# taz.de -- Volksküche in Palermo: Muscheln, Milz und Muezzin | |
> Bei einer Streetfood Tour durch die Märkte von Palermo kann man | |
> unbekannte Genüsse der sizilianischen Küche entdecken. | |
Bild: Bunter Marktstand mit Leckerein in Palermo | |
Marco Romeo wartet vor der mittelalterlichen Porta Carini, gleich neben dem | |
Justizpalast. Sie ist für ihn das Wahrzeichen von Palermo. „Die Pforte | |
führt zum Herzen der Stadt, aber auch direkt zu ihrem Magen“, erklärt er | |
und rückt sich die Schirmmütze tiefer ins Gesicht. Denn die sizilianische | |
Sommersonne brennt schon morgens früh um neun. Dann taucht er ein in die | |
Welt, die sich hinter der antiken Stadtpforte öffnet. | |
Hier, auf dem Tagesmarkt des Stadtviertels Capo, bekommt man den besten | |
Fisch der Stadt. Es duftet aber nicht nur nach Meer, sondern auch nach | |
Koriander, Anis und wildem Fenchel. Der Markt wurde einst von den | |
arabischen Eroberern angelegt. Die Stimmen der Marktschreier vermischen | |
sich zu einem eintönigen Singsang, wie das Gebet des Muezzins. Unter bunten | |
Sonnenplanen preisen sie frische Mandeln, meterlange Zucchini und gekochte | |
Innereien an. | |
Marco steuert auf den ersten Fischstand zu, gleich rechts hinter dem | |
Eingang der Porta Carini. Auf dem Verkaufstisch liegen Sardinen und | |
Sardellen, Seeigel, Pfahl- und Venusmuscheln, Tintenfische, Garnelen, ein | |
riesiger Thunfisch und Seeteufel mit geöffnetem Maul. Marco begrüßt den | |
jungen Fischhändler mit Handschlag. „Giuseppe ist der begehrteste | |
Fischverkäufer der Stadt – nicht nur wegen der Fische“, sagt er und lacht. | |
Giuseppe und die Gemüsehändlerin vom Nachbarstand lachen mit. | |
Marco ist auf dem Markt zu Hause, er hat sich hier sozusagen selbst einen | |
Arbeitsplatz geschaffen. Der 34-Jährige hat Englisch, Arabisch und | |
Kommunikation studiert, aber wie viele junge Sizilianerinnen und Sizilianer | |
keinen Job gefunden. Dann kam ihm vor drei Jahren die Idee, nicht nur die | |
Freunde von auswärts, sondern auch andere Besucher durch die Märkte seiner | |
Stadt zu führen. Daraus entstand die [1][Streat Palermo Tour], bei der die | |
Highlights der Straßenküche getestet werden. Denn wie in vielen asiatischen | |
und arabischen Ländern haben kleine Gerichte, die direkt auf der Straße | |
gegart werden, in Palermo eine lange Tradition. „Die Geschäftsidee | |
funktioniert“, sagt Marco. Inzwischen hat er auch ein paar Kollegen, die | |
wie er mit kleinen Besuchergruppen durch die Märkte streifen. | |
## Von Sardinen und Sardellen | |
Heute will er bei Giuseppe Fisch kaufen. Es ist Samstagmorgen und am Abend | |
möchte seine Mutter im Strandhäuschen der Familie traditionelle | |
Sardinengerichte zubereiten. Die in großen Mengen gefischte Sardine ist der | |
wichtigste Fisch der palermitanischen Volksküche. Giuseppe legt Wert | |
darauf, dass niemand die Sardine mit der Sardelle, auch Anchovis oder | |
Acciuga genannt, verwechselt. „Es sind zwei unterschiedliche Fische“, sagt | |
er und legt sich zum Beweis eine silberglänzende Sardine mit Bauchwölbung | |
und eine dünnere blau schimmernde Sardelle auf die Hand. Marco lässt sich | |
drei Kilo Sardinen zurücklegen, die er später abholt. | |
Die nächste Etappe seiner Tour ist die Antica Drogheria der Geschwister | |
Dainotti. Bei Gabriele Dainotti findet man die typischen Gewürze und | |
Spezialitäten Siziliens: Fenchelsamen, Kapern, Safran, Salz aus Trapani, | |
Mandelpaste, getrocknete Tomaten, Linsen, Kichererbsen und | |
Kräutermischungen aller Art. Marco angelt sich aus dem unübersichtlichen | |
Angebot ein paar Tütchen mit einer Mischung aus Pinienkernen und Passoline, | |
wie die Sizilianer ihre kleinen Rosinen nennen. Die braucht seine Mutter | |
heute Abend für ihre „Pasta alle sarde“. | |
Gabriele packt die Tütchen für ihn ein. „Wir haben das Geschäft von unseren | |
Eltern übernommen, aber um zu überleben, müssen wir uns immer etwas Neues | |
einfallen lassen“, erzählt er. Deshalb organisieren er und seine Schwester | |
Arianna abends für Freunde und jüngere Kunden den Aperocapo, einen Aperitif | |
