lassen, die Aufhebung der
Stichwahl sei eine Fehlentscheidung gewesen. Und er resümiert, dass er
lieber in einem Staatswesen leben würde, „in dem saubere Gesetze bei Bedarf
etwas schlampig angewendet werden, als umgekehrt schlampige Gesetze auf
Punkt und Beistrich exekutiert“.
Ralf Leonhard
Armin Thurnher: „Ach, Österreich! Europäische Lektionen aus der
Alpenrepublik“. Zsolnay Verlag, Wien 2016, 176 Seiten, 16 Euro
Kein Nazi nirgends
Den ehemaligen stern-Reporter Niklas Frank hat das Thema NS sein Leben lang
verfolgt. Und das ist kein Wunder, denn als Sohn von Hans Frank, der
zwischen 1939 und 1945 Generalgouverneur von Polen war und 1946
hingerichtet wurde, konnte er seiner Vergangenheit nicht entfliehen, zu
monströs war für Niklas Frank die Tatsache, dass er von zwei Monstern
abstammte, die sich als Herrscher über „minderwertiges“ Leben und Tod
aufspielten.
Die meisten Kinder von NS-Prominenten haben die Schuld ihrer Eltern
relativiert und verdrängt. Niklas Frank hingegen hat schonungslos gegenüber
sich selbst seinen Hass auf seinen Vater publik gemacht. „Der Vater. Eine
Abrechnung“ hieß sein 1987 erschienenes und im stern vorabgedrucktes Buch,
das die Gesellschaft stark in Wallung geraten ließ und das ihm
wahrscheinlich mehr Anfeindungen einbrachte als seinem Vater, der als
„Schlächter von Polen“ bekannt wurde.
Immer wieder hat Niklas Frank mit unversöhnlicher Kritik des NS und seiner
Mitläufer das Trauma seiner Kindheit bearbeitet. Nachsehen muss man ihm,
dass er das nicht mit einem historisch-distanzierten Blick tun kann. Niklas
Frank hat in seinem neuen Buch, „Dunkle Seele feiges Maul. Wie skandalös
und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reinwaschen“, den Blick
auf das große Herausreden der Nazis gerichtet, und das Präsens im
Untertitel zeigt an, dass für Frank die Geschichte der „Feigheit“ nicht zu
Ende ist. Er sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Nazis, die
nicht zu dem standen, was sie getan hatten, und der geistigen Verfassung
der Täter, die Asylbewerberheime anzünden und ihre politische Heimat bei
der AfD gefunden haben.
3.660.648 Entnazifizierungsakten in den alten Bundesländern gibt es. Niklas
Frank hat in zahlreichen Archiven wahllos Akten durchgesehen und ist immer
auf dasselbe gestoßen: auf Dokumente der Niedertracht und Dummheit, die er
unermüdlich und mit großer Empörung kommentiert, obwohl sich der Schrecken
dadurch nicht steigern lässt.
Im schleswig-holsteinischen Landesarchiv sagte der Archivar: „Bei mir
werden Sie nur Widerständler finden“, denn als solche haben sich die
Deutschen in der Nachkriegszeit stilisiert. An dieser Einstellung sind
schon Kriegsreporterinnen wie Martha Gellhorn verzweifelt, denn nirgends
konnte sie auch nur einen Nazi entdecken. Die Dokumente sind aber auch von
unfreiwilliger Komik, wenn sich Belastete mit den absurdesten Argumenten
aus der Verantwortung stehlen wollen, so ähnlich wie das
Vernehmungsprotokoll von Adolf Eichmann, das Hannah Arendt gelesen hat und
dabei laut lachen musste.
Aber auf 584 Seiten ist die Lektüre deprimierend und kaum auszuhalten. Die
fremdenfeindlichen 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die hier in einen
Spiegel sehen könnten, werden das Buch kaum lesen, und es ist schade, dass
man sie nicht dazu verurteilen kann, diese Anklageschrift Wort für Wort zu
lesen, sie zu konfrontieren mit der jämmerlichen Wirklichkeit ihres
xenophobischen Daseins.
