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# taz.de -- Wahlkampf um Parlamentssitz von Jo Cox: Eine Schauspielerin soll’…
> Für die Nachfolge der getöteten Abgeordneten schickt Labour eine
> TV-Aktrice ins Rennen. Außer ihr tritt nur noch die radikale Rechte an.
Bild: Zur Trauerfeier am Trafalgar Square kamen viele – wer wird ihre Nachfol…
BARTLEY taz | In die Haupteinkaufstraße von Batley, zwischen sandfarbener
Bibliothek und einer Kirche aus dem 19. Jahrhundert, verirren sich selbst
am Wochenende kaum Kunden. Aber 500 Meter weiter, vor dem neuen
24-Stunden-Riesensupermarkt Tesco mit Riesenparkplatz, herrscht Andrang.
Wie in so vielen englischen Ortschaften, ist auch in Batley die Innenstadt
verödet. Hier befand sich früher das Zentrum der Woll- und Textilindustrie
in West Yorkshire. Heute zählt die Region zu den ärmsten Englands.
Der Ort gehört zum Wahlkreis Batley and Spen von Jo Cox, die am 16. Juni,
kurz vor ihrem 42. Geburtstag, von einem Rechtsradikalen ermordet worden
war. Cox, Abgeordnete der Labour-Partei, wuchs hier auf und war beliebt.
Vor ihrer politischen Karriere hatte sie für die
Entwicklungshilfeorganisation Oxfam gearbeitet. Die rechtsradikale Szene
hasste sie, weil sie sich für Yorkshires Minderheiten und Muslime
eingesetzt hatte. Sie warb auch für den Verbleib in der EU. Ihr Wahlkreis
stimmte am Ende aber für den Brexit, ebenso wie ganz West Yorkshire.
Am 20. Oktober wird hier eine Nachfolgerin oder ein Nachfolger für den
vakant gewordenen Parlamentssitz gewählt. Ein Blick auf diese Wahl zeigt,
wie stark sich die politische Landschaft Großbritanniens inzwischen
verändert hat.
Zu den wenigen verbliebenen Einzelhandelsgeschäften von Batley gehört Maz
Decor, ein Laden für Heimwerkerwaren. Sein Besitzer, ein schlanker Mann um
die dreißig mit Jeans und schwarzer Lederjacke, lebt seit zehn Jahren im
Ort. Er stammt aus Pakistan – 37 Prozent der Bevölkerung hier stammen vom
indischen Subkontinent.
## Migranten unter sich
Batley sei ein guter Platz für Einwanderer, sagt er: Noch nie habe ihn
jemand hier beleidigt oder angepöbelt, „selbst wenn ich Kaftan und
Kopfbedeckung trage“. Die meisten Migranten hier lebten jedoch unter sich,
abgesondert vom Rest der Bevölkerung.
Vor 15 Jahren rebellierten im zwanzig Autominuten entfernten Bradford
Jugendliche aus Familien, die aus Asien und anderen Ländern außerhalb
Europas eingewandert waren. Ganze Straßen gingen damals in Flammen auf.
Ihre Wut verstand man als Ausdruck allgemeiner Frustration der erwachsen
gewordenen Migrantenkinder: über Diskriminierung und Rassismus im Alltag
und als Protest gegen die Aktivitäten von Neonazis.
Dass die Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen eher nebeneinander
als miteinander leben, wie Studien zeigen, hat sich seither kaum verändert.
So entstehen leicht böse Vorurteile und Gerüchte. Als in der Stadt
Rotherham im Jahr 2010 bekannt wurde, dass ein Prostitutionsring – Männer
vorwiegend pakistanischer Herkunft – minderjährige Mädchen in Kinderheimen
missbraucht hatten, drückten die Verantwortlichen bei Polizei und
Labour-Stadtverwaltung zunächst beide Augen zu. Daraufhin bezeichneten
ultrarechte Gruppen pauschal alle Muslime und Asiaten als Sexualverbrecher.
## Rasante Zunahme von Rassismus
Laut Tell Mama, einer britischen Organisation, welche islamfeindliche
Angriffe statistisch erfasst, haben rassistische Übergriffe – etwa auf
Taxifahrer pakistanischer Herkunft – seit dem Rotherham-Fall rasant
zugenommen.
Und dann, eine Woche vor dem britischen Brexit-Referendum im Juni, tötete
ein Mann aus dem rechtsradikalen Milieu im drei Kilometer von Batley
entfernten Bristall Jo Cox.
„Ja, ich kannte sie“, sagt der Besitzer von Maz Decor über die Politikerin,
die als Labour-Nachwuchshoffnung galt. „Sie war so freundlich und winkte
mir öfter zu. Einfach so, obwohl ich sie nicht persönlich kannte.“
Für die Nachwahl am kommenden Donnerstag haben Konservative,
Liberaldemokraten, Grüne, Sozialisten, ja sogar die „Unabhängigkeitspartei�…
Ukip aus Respekt vor Jo Cox auf eigene Kandidaten verzichtet. So dürfte die
Kandidatin der Labour-Partei, die 55-jährige TV-Schauspielerin Tracy
Brabin, eigentlich problemlos den Sitz ihres 110.000 WählerInnen starken
Landkreises gewinnen. Allerdings: Nicht alle haben auf die Gegenkandidatur
verzichtet. Acht Bewerber, davon fünf Angehörige extrem rechter Parteien,
treten ebenfalls an.
Wenige Tage vor der Abstimmung sortieren Labour-Mitglieder in ihrem
Ortsverein in der Stadt Checkheaton, die zum Wahlkreis gehört, ihre
Wahlkampfmaterialien. „Let’s stand together!“, fordern die Flugblätter u…
Plakate. Auf dem Fensterbrett neben der Eingangstür steht ein eingerahmtes
Foto einer lächelnden Jo Cox.
