# taz.de -- Gert Postel analysiert einen Hochstapler: Der falsche Traumschiff-A… | |
> Drei Jahre Haft: Am Montag fiel das Urteil über einen Krankenpfleger, der | |
> sich als Aida-Schiffsdoktor ausgab. Eine Analyse aus echter Expertenhand. | |
Bild: Was hat er Böses getan? Niemand ist gestorben | |
Vor gut 100 Jahren schrieb Hugo von Hofmannsthal sein Gedicht „der | |
Schiffskoch, ein Gefangener, singt“. Die Berliner Öffentlichkeit | |
beschäftigt sich seit Wochen nicht mit einem Schiffskoch, sondern mit einem | |
Schiffsarzt. Auch der ist gefangen und auch er „singt“, allerdings nicht | |
allein in seiner Zelle, sondern vor dem Landgericht Berlin. Ob man seinem | |
Gesang trauen darf, das ist hier die Frage. | |
Denn er ist gar kein richtiger Arzt, sondern ein Krankenpfleger aus Stendal | |
im Sachsen-Anhaltinischen. Vor fünf Jahren beschloss er, sein Dasein als | |
Krankenpfleger sei seinen wirklichen Talenten nicht angemessen. Er fälschte | |
Zeugnisse, Promotions- und Approbationsurkunden (copy and paste) und bewarb | |
sich als Facharzt für Anästhesie in der Bundeshauptstadt. | |
Sein Motiv war nicht etwa Geld oder Status. Nein, er wollte „nur“ helfen. | |
Er war als Anästhesist bei ambulanten Operationen tätig, dann bei den | |
Organtransplanteuren, allerdings in der ungefährlicheren Abteilung für | |
Organbeschaffung, quasi der Fleischerei dieser insgesamt hochprofitablen | |
Unternehmung, und schließlich als Schiffsarzt auf einem Kreuzfahrtschiff | |
der Aida-Reederei, wo kerngesunde ältere Zahnärzte ihre Implantathonorare | |
verfrühstücken. | |
Dass er sich seine Anstellungen erschlichen hat, dass er Urkunden | |
gefälscht, dass er vermutlich Honorare und Gehälter im Bereich einer halben | |
Million betrügerisch erlangt hat und dass er das zurückzahlen muss mit | |
allen Schikanen, die die Vorschriften über Verfall und Einziehung heute | |
bereit halten, steht außer Frage. | |
## Alle Patienten sind wieder aufgewacht | |
Die wirkliche Frage ist die, ob er die Gesundheit anderer gefährdet hat. | |
Diese Frage hat offensichtlich auch die Oberstaatsanwältin Ina Kinder, die | |
Herrin der Medizinabteilung der Berliner Staatsanwaltschaft, so bewegt, | |
dass sie die Sache vor das Landgericht gebracht hat. | |
Nun, was hat er Böses getan? | |
Niemand ist gestorben. | |
Die Anästhesien, die er „betreute“, sind nicht ins Auge gegangen. Alle | |
Patienten sind wieder aufgewacht. | |
Die Krankenschwestern, die er bei der Organtransplantation unterrichtete, | |
fanden ihn „gut“. | |
Trotzdem fragt man sich, warum jemand, der unbedingt Arzt spielen will, | |
sich ausgerechnet das Gebiet der Anästhesie und Intensivmedizin aussucht, | |
ein Gebiet, bei dem es ja am allerehesten akut um Leben oder Tod geht und | |
wo die ärztliche Verantwortung besonders gefragt ist. | |
In ersten Kurzinterviews habe ich gesagt, der Herr aus Stendal habe den Tod | |
seiner Patienten billigend in Kauf genommen. Das ist Ausdruck einer | |
populistischen Übertreibung, denn ein Tötungsvorwurf ist ihm nicht einmal | |
als Vorwurf des Versuchs gemacht worden. Aber es ist schon richtig, dass, | |
wenn durch sein Verschulden jemand ums Leben gekommen wäre, ein solcher | |
Vorwurf berechtigt gewesen wäre. | |
Diese Bedenkenlosigkeit, auf einem so gefahrgeneigten Gebiet ohne | |
Absicherung zu agieren, dürfte bei der Zumessung der Strafe keine geringe | |
Rolle spielen. | |