Klaus Bittermann
Niklas Frank: „Dunkle Seele, feiges Maul. Wie skandalös und komisch sich
die Deutschen beim Entnazifizierungsprozess reinwaschen“. Dietz Verlag,
Bonn 2016, 584 Seiten, 29,90 Euro
überstrahlt ihr eigenes Spiegelbild und zeigt sich stattdessen selbst −
entsprechend der verschiedenen Designs der Mattscheiben − in Formen, die
man unbedingt als Sonnenuntergänge interpretieren möchte.
Tatsächlich drängen uns kunsthistorisch überkommene Bildkonventionen zu
Natur und Landschaft, den Blitz als Sonne zu sehen, wobei seine Position
auf der Mattscheibe den jeweiligen Horizont definiert, während die
Landschaften durch die verschieden starke Biegung der Bildschirme
entstehen, deren mehr oder minder sauberen oder auch beschädigten
Oberflächen die Stimmung von Licht und Wetter beitragen. Traditionell
gerahmt durch das Gehäuse, von dem Comani feinsäuberlich die Markennamen
entfernt hat, geht die Sonne einmal im flirrenden Licht einer heftig
zerkratzten Mattscheibe unter, während sie ein anderes Mal makellos
strahlend auf einer blanken Mattschiebe versinkt. „Sunsets“ heißt die
Publikation, die die im Maßstab 1:2,5 verkleinerte Serie jetzt in einem
Band versammelt. In der originalen Installation (wie das Foto auf unserer
Doppelseite zeigt) hängen die einzelnen auf MDF-Platten aufgezogenen Bilder
höchst ironisch wie Flachbildschirme an der Wand. Brigitte Werneburg
Daniela Comani: „Sunsets. No. 217“ Edition Patrick Frey, Zürich 2016, 64
S., 30 Euro
## Zur Hölle fahren
Die Öffentlichkeit hatte John Fante schon fast vergessen, als Charles
Bukowski ihn Ende der 70er Jahre als literarische Vaterfigur in Beschlag
nahm und ihm dadurch immerhin den verdienten Nachruhm sicherte. „Little
Italy“, die bisher umfangreichste Sammlung seiner Short Storys, enthält vor
allem Arbeiten aus den 30ern, seiner stärksten Werkphase. Die Parallelen
zwischen den beiden sind offensichtlich. Auch Fante hat die Außenseiter und
Randständigen im Blick. Bei ihm sind es die italienischen Einwanderer, die
armen, streng katholischen Itaker, die an einem ziemlichen
Minderwertigkeitskomplex laborieren und den mit großer Fresse, Fäusten und
forciertem Machogehabe kompensieren müssen.
Der Titel „Littly Italy“ ist mehrdeutig. Fante lässt hier seine eigene
Kindheit in Colorada auferstehen. Die Erzähler sind kleine Jungs, die sich
nur wundern können über die geduldige Unterwürfigkeit der sich zuschanden
arbeitenden Mütter und die lauten, latent gewalttätigen Väter. Noch dazu
müssen sie ständig befürchten, zur Hölle zu fahren, weil der katholische
Tugendterror auch noch die letzten Freiräume ihres Alltags durchdringt. Die
kleinen Rebellionen, die sie trotzdem anzetteln, erfordern in diesem
repressiven System echten Heldenmut.