in seinem Laden und in der anliegenden Frittierstube seiner Schwester. „Bei | |
Arianna gibt es die besten Arancini Palermos“, behauptet Marco und lässt | |
sich sofort eines der frittierten Reisbällchen in Papier wickeln. Arancini | |
gefüllt mit Hackfleisch und Tomatensauce gehören zu den | |
Streetfood-Spezialitäten der Stadt, aber auch die knusprigen Panelle, | |
kleine Kichererbsenfladen, und Kartoffelkroketten, Cazzilli genannt. | |
Auf dem Markt ist es so voll, dass man sich kaum noch einen Weg bahnen | |
kann. Nach den Lebensmittelständen wird es ruhiger. Hier beginnt der zweite | |
Teil des Marktes, wo – wie im arabischen Souk – Stoffe, Kleider, Schuhe und | |
Spitzenfächer verkauft werden. | |
## Fast wie in Kairo | |
Auf den Klingelschildern der bröselnden Häuserfassaden stehen afrikanische | |
und arabische Namen. „Ich habe ein Jahr in Kairo gelebt und mich ziemlich | |
wohlgefühlt, denn das Alltagsleben dort unterscheidet sich nicht sehr von | |
dem in Palermo“, erzählt Marco. | |
Aber seine Stadt ist nicht nur von der arabischen Kultur geprägt, auch | |
Normannen, Staufer, spanische und französische Adelshäuser und englische | |
Industrielle haben ihre Spuren hinterlassen. Die | |
normannisch-arabisch-byzantinische Kunst Palermos wurde im Jahr 2015 von | |
der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. | |
In der Kathedrale ruht Stauferkönig Friedrich II., der vor fast 1.000 | |
Jahren den Norden und den Süden Europas vereint hatte. Nicht nur die | |
Palermitaner, auch viele deutsche Touristen legen eine Rose vor seinen | |
Steinsarg. Auch die Stadtheilige Santa Rosalia, der die meisten der | |
barocken Kirchen gewidmet sind, ist blond – wie der verehrte Imperator. | |
Deshalb fassen die Kinder Palermos gern blonden Frauen an den Kopf und | |
hoffen, dass ein Engelshaar hängen bleibt. | |
Doch trotz allem Schönen zum Schauen bleibt Palermo die Stadt der Märkte. | |
„Sie sind der Mittelpunkt des Lebens und alle Kulturen vermischen sich | |
hier“, sagt Marco. Deshalb schlägt er auch einen Abstecher zum Mercato | |
Vucciria, nahe dem Touristenhafen La Cala, vor. Der einst berühmteste der | |
palermitanischen Märkte ist heute fest in der Hand der Souvenirhändler, die | |
oft von der Mafia kontrolliert und beliefert werden. Dennoch lohnt sich ein | |
Abstecher zur Taverna Azzurra, wo man bei dem netten Onkel Totò ein Glas | |
Marsala oder Sangue, den blutroten sizilianischen Likörwein, eingeschenkt | |
bekommt. | |
Wie Zio Totò zeugen auch die Fischhändler an der Piazza Caracciolo noch vom | |
einstigen Ruhm des Marktes. Bei Andrea La Vattiata bekommt man täglich | |
fangfrischen Fisch aller Art. Seine Kinder wollen den Job nicht mehr | |
machen. Auch die alten Kunden werden rar. Viele ziehen in die neuen | |
Mietshäuser am Stadtrand. „Sie kaufen jetzt im Supermarkt“, sagt er. | |
## Milzscheiben auf dem Brötchen | |
Wer Tintenfischtentakeln nicht mag, kann sich am Ausgang der Piazza bei | |
Giuseppe Basile ein Brötchen mit Meusa – gekochte und mit Zitrone | |
beträufelte Milzscheiben – belegen lassen oder gleich daneben bei Nino | |
Ragusa in Olivenöl eingelegte Sardinen für zu Hause mitnehmen. | |
Wahrscheinlich wird es Giuseppe und Nino schon bald nicht mehr geben. Aber | |
auch die Mafiafolklore und die dickbäuchigen Männer, die an allen Ecken der | |
Märkte herumhocken und misstrauisch dreinblicken, haben keine große Zukunft | |
mehr. Das neue Mafiageschäft ist der Massentourismus, vor allem Souvenirs, | |
Stadtrundfahrten und Touristentaxis. | |
Viele Wohnungen am Vucciria-Markt werden inzwischen an junge Reisegäste | |
vermietet. Und Onkel Totò überlässt seine Bar abends seinen Söhnen. Die | |
fahren auf mit DJ Jet und Subwoofer. Das sizilianische Blut des alten | |
Onkels wird zu Wodka Lemon. | |
Für Marco ist das in Ordnung. „Die Märkte haben endlich ein Nachtleben“, | |
sagt er. Aber zu Totò kommt er mit seinen Gästen lieber tagsüber – solang | |
es ihn und seine Likörflaschen noch gibt. | |
18 Sep 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.streatpalermo.it/en | |
## AUTOREN | |
Michaela Namuth | |
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