# taz.de -- „Lebensschützer_innen“ in Deutschland: Rechts, christlich – … | |
> Dass Abtreibungen straflos bleiben, scheint unantastbar. Obwohl | |
> christliche Fundis und neue Rechte das deutsche Gesetz beständig in Frage | |
> stellen. | |
Bild: Auch beim „Marsch für das Leben“ gilt: Jeder nur ein Kreuz! | |
BERLIN taz | Die braunen Farbflecken am Hauseingang der Fehrbelliner Straße | |
99 im Prenzlauer Berg sind Kampfspuren. Sie verteilen sich über ein Fenster | |
und das Klingelschild: BVL, Geschäftsstelle. Der Bundesverband Lebensschutz | |
organisiert von hier aus jedes Jahr den „Marsch für das Leben – für ein | |
Europa ohne Abtreibung und Euthanasie“. | |
Der zu den Farbbeuteln gehörige Spruch „Eure Propaganda stinkt zum Himmel“ | |
ist mittlerweile verschwunden, stattdessen ruft ein Plakat zum diesjährigen | |
Marsch auf. Darauf hält ein Kind mit Trisomie 21 ein rotes Herz in den | |
Händen. Was daran soll Propaganda sein? | |
Gegenüber einer hippen Ausstellungshalle und zwei Gehminuten von „Chantal’s | |
House of Shame“ entfernt, bildet der Eingang des Pfarrhauses der | |
Herz-Jesu-Gemeinde ein Symbol mitten in Berlin – für einen Kampf, der am | |
kommenden Samstag wieder auf die Straße getragen wird. | |
Fundamentale Christ_innen, die sich „Lebensschützer_innen“ nennen, werden | |
schweigend marschieren; ein feministisches Bündnis wird versuchen, sie zu | |
blockieren. Beide Lager nehmen für sich in Anspruch, in den letzten Jahren | |
immer mehr Menschen zu mobilisieren. | |
## Stagnierende Zahlen | |
„Unserer Meinung nach waren bei dem Marsch im vergangenen Jahr nicht mehr | |
Leute dabei als im Jahr zuvor,“ kocht Ulli Jentsch jeglichen Alarmismus | |
herunter. Er sitzt im Küchenbereich des „apabiz“, kurz für: | |
Antifaschistisches Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin, das im vierten | |
Stock eines Hinterhofgebäudes in Berlin-Kreuzberg liegt. | |
Das apabiz sammelt seit 30 Jahren Medien zum Thema Rechtsextremismus, | |
darunter vor allem Primärquellen der rechten Szene. Über Forschungen zu | |
Antifeminismus in der extremen Rechten ist Ulli Jentsch 2008 erstmals auf | |
einem „Marsch für das Leben“ in Berlin gestoßen – und damit auf die | |
„Lebensschützer_innen“. | |
Der Berliner Marsch ist die größte in Deutschland stattfindende Versammlung | |
dieser Art. Etwa 5.000 Menschen folgten 2014 dem Aufmarsch, [1][2015 waren | |
es laut Jentsch nicht mehr]: „Wir haben dreimal nachgezählt.“ Die | |
Kernklientel der Bewegung sei schlicht ausgeschöpft. „Alles, was im Moment | |
gesamtgesellschaftlich diskutiert wird, dreht sich um Flüchtlinge oder | |
Terror. Da gibt es keine Anschlussmöglichkeit für | |
Anti-Abtreibungs-Politik.“ | |
Wenn es um den Einfluss der Bewegung geht, wird häufig auf eine sichtbare | |
Verbindung zur AfD hingewiesen. Im letzten Jahr lief die Berliner | |
Landesvorsitzende Beatrix von Storch in der ersten Reihe mit. Ist die AfD | |
die politische Heimat der christlichen Fundamentalist_innen? | |
## „Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene“ | |
„Der Einfluss ist geringer, als wir gedacht hätten,“ sagt Ulli Jentsch. | |
„Wir gehen vielmehr davon aus, dass ein Teil des Erfolges der | |
Lebensschutzbewegung, wie wir sie auf der Straße sehen, vor allem darin | |