Fante ist ein großartiger Ethnograf seines Milieus, der auch unter der
kruden, plebejischen Schroffheit noch einen Glutkern von Zärtlichkeit
ausmachen kann. „Ich habe das tapfer wie ein Mann ertragen“, erzählt einer
von Fantes juvenilen Helden über seine letzte Prügelstrafe. „Der Grund war
einfach, ich wusste, dass er mein Vater war und mit der Prügelei aufhören
würde, bevor er mir zu wehtat. Er sagte immer wieder, er würde mich
totschlagen, aber er war mein Vater und konnte mich mit solchem Zeug nicht
erschrecken.“
Fante schreibe aus „dem Herzen und aus dem Gedärm“, hat ihm der dreckige
alte Mann attestiert. Ein größeres Lob gibt es von ihm nicht. Frank Schäfer
John Fante: „Little Italy“. Aus dem Englischen von Kurt Pohl und Rainer
Wehlen. Maro, Augsburg 2016. 367 Seiten, 20 Euro
## Jane Austens Frauenbilder
Was ist der Anreiz, sich einen Roman der Weltliteratur, den man vermutlich
schon vor Jahren gelesen hat, noch einmal vorlesen zu lassen? Kurze
Antwort: um die Geschichte noch einmal zu genießen. Eva Mattes’ ungekürzte
Lesung von „Überredung“ – dem letzten Roman, den Jane Austen 1816 ein Ja…
vor ihrem Tod vollendete, hier in der Übersetzung von Ursula und Christian
Grawe aus dem Jahr 1983 – verlockt zu einer ausführlicheren Antwort.
Der Roman handelt von Anne Elliott, einer 27-jährigen Landadeligen, die
acht Jahre zuvor von ihrer mütterlichen Freundin Lady Russell überredet
wurde, ihre Verlobung mit Frederick Wentworth zu lösen. Sie hat nie
aufgehört, den Marine-Offizier zu lieben. Als sie durch Zufall wieder
regelmäßig auf den inzwischen zum Captain avancierten Wentworth trifft,
brechen sorgsam verwahrte Gefühle wieder auf und frühere Entscheidungen
werden infrage gestellt.
Die gewählte Perspektive der gereiften jungen Frau gibt der ebenfalls
gereiften 39-jährigen Autorin Austen Gelegenheit, die Dinge distanziert zu
reflektieren. Nie ergeht Austen sich in Beschreibungen irgendwelcher
Dekors, die Erwähnung von Profanem erfolgt nur, um intellektuelle oder
charakterliche Defizite einer Figur zu illustrieren. Jane Austen bedient
sich dabei der Mittel beißender Satire, sprachlicher kleiner Spitzen, die
oftmals nur in Nebensätzen fallen. Und die Eva Mattes mit unerbittlicher
Bestimmtheit bei gleichzeitig zerbrechlicher Besonnenheit zum Klingen
bringt – und damit vor dem „Überlesen“ bewahrt.
Die für das frühe 19. Jahrhundert sehr emanzipatorische Zeichnung der
Frauenfiguren – die Admiralsgattin Mrs Croft begleitet ihren Mann auf See,
Anne Elliott ist der Inbegriff weiblicher Charakterfestigkeit –
unterstreicht Mattes mit lichter Eleganz, was die Hörer*innen zu weiterem
Nachdenken über gängige Frauenbilder bringt, damals wie heute.
Dass die Lesung so organisch ist, mag auch an Mattes’ Vertrautheit mit dem
Stoff liegen: Bereits 2010 hat sie für HörbuchHamburg eine gekürzte Fassung
der Übersetzung von Sabine Roth eingelesen.Sylvia Prahl
Jane Austen: „Überredung“. 8 CDs, 9 h 32 min., Argon Verlag, 2016
## Wunsch nach Frieden
Zu ihrer Zeit war Irmgard Keun eine der erfolgreichsten deutschen
SchriftstellerInnen. Als die Nazis ihre Literatur verboten, ging sie ins
Exil. Auf ihren 2016 wiederentdeckten Roman „Kind aller Länder“ folgte nun
die Neuauflage eines weiteren Keun-Klassikers. „Das Mädchen, mit dem die
Kinder nicht verkehren durften“ aus dem Jahr 1936 erzählt genau wie „Kind
aller Länder“ aus der Sicht einer Zehnjährigen.