## Andere Hochstapler dulden, fällt schwer | |
Dass ich mit dem Krankenpfleger aus Stendal zunächst so hart ins Gericht | |
gegangen bin, hat mehrere Gründe: Als nicht mehr aktiver „Elder Statesman“ | |
der Hochstaplerzunft – eine Rolle, in die ich mühsam hineingewachsen bin – | |
sehe ich mich doch mehr als früher dem Gemeinwohl verpflichtet. Andere | |
Hochstapler neben mir, auf gleicher Ebene zu dulden, fällt mir schwer (ich | |
sehe unter den Lebenden auch keinen). Bestimmte Alleinstellungsmerkmale | |
(zum Beispiel meine praktische Kritik der Psychiatrie als | |
Scheinwissenschaft) möchte ich nicht gefährdet sehen. | |
Deshalb interessiert mich das Motiv des adretten Schiffsarztes. | |
Vielleicht dachte er, er kann es genauso gut wie ein Facharzt. Er hat | |
Erfahrung. Er ist jung. | |
Viele Patienten mit nicht so leistungsfähigen Versicherungen lassen sich | |
sowieso lieber vom Oberarzt operieren. Der hat auch Erfahrung, zittert noch | |
nicht und will noch was werden. Warum nicht vom Oberarzt noch ein paar | |
Stufen runtergehen?“ | |
Vielleicht hat der Herr aus Stendal in der Notaufnahme erlebt, wie der | |
Assistenzarzt erst aus seinem Notbett nach dem dritten Nachtdienst in Folge | |
hervorgeklingelt werden musste, wie er als diensthabender Pfleger erst mal | |
alles allein stemmte. Und dann kommt so ein grüner Junge noch bleich vom | |
Studium und gibt „Anweisungen“, die er auswendig kann. | |
Vielleicht hat unser Schiffsarzt bei Notfällen erlebt, dass die neueren | |
Defibrillatoren ihre Kommandos an die Einsatzkräfte mit synthetischer | |
Stimme selbst geben. Da ist nichts mehr von Professor Dr. Sauerbruch: | |
„Schwester, Tupfer!!“ et cetera. | |
## Die DDR bildete „Halbärzte“ aus | |
Es könnte also sein, dass unser Angeklagter aus Stendal eigentlich | |
insgeheim ein Vorkämpfer für die Abschaffung der Approbation, für die | |
radikale uneingeschränkte Kurierfreiheit ist. | |
Das wäre so abwegig nicht: | |
Als das Vorbild Mao Tse-tung in Deutschland noch etwas gegolten hat, also | |
zum Ende der Studentenbewegung, als die marxistisch-leninistischen Parteien | |
glaubten, im Kommen zu sein, als ernsthafte junge Menschen andächtig die | |
deutsche Ausgabe der Pekingrundschau (auf hauchdünnem, in Albanien | |
bedruckten Papier) studierten, ging ein Begriff durch die linken Zirkel an | |
den deutschen Universitäten: die Barfußärzte! | |
Mao hatte sie eingeführt: in der Regel Bauern, die nach einem höchstens | |
zweimonatigen Lehrgang die Leiden der Landbevölkerung, meist mit Mitteln | |
der altchinesischen Medizin, zu kurieren hatten. Laienmedizin, volksnah, | |
keine Apparatemedizin, keine Halbgötter in Weiß, Demokratisierung der | |
Medizin, Abbau von Herrschaft. | |
Und die Feldschere in der sowjetischen Armee, Soldaten mit kleinem | |
Lehrgang, wie vielen Verwundeten hatten Sie im ersten Zugriff das Leben | |
gerettet? | |
Selbst die DDR bildete – für die Entwicklungsländer – „Halbärzte“ au… | |
ging schnell und billig, und Herz-Lungen-Maschinen konnten „die da unten“ | |
sowieso nicht recht brauchen. | |
Oder mag sich unser falscher Arzt aus Stendal gesagt haben: Hippokrates, | |
Avicenna und Paracelsus hatten ja auch keine Approbation? Wir wissen es | |
nicht. Er hat sich zu seinem „politischen Programm“ nicht geäußert. Es ist | |
auch möglich, dass er keines hatte. | |
## 44 Mal angeklagt, 44 Mal freigesprochen | |
Dafür spricht die Geschichte, wie er aufflog: Er soll bei der Berliner | |
