| # taz.de -- Fehlstart-Regel bei Olympia: Und raus bist du! | |
| > Seit 2010 dürften sich Sprinter keinen Fehlstart mehr erlauben. Eine | |
| > herzlose, kalte, unfaire Arschlochregel – oder? Ein Pro & Contra. | |
| Bild: Nope. Fehlstart. Tschö. | |
| Pro | |
| Wer nichts fühlt, wenn ein olympischer Athlet oder eine Athletin nach einem | |
| Fehlstart disqualifiziert ist, ertränkt auch kleine Katzen, weil die zu | |
| viel miauen, und schubst Omas auf die Straße, weil die nicht schnell genug | |
| vorwärts kommen. Die Regel, dass sich kein Fehlstart erlauben darf, wer als | |
| Topsprinter die olympische Bahn betreten will, ist herzlos, seelenlos, | |
| kalt, unmenschlich, unfair. | |
| Die unerbittliche, gnadenlose, barbarische Keinfehlstartisterlaubtregel | |
| hat nichts mit Fairness zu tun. Aber sehr viel mit ideologischen | |
| Motivationen, den Menschen aus dem Athleten zu holen. Man kann aber | |
| vielleicht einen Athleten aus dem Menschen holen, aber keinen Menschen aus | |
| dem Athleten. | |
| Wer die rabiate Fehlstartregel gut findet, muss sich dem Verdacht | |
| aussetzen, sittenstrenger als der deutsche, protofaschistische | |
| Protestantismus zu sein, den Michael Haneke in seinem atemberaubenden Film | |
| „Das weiße Band“ aufs Erschütterndste porträtiert hat. | |
| Jede Demütigung bereitet den Boden zur Radikalisierung. Und nach einem | |
| einzigen Fehlstart disqualifiziert zu werden und vor den Augen der ganzen | |
| Welt das Stadion verlassen zu müssen, ist eine einzige, traumatisierende | |
| Demütigung. | |
| Warum darf ein Diskuswerfer, eine Speerwerferin sechsmal versuchen, das | |
| Beste aus sich rauszuholen? Und sich dabei auch noch ungültige Versuche | |
| leisten? | |
| Wer den Sprintern hinterherruft: „Fehlstart: raus!“, müsste auch fordern, | |
| dass jeder Weit-, Hoch-, oder Stabhochspringer bei jedem Fehlversuch | |
| unverzüglich disqualifiziert wird. | |
| So konsequent denken aber die Ideologen der Perfektion nicht. Der Fehlstart | |
| eines Sprinters ist für sie schlimmer als ein dreifach gedopter | |
| Hammerwerfer. Er gehört für sie in die Kategorie Topterrorist. Die | |
| Ideologen der Unfehlbarkeit stellen sich die Welt des Sports so vor wie der | |
| Pastor in Hanekes Film: Auf ein Fehlverhalten kommen zehn Peitschenhiebe. | |
| von Doris Akrap | |
| *** | |
| Contra | |
| Die scharfen Fehlstartregeln gibt es zu Recht. Falsch ist es, dass sie beim | |
| leichtathletischen Zehnkampf nicht gelten, in dieser Disziplin man sich | |
| einen Laufauftakt vor der Zeit erlauben darf. | |
| Unfug. Auch dort sollte gelten, dass, wer vor dem Schuss losrennt, aus dem | |
| Rennen genommen wird. Wer einwendet, dass auf diese Weise ein Athlet | |
| insgesamt in diesem Wettbewerb keine Chance mehr hat, verwechselt | |
| sozialpädagogische Nachsicht mit den Realitäten einer Konkurrenz. | |
| Fehlstarter nämlich betrügen. Sie wollen sich einen unlauteren, ja, | |
| illegalen Vorteil den anderen gegenüber verschaffen. Einer wie Usain Bolt | |
| hat das inzwischen eingesehen: Seit 2011, als er in Daegu im | |
| 100-Meter-Finale in den Startknall hineinfiel und also wieder in die | |
| Katakomben des Stadion zurückmusste, ohne Lauf, hat er gelernt. | |
| Seither gilt der Jamaikaner als langsamer Starter – und gewinnt. Er ist | |
| sich seiner athletischen Mittel sicher und hat es nicht nötig, sich einen | |
| Vorteil zu erschummeln. Auch deshalb nicht, weil er die Zermürbung der | |
| Gegner durch Fehlstarts nicht nötig hat. Er ist einfach viel zu gut. Die | |
| anderen hingegen griffen einst gern auf dieses Mittel zurück, um die | |
| Konkurrenz zu enervieren. | |
| Einen Fehlstart zu befürworten, mag – menschelnd gesehen – sympathisch | |
| scheinen. Diese Haltung ist freilich neoliberal, durch und durch. Man redet | |
| über die Trottel der Fehlstartära (Jürgen Hingsen, der den sowieso | |
| stärkeren Daley Thompson ohne kleine Vorteilsnahmen nie kleinkriegte), aber | |
| man darf kein Verständnis für ihre angebliche Nervosität haben, sondern für | |
| das Ansinnen, gegen den korrekten Startzeitpunkt (Schuss!, Knall!, | |
| Kommando!) loszurennen. Das ist so ungerecht, als würden gewissen | |
| Börsianern vor der Handelszeit Vorteile eingeräumt. | |
| Auch wenn es hart klingt, so ist dieses Urteil doch eines im Sinne | |
| olympischer und sportglobaler Gerechtigkeit – und welcher Linke möchte sich | |
| diesem Anspruch widersetzen? | |
| von Jan Feddersen | |
| 20 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Doris Akrap | |
| Jan Feddersen | |
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