Köln im Jahr 1918, zum Ende des Ersten Weltkriegs. Die namenlose
Protagonistin ist ein lebensfroher Quälgeist, der den Eltern und Lehrern
das Leben schwer macht. Fantasievoll eröffnet Keun eine Welt voller
Flausen. Vor trübenden Problemen bleibt allerdings auch ein Kind nicht
verschont. Denn da sind diese vielen Erwachsenen, vor denen kein Streich
sicher zu sein scheint. Den KlassenkameradInnen wird sogar der Umgang mit
der frechen Zehnjährigen untersagt. Mit den Nachbarskindern lässt sich
dennoch unbekümmert Unfug treiben.
Die Abgründe des Kriegsalltags und der folgenden Besatzung sind dennoch
deutlich spürbar: Mangel, Krankheiten und die Trauer um Gefallene. Die
bedrückenden Umstände sind nicht nur beängstigend, sondern lassen dem
Mädchen auch die absurdesten Lösungen einfallen. Soldaten werden zu
Spielkameraden, verlassene Häuser zu Abenteuerplätzen und das Stehlen der
Steckrüben zu einem spannenden Ausflug.
Der Roman begleitet die Ich-Erzählerin über drei Jahre, hinein in die
Pubertät. Keun kreiert unbeschwert scharfsinnig Begegnungen zwischen
Verstehen und Ungläubigkeit, Erwachsenwerden und Kindbleiben. Sie schreibt
mit einer ordentlichen Portion Naivität und Komik.
In ihrem ersten Exilroman spielt trotz aller Leichtigkeit der Wunsch nach
Frieden die zentrale Rolle. Genau 80 Jahre nach der Erstveröffentlichung
ist der Roman mit seinem kindlichen Erzählton immer noch genauso
erfrischend. Verena Krippner
Irmgard Keun: „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016, 208 Seiten, 16 Euro
## Optimistisch ungemütlich
Herfried und Marina Münklers Buch „Die neuen Deutschen“ ist im Untertitel
viel zu kühl mit „Ein Land vor seiner Zukunft“ bezeichnet. Der Clou der
Streitschrift steckt bereits in den Überschriften, denn beide diskutieren
die politischen und gesellschaftlichen Umstände, die neu eingewanderten
Bürger*innen, vor allem die Geflüchteten, als zu lösende Aufgabe, nicht als
apokalyptische Heimsuchung (wie die Rechtspopulisten) oder als schweres
Zeichen postkolonialer Rechthaberei (wie viele Linke). Sie wollen, dass
gelingt, was Kanzlerin Merkel mit ihrem „Wir schaffen das“ so lakonisch wie
anregend als Credo in die öffentliche Arena getragen hat.
Es sei keine „erbauliche“ Schrift, die sie schreiben wollten, sondern eine
„politische“. Keine Schaumschlägerei um „Fluchtursachen“, „Kapitalis…
oder „Schuldfragen“, also analytisch Scheinmuskuläres für Sonntagsreden.
Vielmehr verstehen sie ihren großen Text als pragmatisch und lösungs-,
mithin zukunftsorientiert. Ihre These: Jene, die kommen und kamen, werden
deutsch werden (müssen), also die neuen Deutschen, die bislang
Einheimischen werden sich auch ändern (müssen), sie sind in diesem Sinne
dann auch neue Deutsche. Woher sie ihre Zuversicht nehmen? Weil es, sehr
schön nachgewiesen in diesem Buch, historisch immer schon so war:
Deutschland war schon immer eine Migrationsgesellschaft – mit hohem
Integrationsvermögen.
Zu ihren Vorschlägen für das Alltägliche unterbreiten sie auch die kluge
Idee, dass keine Schulklasse einen höheren als einen 25-Prozent-Anteil an
migrantischen Kindern haben sollte, das verhindere die üblichen Probleme.
Wie man das löse, da es doch diese (klassen- und kultur-)gemischten Viertel
nur selten gäbe? Durcn Schulbusse. Wie in den USA. Na: Das wird die
elitebewussten Mittelschichten aber freuen, möchte man anfügen, vor allem
die grünen.