Ärztekammer beantragt haben, ihm einen neuen Ärzteausweis auszustellen, in | |
dem für ihn als zweiter Vorname „Cato“ eingetragen war, einen Namen, den er | |
sich bloß zugelegt hatte, weil er ihm gefiel. | |
Ob er diesen Namen als magische Beschwörung seiner Unverwundbarkeit | |
eingetragen haben wollte, muss leider eine Spekulation bleiben. | |
Unverwundbarkeit deshalb, weil Cato der „Ältere“, derjenige, der nicht oft | |
genug sagen konnte, dass er der Meinung sei, dass Karthago zerstört werden | |
müsse, in seinem Leben 44 Mal angeklagt und 44 Mal freigesprochen worden | |
ist. | |
Dass jemand die Gefahren des Entdecktwerdens traumtänzerisch gering schätzt | |
oder bereit ist, sie in Kauf zu nehmen, um sich den Wunsch einer | |
eindrucksvolleren Selbstpräsentation zu erfüllen, spricht doch für eine | |
narzisstische Störung von nicht geringem Ausmaß. Ohne Krankheitswert, weil | |
nicht behandelbar (sagen wir Gerichtspsychiater). | |
Diese Einschätzung wird auch unterstützt durch die Tatsache, dass er sich | |
bereits vor Aufnahme seiner Tätigkeit auf den Aida-Kreuzern in einem | |
Kündigungsschutzprozess über 30.000 Euro erstritt, in der sicheren | |
Überzeugung, dass ihm mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses Unrecht | |
geschah. Diese Frechheit benötigt die Überzeugung, dass ihm mittlerweile | |
zustehe, was er sich erschlichen hat. Das bedeutet, dass die Distanz zu | |
seiner angemaßten Rolle bei ihm nach und nach vollständig weggefallen ist. | |
## Tatmotiv: Hebung des Sozialprestiges | |
Man fragt sich natürlich auch, weshalb die Berliner Organtransplanteure den | |
freundlichen Herren aus Stendal so mir nichts, dir nichts eingestellt und | |
mit 7.500 Euro im Monat versorgt hat. Die im Prozess von den Getäuschten | |
abgegebene Erklärung, er habe so hervorragende Zeugnisse und Beurteilungen | |
gehabt, ist leider zirkulär. Ich persönlich vermute eher, dass man dem | |
schüchternen, freundlichen Herren mit ein paar kritischen Fragen nicht zu | |
nahe treten wollte. | |
In meiner Typologie der Hochstapler ist das ein gewöhnlicher Fall von | |
Medizinhochstapelei: auf seinem Gebiet ein relativ kenntnisreicher | |
Täuscher, Sozialprognose leider nicht ganz günstig. Seine Abschirmung im | |
Prozess vor der Presse eröffnet Wiederholungsmöglichkeiten. Man weiß weder, | |
wie er aussieht, noch wie er heißt. (Meine relative Bekanntheit war, bevor | |
ich mich sittlich gefestigt hatte, eine sichere Rückfallprophylaxe). | |
Die Sozialprognose des Herren aus Stendal wäre besser, wenn man ihn Medizin | |
studieren ließe, aber das wird nicht geschehen, weil er zu große Schulden | |
hat, wegen des Numerus Clausus und weil seine Verurteilung ein | |
Approbationshindernis darstellt. Vielleicht steht ja auch das Abitur noch | |
aus. | |
Tatmotiv: Hebung des eigenen Sozialprestiges und Verbesserung der | |
Verdienstmöglichkeiten. Die Dankbarkeit der Patienten, die man gerettet | |
hat, fällt bei den Notfall- und Intensivmedizinern ungerechterweise häufig | |
allein dem Arzt zu. Auch das eine Quelle von Ressentiments. | |
Und unser Interesse an ihm? | |
Der fesche falsche Schiffsarzt, der die Herzen der stolzesten | |
Zahnarztwitwen bricht. Organtransplantation mit Laien, Professor Barnard | |
oder Professor Scharlatan, das war hier die Frage, das hat uns erregt. | |
8 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Gert Postel | |
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