liegt, sich parteipolitisch nicht festzulegen.“ Die große Frage sei dieses | |
Jahr deshalb, ob von Storch so kurz vor der Berlin-Wahl wieder an | |
vorderster Front mitmarschiert. | |
AfD und Lebensschutz Hand in Hand? Ein Interview mit der taz möchte Martin | |
Lohmann, Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Lebensrecht, nicht geben. | |
Auf seiner Facebook-Seite verkündet der rechtskatholische Publizist | |
allerdings rege: „Parteipolitiker sind selbstverständlich zur Teilnahme | |
eingeladen, werden aber nicht in der ersten Reihe mitgehen.“ So schadet die | |
AfD nicht dem Bild der „Lebensschützer_innen“, die möglichst harmlos | |
daherkommen wollen. Und diese wiederum schaden nicht der AfD, deren | |
Mitglieder aus doch recht diversen Zusammenhängen kommen. | |
Im Grundsatzprogramm der AfD steht, die Partei setze sich „für eine | |
Willkommenskultur für Neu- und Ungeborene“ ein. Diese Rhetorik findet sich | |
auch in Martin Lohmanns Rede, die er auf dem „Marsch für das Leben“ im | |
letzten Jahr gehalten hat. Ulli Jentsch vom Antifaschistischen Pressearchiv | |
meint dazu: „Diese Formulierung bildet ganz gut die Klammer für den Teil | |
des rechten politischen Spektrums, das die Lebensschutzfrage auch immer in | |
einem nationalistischen Kontext sieht. Nämlich mit der Frage: Bleibt unser | |
Volk erhalten?“ | |
Nach den Bedürfnissen der Frauen fragen dagegen | |
Schwangerschaftsberatungsstellen wie das Familienplanungszentrum Berlin. | |
Gegründet Anfang der 1990er im Osten Berlins von Ulrike Busch, die | |
mittlerweile zu Familienplanung und Beratung an der Universität Merseburg | |
forscht und lehrt. Busch weiß um die Strategien christlicher | |
Fundamentalist_innen. Etwa, den Druck auf Ärzt_innen zu erhöhen, weil sie | |
häufiger wegen des Verdachts auf Verstoß gegen Paragraf 219a angezeigt | |
werden. Dieser Paragraf verbietet die Werbung für einen | |
Schwangerschaftsabbruch. Radikale Lebensschützer_innen werten bereits | |
Beratungsangebote von nichtkonfessionellen Trägern oft auf diese Weise, | |
manchmal genügt aber auch die schlichte Angabe einer Ärztin, dass sie | |
Schwangerschaftsabbrüche vornimmt. Und jeder Anzeige wird nachgegangen. | |
## Angstmache | |
„Es breitet sich ein Klima aus, in dem man sich nicht bewegen möchte“, | |
fasst Ulrike Busch zusammen. „Paragraf 218 stellt nicht nur die Frauen | |
unter Strafe, sondern auch die durchführenden Ärzte befinden sich permanent | |
im Strafrechtskontext. Wenn gesellschaftliche Gruppierungen dies gut | |
benutzen und massiv nach vorn treiben, Ärzte anzeigen, auf ihren Homepages | |
als ‚Tötungsärzte‘ diffamieren, vor ihren Praxen Frauen mit sogenannten | |
‚Gehsteigberatungen‘ bedrängen, dann ist die ohnehin zu beobachtende | |
Zurückhaltung von Ärzten, Schwangerschaftsabbrüche anzubieten, noch viel | |
größer.“ | |
Um gerade unter angehenden Ärzt_innen aufzuklären, gründete sich vor einem | |
Jahr die Gruppe „Medical Students for Choice“ an der Berliner Charité. | |
Khiem Tran und Elisa Tackmann sitzen beim Gespräch auf der Wiese vor der | |
anatomischen Fakultät der Charité. | |
„Wir sind keine politische Gruppe, sondern leisten Bildungsarbeit“, sagt | |
Tran. Ihr Ansatz geht vor allem darum, die medizinische Ausbildung | |