Nicht nur dieser Punkt überzeugt, auch dieser: Die Münklers finden, dass
der Kern, der den „beschwerlichen Weg“ ermöglichen kann, jener ist, den man
als Verfassungspatriotismus bezeichnen müsste. Die Verpflichtung, ähnlich
wie in den USA, aller auf den guten Zweck der solidarischen Anstrengung im
Namen der Nation.
Dass dies nicht als Hitlerei misszuverstehen ist, finden nur
bequem-internationalistische Linke nicht. Dass dieser Trick ein
Solidaritätstreiber der nichtvölkischen Inklusion wäre, entspricht der
Argumentation der Autor*innen sehr. Die Streitschrift der Saison,
optimistisch und ungemütlich zugleich. Jan Feddersen
Herfried und Marina Münkler: „Die neuen Deutschen“. Rowohlt Berlin, Berlin
2016, 338 Seiten, 19,95 Euro
## Ach, Österreich!
Schon der Titel ist ein Seufzer. Und Armin Thurnher, Mitbegründer und
Herausgeber der Wiener Stadtzeitung Falter, verzweifelt immer wieder an der
österreichischen Realpolitik. Eigentlich wollte er ein Buch über die Medien
schreiben. Der Zsolnay Verlag hatte den Titel schon in der Werbung. Dann
kam Anfang Juli die Aufhebung der Bundespräsidentenstichwahl und Thurnher
sah sich veranlasst, sein Versprechen, kein Österreich-Buch mehr zu
schreiben, zu brechen.
Er ist angesichts der Umfragewerte der FPÖ und des möglichen Wahlsiegs des
FPÖ-Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer ehrlich besorgt über den
Vormarsch des Rechtspopulismus und dass gerade in Österreich eine Rechte an
die Macht kommt, „die man in Teilen als faschistisch bezeichnen kann“. Die
FPÖ habe die Defizite des Systems „beinhart für sich auszunutzen gewusst“,
komme gleichermaßen „bieder, elterntauglich und hetzerisch rüber“ und mei…
„mit einem gewissen Schuss Dämonie“.
Die ÖVP bleibt für Thurnher immer noch ein großes Rätsel: zerrissen von den
Interessen der Bünde, aus denen sie besteht, und immer wieder blockiert von
Querschüssen der mächtigen Landeshauptmänner, gelinge es ihr nicht, das
bürgerliche Profil anzunehmen, das sie eigentlich beanspruche. Ein
Vorabdruck dieses Kapitels provozierte den Zorn der Konservativen: Ein
Linker habe nicht das Recht, ihre Partei zu kritisieren. Vom Furor des
Autors bleibt aber auch die SPÖ nicht verschont: Gekettet an eine
ungeliebte Koalition mit der ÖVP habe sie ihre „inhaltliche und
organisatorische Schwachbrüstigkeit“ veranlasst, die Gunst der
Boulevardmedien zu erkaufen. Der Bevölkerung, die immer wieder den Nachweis
erbringe, dass sie nichts Besseres verdient habe als ebendiese politische
Klasse, wirft er Untertanenmentalität vor. An einer Stelle sogar
„Sklavenmentalität“, was er dann doch nicht so kategorisch nicht gemeint
haben will.
Auch der Verfassungsgerichtshof bekommt sein Fett ab. Denn, so hat sich der
Autor von befreundeten Juristen überzeugen lassen, die Aufhebung der
Stichwahl sei eine Fehlentscheidung gewesen. Und er resümiert, dass er
lieber in einem Staatswesen leben würde, „in dem saubere Gesetze bei Bedarf
etwas schlampig angewendet werden, als umgekehrt schlampige Gesetze auf
Punkt und Beistrich exekutiert“.
