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# taz.de -- Debatte Reaktion der SPD auf Petra Hinz: Ekel vor dem Proletariat
> Der Fall der Bundestagsabgeordneten und Hochstaplerin Petra Hinz zeigt,
> wie die Akademisierung die SPD innerlich vergiftet und politisch
> ruiniert.
Bild: Pfui! In „The Secret Life of Kathy McCormick“ von 1988 findet Grant (…
Die Essener Sozialdemokratin Petra Hinz, so wurde ruchbar, hat es mit
falschen biografischen Angaben zur Bundestagsabgeordneten gebracht. Viele
Details sind inzwischen bekannt geworden, ihre Anwälte schreiben: „In der
Rückschau vermag es Frau Hinz nicht zu erkennen, welche Gründe sie
seinerzeit veranlasst haben, mit der falschen Angabe über ihren
Schulabschluss den Grundstein zu legen für weitere unzutreffende
Behauptungen über ihre juristische Ausbildung und Tätigkeit.“
Ein Armutszeugnis, das trist die anwaltlich zu Schützende der
Lächerlichkeit preisgibt: Als ob Politiker*innen je aus dem Blick verlören,
was über sie gesagt und notiert wird, zumal auf einer offiziellen Seite.
Zusammengefasst verhält es sich jedenfalls so: Die Frau aus dem Ruhrpott
mit Wahlkreis im feineren Teil von Essen hat weder Abitur noch einen
Universitätsabschluss, noch ist sie Juristin. Mittlerweile hat sie, die
inzwischen 54-jährige Frau, all ihre Parteiämter niedergelegt, nicht jedoch
auf ihr Mandat verzichtet. Innerhalb der sozialdemokratischen Spitzenkreise
wird vermutet, dass sie dies auch nicht tun wird. Denn, realistisch
gesprochen: Was hätte sie davon? Weshalb sollte sie nicht noch dieses eine
Jahr bis zur nächsten Wahl auf ihre Vergütung verzichten?
Denn nach der nächsten Bundestagswahl wird sie keine Abgeordnete mehr sein.
Es gibt in ihrer Partei, der sie seit ihrem 17. Lebensjahr angehört,
niemanden, der für sie die Stimme erhebt. Kein Funktionär, der sich erbarmt
und sagt, dass „die Petra“ einen guten Job gemacht hat und dass es nicht so
schlimm sei, den eigenen Lebenslauf wie ein Emporkömmling ohne bürgerliche
Qualifikationszeichen aufzurüschen.
Die Geschichte gibt zu denken. In der Tat soll Petra Hinz als Chefin ihres
Mitarbeiterstabs eine Pest gewesen sein. Eine Verschleißerin, Cholerikerin
und Despotin. „Wenn Schiet wat ward“, hieß das früher im norddeutschen
Arbeiterplatt, „wenn Scheiße was wird“. Wenn der Prolet einen auf Boss
macht und tyrannischer als ein gelernter Chef wird. Aber weder die
biografische Aufjazzung noch die Umgangsweisen als Vorgesetzte stehen
unter Strafe.
Tyrannische Charakterzüge mögen verdrießlich stimmen – aber moralisch
hochfahrend? Was also erzürnt die Genossen in ihrer Partei – von
Oberfunktionären ihres Essener Parteizweigs bis hin zu Parteispitzen, die
allerdings nicht zitiert werden wollen – derart, dass sie zur Aussätzigen
wurde? Ihre Chefinnenallüren stehen nicht in der Kritik. Nur dass sie sich
als, nach bürgerlichen Kriterien, mehr ausgab, als sie ist. Und das soll
strafbar sein? Moralisch verwerflich? Vielleicht.
## Zur Selbstreflexion unfähig
Aber müsste die Sozialdemokratie nicht ganz anders mit ihr und ihrem
(buchstäblichen) Fall umgehen? Tatsächlich wäre die Causa Petra Hinz Anlass
für eine sozialdemokratische Selbstreflexion. Etwa zur Frage: Wie konnte es
so weit kommen, dass eine Sozialdemokratin glaubt, sich für eine
parteipolitische Karriere eine akademische Biografie zulegen zu müssen? Es
sagt viel über die einst von der Arbeiterbewegung geprägte Partei aus, wenn
heute so gut wie alle Mandatsträger*innen einen Universitätsabschluss
vorweisen können.