Nur wenige Schritte weiter wirbt ein ultrarechter Kandidat um die Stimmen
der Anwohner, „um weiße Frauen und englische Kultur vor muslimischen
Männern zu retten“.
## Politisches Desinteresse
Die Labour-GenossInnen glauben zwar nicht, dass die Ultrarechten bei den
Wahlen eine Chance haben. Als größte Herausforderung sehen sie aber
politisches Desinteresse. Sie hoffen, dass ihre Kandidatin Tracy Brabin die
Leute an die Wahlurnen bewegen kann: Man kennt Brabin in Großbritannien aus
dem weltweit erfolgreichen Film „The Full Monty“, der auf Deutsch als „Ga…
oder gar nicht“ in den Kinos lief. Vor allem gehört sie zu den Stars
beliebter Fernsehserien wie „Coronation Street“ und „East Enders“, wo s…
eine Arbeitslose und eine Zuhälterin spielt. Aber reicht das für den Sitz
im Parlament? Gegen Journalisten wird sie abgeschirmt.
In Batley, gegenüber dem Heimwerkerladen Maz Decor, steigen derweil ein
paar Leute aus einem schwarzen Kombi. Sie bauen einen Stand auf und stellen
nicht nur eine, sondern gleich acht Fahnen mit dem rotweißen Georgskreuz
der englischen Ultranationalisten auf. Dazu rote Banner, auf denen „England
First!“ steht. Es ist der Stand der Englischen Demokraten, zu deren
europäischen Verbündeten in Europa die serbische Obraz und die griechische
Goldene Morgenröte zählen.
Nur ein paar Journalisten scharen sich um die freundlich lächelnde
Kandidatin der Englischen Demokraten, Therese Hirst, geborene Muchewicz,
und den eloquenten 58-jährigen Parteivorsitzenden Robin Tilbrook.
Hirst sagt, die Labour-Kandidatin Brabin unterstütze den linken Labour-Chef
Corbyn und sei zudem für die EU. Allein deshalb müsse sie schon antreten,
um der Labour-Frau den Sitz streitig zu machen. Tilbrook fordert ein
eigenes Parlament für den englischen Teil des Königreiches – besser noch
die englische Unabhängigkeit, wenn Großbritannien erst aus der EU ist. Er
will auch ein fünfjähriges Moratorium für Einwanderung insgesamt.
## Ultrarechte Unterstützer
Der örtliche BBC-Korrespondent erzählt, dass er unter den Leuten bekannte
Gesichter aus der ultrarechten Szene erkennt, aus der auch der Mörder von
Jo Cox stammte.
Judith Greenwood, 64 Jahre alt, und Mohamed Navi, 47, beobachten das
Spektakel von der Bibliothek aus und sind gemeinsam entsetzt. „Dies ist
eine friedliche Gegend“, beteuern beide spontan. Navi erklärt: „Ich bin ein
Muslim und kann bestätigen, dass wir alle hier miteinander auskommen.“
Greenwood zitiert den berühmt gewordenen Spruch von Jo Cox. „Sie hätte
gesagt: Wir haben mehr gemeinsam als das, was uns trennt.“
„Britain First!“ soll der Mörder von Jo Cox geschrien haben – der Name d…
im Internet aktivsten rechtsradikalen Gruppierung in Großbritannien. Das
Klima im Land ist deutlich schärfer geworden: Viele Einwanderer aus der
Slowakei, aus Polen oder Nigeria ebenso wie viele Nachfahren der in den
1950er und 1960er Jahren als billige Arbeitskräfte geholten Südasiaten in
Batley berichten von rassistischen Sprüchen und der Aufforderung, „zurück
in ihr Land“ zu gehen.
Zuletzt machte im September der Angriff auf einen jungen Polen in Armley,
einem Viertel der benachbarten Metropole Leeds, landesweit Schlagzeilen.
Ikram Ahmed, dem in Armley ein indischer Schnellimbiss gehört, berichtet
von Jugendlichen, die „vor allem am Wochenende sinnlos in den dunklen Ecken
rumhängen“ und nicht wüssten, was sie mit sich anfangen sollen.
## Arm und ungebildet
Eine Lehrerin beobachtet, dass die Probleme bereits im Grundschulalter
entstehen. Den Schulen fehlten Personal und Ressourcen, um daran etwas zu
ändern. 34 Prozent der Bewohner West Yorkshires verfügen über keine oder
nur niedrigste Ausbildung. Das Durchschnittsgehalt und die Produktivität
sind hier im Vergleich zu ganz England am niedrigsten. Labour-Kandidatin
Tracy Brabin verspricht, sie werde sich für die bestmögliche Ausbildung
aller jungen Leute in ihrem Wahlkreis einsetzen.
Zugleich jedoch verdüstern sich die wirtschaftlichen Perspektiven. Der
Supermarktriese Tesco hat erklärt, er wolle sein Betriebsrentenloch von
umgerechnet 6,2 Milliarden Euro durch kürzere Öffnungszeiten reduzieren.
Das trifft auch 24-Stunden-Läden wie den in Batley. Schon jetzt wurde die
37-Stunden-Woche manch Angestellter auf 22 Stunden gesenkt, mit
entsprechender Lohneinbuße. Und das ist nur ein Beispiel für die schwierige
Situation auf dem örtlichen Arbeitsmarkt. Schon jetzt darf man gespannt
sein, wer in Yorkshire dafür als Nächstes zum Sündenbock gemacht wird.
18 Oct 2016
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
## TAGS
Jo Cox
Schwerpunkt Rassismus
Rechtsextremismus
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