# taz.de -- Design-Ausstellung in Leipzig: Poesie aus Glas | |
> Feines Gespür für Effekte, ausgeprägtes Interesse an der Natur: Eine | |
> Schau würdigt den finnischen Jahrhundertgestalter Tapio Wirkkala. | |
Bild: Ein Teil der Ausstellung im Grassi-Museum | |
Transparent, klar, elegant. Auf den ersten Blick wirkt das filigrane | |
Glasstück mit dem eingravierten Rillenmuster wie ein Prototyp dessen, was | |
gemeinhin unter „skandinavischem Design“ gehandelt wird. Wenn dieser | |
gebogene Rand nicht wäre. Wer das zerbrechliche Objekt genauer ansieht, | |
merkt, dass es einem Pilz mit seinen Lamellen ähnelt. Und mehr als die Vase | |
für den täglichen Gebrauch, als die es gedacht war, hatte es etwas von | |
einer genuinen Skulptur – mehr als bloß ein Stück Glas. | |
Mit „Kantarelli“, dem finnischen Wort für Pfifferling, begann der Aufstieg | |
eines Mannes aus dem europäischen Norden, der zu einem der führenden | |
Formgestalter der Alten Welt avancieren sollte. Im Jahr 1946 hatte sich der | |
damals 31-jährige Kunstschnitzer und Bildhauer Tapio Wirkkala mit dem | |
Entwurf bei einem Wettbewerb der Glasfirma Ittala teilgenommen. Prompt | |
bekam er eine Anstellung als Designer. | |
Zur Mailänder Triennale 1951 widmete die italienische Design-Zeitschrift | |
Domus Wirkkalas gläsernem Pfifferling mehrere Seiten: Ein Mythos war | |
geboren. Auch wenn die Serienproduktion der Vase später etwas | |
standardisierter ausfiel als das limitierte Stück, wurde „Kantarelli“ zur | |
Ikone. Im Leipziger Grassi-Museum kann man dies nun bewundern. | |
Die großartige Ausstellung, die zum ersten Mal in diesem Umfang das Wirken | |
des legendären Gestalters aufblättert, konzentriert sich auf dessen Glas- | |
und Silberarbeiten. Zum Glück. In Deutschland war Wirkkala in den sechziger | |
Jahren durch sein berühmtes Schwarz-Weiß-Porzellan-Service „Variation“ | |
bekannt, das er für die bayerische Firma Rosenthal entworfen hatte. Doch | |
nirgendwo anders konnte man die identitätsbildende Funktion des Designs | |
besser ablesen als an seinen Glasarbeiten. | |
Wirkkala näherte sich dem Werkstoff Kunstglas als Bildhauer mit Gespür für | |
expressive Effekte und dem Interesse an der Natur. Ob er eine funktionslose | |
Arbeit „Baumstumpf“ nannte oder einen schweren Aschenbecher mit wuchtigen | |
Kanten „Eissplitter“. Die biomorphen Formen, die er bevorzugte, hatte schon | |
der Architekt Alvar Aalto zum Markenkern der skandinavischen Antwort auf | |
den Bauhaus-Funktionalismus gemacht. | |
Unter Wirkkala gewann das, was Fachleute die „Organische Moderne“ nennen, | |
seine sichtbarste Gestalt. Seine Arbeiten riefen die Natur zwar erkennbar | |
auf, abstrahierten sie aber zugleich zu einem Symbol ihrer selbst. Und | |
immer changierten seine Objekte zwischen Gebrauchsobjekt und Kunst. | |
## Idee des Nordens | |
Dabei transportierte der „Poet in Glas und Silber“ (Heiki Mathiskainen) | |
Mythen, er erschuf sie aber auch. Mal gravierte er Szenen und Motive aus | |
der nordischen Mythologie, dem Alltag (Sauna) oder der Fauna (Elche) im | |
Diamantriss auf dickwandige Glasstücke, mal arbeitete er mit der | |
organischen Harmonie der schlichten Form, wie in der silbernen „Tulpenvase“ | |
von 1954. | |
Mit diesem Stil formulierte er so etwas wie regionale Identität: die Idee | |
des Nordens. Auf einen ästhetischen Nationalisten lässt er sich dennoch | |
nicht verkürzen. Der Mann mit dem wilden Haarschopf und dem Bart, der in | |
Amerika und Italien arbeitete, war „Uomo naturale“ und kosmopolitischer | |
Modernist. | |
„Design und Verbrechen“ nannte der amerikanische Kunstkritiker Hal Foster | |
vor ein paar Jahren seine Abrechnung mit dem Design, das in der Postmoderne | |
mehr noch als im Jugendstil dazu beitrage, „Produktion und Konsum in einem | |
fast perfekten Kreis zu verbinden“. Auch gegen Wirkkala ließe sich | |
einwenden, dass bei ihm die Ästhetik über der Funktion stand. Mit | |
veritablem Effekt: Das von ihm mit „erfundene“, skandinavische Design, das | |
wir heute in der Schwundform Ikea beklagen, begründete den wirtschaftlichen | |
Wiederaufstieg Finnlands nach dem Zweiten Weltkrieg. | |
Dennoch lässt sich der Mann auch als Vorläufer eines ökologischen | |
Bewusstseins deuten. Nicht nur, weil er seine Formen, wie die von der | |
US-Zeitschrift House Beautiful 1951 zum „Schönsten Objekt des Jahres“ | |
gewählte „Blattschale“ aus laminiertem Schichtholz, der Welt der | |
natürlichen Dinge abgewann. Sondern auch, weil er deren Werte | |
internalisierte: Als er 1958 seinen Zweitwohnsitz in Lappland nahm, baute | |
er die Blockhütte für seine Familie an dem Fluss Lemmenjoki nach dem | |
Vorbild der indigenen Bauern. | |
Hier ging er angeln, traf sich mit den Einheimischen, schnitzte Vögel in | |
Holz. „Die Natur ist hier in jedem Detail so eindringlich präsent, überall | |
atmende Legende, dass man sich scheut, ihr irgendeinen Namen zu geben“, | |
beschrieb er einmal seinen Dialog mit der Natur. „In der Einsamkeit wächst | |
die Fantasie, und es wäre dumm, sie zu zerstören.“ | |
31 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
## TAGS | |
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