In der bekennend bürgerlichen FDP mag das ein Standard sein, aber in der
SPD? Ist dieser Partei die sozial begründete Scham nicht mehr bewusst, die
inzwischen alle innerlich vergiftet, die sich keines Masters oder Doktors
versichert haben? Ist das Klima in dieser Partei schon so weit vergammelt,
dass Personen, die nicht in mittelschichtigen Sphären aufgewachsen sind,
sich nicht mehr trauen zu sagen: Ich bin Postbote (und Personalrat)! Oder:
Ich bin Supermarktkassiererin (und Betriebsrätin)!
In diesem Sinne müsste der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, gelernter
Buchhändler, fast schon als Freak gelten: kein Jurastudium, keine
Institutionenkarriere wie etwa in einer Gewerkschaft, nicht einmal ein
Abschluss als Politikwissenschaftler*in.
Der Fall Hinz verweist erst in zweiter Linie auf die Not einer Politikerin,
die sich an ihr Mandat klammert, weil sie nichts anderes gelernt hat, als
sich in Gremien durchzusetzen und das politische Leben mit zu verwalten. In
erster Linie zeigt es jedoch die Abgründe einer Partei, die
sozialdemokratische Traditionen bei Festlichkeiten beschwört und in
Sommerinterviews herauskehrt wie gerade erst Parteichef Sigmar Gabriel,
aber im Alltag mit dem Pöbel weder Kontakt haben noch sich für ihn
verwenden will.
## Die eigene Herkunft verraten
Als der gelernte Elektromechaniker Kurt Beck, Sohn eines Maurers und einer
Hausfrau, erfolgreicher Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, 2008 von
seinem Amt als SPD-Chef zurücktrat, war dies auch einem Parteiumfeld zu
verdanken, das ihm nicht verzeihen wollte, sich nicht höherer Kultur,
smarteren Umgangsformen und dem Berliner Sprech der Lachshäppchenempfänge
verpflichtet zu fühlen. Er war, wie sein pfälzischer Amtsvorgänger Helmut
Kohl, habituell mehr Saumagen als Canapé – und damit ziemlich erfolgreich.
Man anerkannte ihn nicht in den innersten Zirkeln der Partei, weil er immer
wie Provinz wirkte, nicht so weltläufig wie Frank-Walter Steinmeier, der im
Übrigen statt Beck Kanzlerkandidat 2009 wurde und wie auch vier Jahre
darauf Peer Steinbrück mit dem SPD-Resultat düpiert wurde: Die Stimmen der
Unterprivilegierten, der politischen Kundschaft jenseits der akademisierten
SPD-Kreise waren verloren.
Dass es jetzt aus der Essener SPD heißt, Hinz, die Hochstaplerin, möge auf
ihr Mandat verzichten, schließlich gebe es ihretwegen Parteiaustritte, ist
nichts als eine Behauptung. Gut möglich, dass sich jetzt schon eine*r, der
(oder die) nach ihr gern den Rest der Legislaturperiode das Mandat
übernähme, mit den Hufen scharrt.
Dabei muss doch klar sein: Wenn die Abgeordnete nicht verzichtet, kann sie
auch nichts zwingen. Also: Weshalb sollte sie? Sie hat nichts mehr zu
verlieren. Statt sich moralisch aufzuspielen, sollte die SPD ihren eigenen
politischen Irrweg erkennen und Hinz fragen, ob sie nicht für eine weitere
Wahlperiode kandidieren will – unter der Voraussetzung natürlich, künftig
mit ihren Mitarbeiterstäben solidarischer, jedenfalls, wenn stimmt, was
kolportiert wird, weniger despotisch umzugehen.
9 Aug 2016
## AUTOREN
Jan Feddersen
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Bundestag
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