vielfältiger zu gestalten. Tran, Tackmann und ihre Mitstreiter_innen wollen | |
auf lange Sicht das Kern-Curriculum um mehr Einheiten in Sachen Verhütung | |
und Schwangerschaftsabbruch erweitern. | |
## Vermeintliches Risiko | |
„Schwangerschaftsabbrüche sind einer der häufigsten Eingriffe in der | |
Gynäkologie“, erklärt Khiem Tran. „Etwa 100.000 Personen haben im letzten | |
Jahr einen durchführen lassen. Es ist seltsam, dass dieses Thema in der | |
Praxis so wichtig ist, in der Ausbildung aber nicht gelehrt wird.“ Tran | |
vermutet politische Gründe dahinter. Von Lebensschützer_innen, die in die | |
Ausbildung eingreifen wollen, haben die beiden bislang nichts mitbekommen. | |
„Viele Abtreibungsgegner_innen betonen immer die physischen und psychischen | |
Risiken von Schwangerschaftsabbrüchen“, sagt Tran. „Dabei sind legal | |
durchgeführte Abtreibungen unglaublich sicher. Das Risiko, bei einer | |
Lebendgeburt zu sterben, ist 14-mal höher als bei einer Abtreibung. Und | |
Frauen, die ein lebendes Kind gebären, haben ein 1,3-mal höheres Risiko, | |
psychische Probleme zu bekommen.“ | |
Fakt ist, dass Frauen, die ein behindertes Kind erwarten, sich eher für | |
einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden würden. Der Bundesverband | |
Lebensschutz wirbt nicht umsonst seit Jahren mit einem Kind mit Trisomie 21 | |
für seinen Marsch. Ob es aber bei einer entsprechenden Diagnose zu einem | |
Abbruch kommen kann, sei eine medizinische Indikation, meint Ulrike Busch, | |
die nur von einer Ärztin ausgestellt werden könne. Auch hier können | |
Abtreibungsgegner_innen mit ethischen Argumenten beeinflussen. | |
In den Gängen der anatomischen Fakultät der Charité ist es leer. Zwischen | |
den Schaukästen mit den anatomischen Präparaten stehen lange Tische, an | |
denen während des Semesters die Studierenden lernen. Hinten rechts sind die | |
Föten. In der zwölften Woche – da ist alles Äußerliche schon deutlich | |
vorhanden. Arme, Beine, Finger, Zehen, Kopf, Nase, Ohren. Bis dahin ist ein | |
Schwangerschaftsabbruch in Deutschland relativ unkompliziert. Wann fängt | |
menschliches Leben an? | |
## Pro Choice | |
Die „Lebensschützer_innen“ haben darauf eine einfache Antwort: mit der | |
Befruchtung der Eizelle. „Ich vertrete da schon die radikal liberale | |
Position: das sogenannte ungeborene Leben ist für mich | |
Schwangerschaftsgewebe, und die Frau entscheidet einzig und allein, ob sie | |
eine Schwangerschaft austragen möchte oder nicht“, setzt Medizinstudent | |
Tran dagegen. | |
„Wenn Lebensschützer meinen, das Leben beginne schon früher, dann können | |
sie das ja meinen. Aber wir denken, dass jeder die Wahl haben sollte – | |
deshalb sind wir pro choice,“ schließt Tackmann. | |
Das sind die Pole. Hier diejenigen, die für Wahlfreiheit sind, dort | |
diejenigen, die für den bedingungslosen „Schutz des ungeborenen Lebens“ | |
plädieren. Am Samstag werden beide Seiten wieder aufeinandertreffen und um | |
ein Thema kämpfen, das gesamtgesellschaftlich gerade kaum behandelt wird. | |
Wenn es aufkommt, emotionalisiert es dafür umso mehr. | |
14 Sep 2016 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Gottschalk | |
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