Ralf Leonhard
Armin Thurnher: „Ach, Österreich! Europäische Lektionen aus der
Alpenrepublik“. Zsolnay Verlag, Wien 2016, 176 Seiten, 16 Euro
## Kein Nazi nirgends
Den ehemaligen stern-Reporter Niklas Frank hat das Thema NS sein Leben lang
verfolgt. Und das ist kein Wunder, denn als Sohn von Hans Frank, der
zwischen 1939 und 1945 Generalgouverneur von Polen war und 1946
hingerichtet wurde, konnte er seiner Vergangenheit nicht entfliehen, zu
monströs war für Niklas Frank die Tatsache, dass er von zwei Monstern
abstammte, die sich als Herrscher über „minderwertiges“ Leben und Tod
aufspielten.
Die meisten Kinder von NS-Prominenten haben die Schuld ihrer Eltern
relativiert und verdrängt. Niklas Frank hingegen hat schonungslos gegenüber
sich selbst seinen Hass auf seinen Vater publik gemacht. „Der Vater. Eine
Abrechnung“ hieß sein 1987 erschienenes und im stern vorabgedrucktes Buch,
das die Gesellschaft stark in Wallung geraten ließ und das ihm
wahrscheinlich mehr Anfeindungen einbrachte als seinem Vater, der als
„Schlächter von Polen“ bekannt wurde.
Immer wieder hat Niklas Frank mit unversöhnlicher Kritik des NS und seiner
Mitläufer das Trauma seiner Kindheit bearbeitet. Nachsehen muss man ihm,
dass er das nicht mit einem historisch-distanzierten Blick tun kann. Niklas
Frank hat in seinem neuen Buch, „Dunkle Seele feiges Maul. Wie skandalös
und komisch sich die Deutschen beim Entnazifizieren reinwaschen“, den Blick
auf das große Herausreden der Nazis gerichtet, und das Präsens im
Untertitel zeigt an, dass für Frank die Geschichte der „Feigheit“ nicht zu
Ende ist. Er sieht einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Nazis, die
nicht zu dem standen, was sie getan hatten, und der geistigen Verfassung
der Täter, die Asylbewerberheime anzünden und ihre politische Heimat bei
der AfD gefunden haben.
3.660.648 Entnazifizierungsakten in den alten Bundesländern gibt es. Niklas
Frank hat in zahlreichen Archiven wahllos Akten durchgesehen und ist immer
auf dasselbe gestoßen: auf Dokumente der Niedertracht und Dummheit, die er
unermüdlich und mit großer Empörung kommentiert, obwohl sich der Schrecken
dadurch nicht steigern lässt.
Im schleswig-holsteinischen Landesarchiv sagte der Archivar: „Bei mir
werden Sie nur Widerständler finden“, denn als solche haben sich die
Deutschen in der Nachkriegszeit stilisiert. An dieser Einstellung sind
schon Kriegsreporterinnen wie Martha Gellhorn verzweifelt, denn nirgends
konnte sie auch nur einen Nazi entdecken. Die Dokumente sind aber auch von
unfreiwilliger Komik, wenn sich Belastete mit den absurdesten Argumenten
aus der Verantwortung stehlen wollen, so ähnlich wie das
Vernehmungsprotokoll von Adolf Eichmann, das Hannah Arendt gelesen hat und
dabei laut lachen musste.
Aber auf 584 Seiten ist die Lektüre deprimierend und kaum auszuhalten. Die
fremdenfeindlichen 20 Prozent der deutschen Bevölkerung, die hier in einen
Spiegel sehen könnten, werden das Buch kaum lesen, und es ist schade, dass
man sie nicht dazu verurteilen kann, diese Anklageschrift Wort für Wort zu
lesen, sie zu konfrontieren mit der jämmerlichen Wirklichkeit ihres
xenophobischen Daseins.
Klaus Bittermann
Niklas Frank: „Dunkle Seele, feiges Maul. Wie skandalös und komisch sich
die Deutschen beim Entnazifizierungsprozess reinwaschen“. Dietz Verlag,
Bonn 2016, 584 Seiten, 29,90 Euro
18 Oct 2016
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
Klaus Bittermann
Ralf Leonhard
Frank Schäfer
Sylvia Prahl
Verena Krippner
Jan Feddersen
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