# taz.de -- Machtkampf in Venezuela: Hunger, Proteste, Plünderungen | |
> Im Land wächst das Elend – und damit auch der Unmut in der Bevölkerung. | |
> Die Opposition will den Präsidenten aus dem Amt drängen. | |
Bild: Verblassender Glanz alter Zeiten | |
Caracas taz | Die Venezolaner haben sich daran gewöhnt, ständig ihren | |
Fingerabdruck abzugeben: Sie tun es etwa, wenn sie nach stundenlangem | |
Schlangestehen im staatlichen Supermarkt Bicentenario ein Kilo Maismehl zum | |
staatlich festgelegten Niedrigpreis kaufen dürfen – falls es gerade | |
überhaupt welches gibt. | |
Ab kommendem Montag geht es beim Fingerabdruck aber nicht um das tägliche | |
Überleben. Dann geht es um die Frage, wer künftig an der Spitze des Staats | |
stehen und ihn aus der Krise führen soll. | |
Rund 2 Millionen der 30 Millionen Venezolaner haben eine Petition | |
unterschrieben, wonach es möglich sein soll, den Präsidenten abzuwählen. | |
197.000 von ihnen müssen nun ab Montag ihre Unterschrift persönlich mit | |
ihrem Fingerabdruck bestätigen. | |
Weil die nationale Wahlbehörde mehr als 600.000 Unterschriften nach | |
wochenlanger Prüfung nicht anerkennen wollte, waren Regierung und | |
Opposition in heftigen Streit geraten. Die Stimmung ist aufgeheizt: Vor dem | |
Gebäude der Wahlbehörde wurde vergangene Woche einem Oppositionspolitiker | |
ins Gesicht geschlagen, auch Journalisten wurden angegriffen. | |
## Zu wenig Produktion von Lebensmitteln | |
Präsident Nicolás Maduro ist schon länger nicht sonderlich beliebt, aber | |
jetzt wird die Kritik an ihm immer lauter. Vielerorts gibt es keine oder | |
kaum mehr Lebensmittel zu kaufen, was die Menschen immer wieder spontan auf | |
die Straße treibt. Inzwischen geschieht das auch in Stadtteilen, die bisher | |
als regierungstreu galten. In Catia im Westen der Hauptstadt Caracas etwa | |
demonstrierten am Dienstag 100 Anwohner: „Wir sterben an Hunger“, rief eine | |
Frau ins Mikrofon eines Fernsehteams, „die Regierung hat uns das Essen | |
weggenommen!“ | |
Im Land werden zu wenige Lebensmittel und andere Basisgüter produziert. Für | |
Importe fehlen jedoch die Devisen – was nicht nur am niedrigen Preis liegt, | |
den das Land für seine Ölexporte bekommt, sondern auch an der hohen | |
Korruption. | |
Die Regierung hat für viele Waren niedrige Preise festgeschrieben: Dafür | |
sind die Produkte häufig aber gar nicht zu bekommen. Auf dem Schwarzmarkt | |
hingegen werden sie zu Wucherpreisen gehandelt. | |
## Auch Arzneien werden knapp | |
In den Krankenhäusern ist die Lage miserabel: Es fehlt an Medikamenten und | |
an einfachsten Dingen wie Handschuhen oder Spritzen. Amnesty International | |
warnt vor einer humanitären Krise. Laut der Menschenrechtsorganisation | |
Provea sind landesweit fünf Menschen bei Protesten ums Leben gekommen. | |
Täglich werden nun Plünderungen gemeldet, die bisher heftigsten am Dienstag | |
in Cumaná, einer 800.000-Einwohner-Stadt etwa 400 Kilometer von Caracas | |
entfernt: Mehr als 20 Geschäfte und Lkw wurden dort leergeräumt. Militär | |
und Polizei rückten an, mehr als 400 Personen sollen festgenommen worden | |
sein. | |
Präsident Maduro spricht von einem „Wirtschaftskrieg“, der angezettelt | |
wurde, um mit dem Chaos eine ausländische Militärintervention zu | |
provozieren. Für die Opposition ist klar: Maduro ist schuld und muss weg. | |
## Überfälle nehmen zu | |
Einer von denen, die das Abwahlreferendum unterstützen, ist Hasler | |
Iglesias. Der 24-Jährige ist der Vorsitzende der Studierendenvertretung an | |
der Universidad Central de Venezuela in Caracas. Auf seinen Profilbildern | |
in den sozialen Netzwerken trägt er eine Jacke in den Nationalfarben | |
Gelb-Blau-Rot. | |
Gerade sitzt er in einem winzigen Büro im Stadtzentrum und organisiert die | |
nächsten Proteste. So wie die Krise das Land treffe, treffe sie auch die | |
Unis, sagt er. Es gebe kaum mehr Mensaessen, nicht mal Geld für Glühbirnen, | |
und die Überfälle auf dem Campus nähmen zu. Immer wieder hätten sie für | |
bessere Bedingungen demonstriert – ohne Erfolg. „Wir haben doch ein Recht | |
auf Bildung und auf Gesundheit“, sagt er. „Die einzige Möglichkeit, die uns | |
bleibt, ist die Regierung auszutauschen.“ Diese ist „autoritär und | |
antidemokratisch“. | |
Präsident Maduro hat inzwischen in einer seiner vielen Ansprachen | |
angekündigt, dass er sich an das Ergebnis des Abwahlreferendums halten | |
werde. Aber: Vor dem nächsten Jahr werde dieses nicht stattfinden können. | |
## Möglichst lange rauszögern | |
Seine politischen Gegner wissen, dass dies ein Trick ist. Nach dem 10. | |
Januar 2017, also zwei Jahre vor dem Ende seiner Amtszeit, sind allgemeine | |
Neuwahlen nach der Verfassung nicht möglich. Stattdessen würde dann sein | |
Vizepräsident das Amt weiterführen. Die Wahlbehörde ist ihm offenkundig | |
hörig und versucht, den Termin des Referendums bis dahin hinauszuzögern. | |
Die Abstimmung könne ohne Probleme noch in diesem Jahr stattfinden, sagt | |
hingegen Oppositionsführer Henrique Capriles, der Gouverneur des | |
Bundesstaates Miranda. Er hat in dieser Woche eine Tour über den | |
Subkontinent gemacht, um Unterstützung zu suchen, Argentinien, Paraguay, | |
Brasilien, Panama. Auch US-Außenminister John Kerry meldete sich zu Wort | |
und forderte „ein faires und zügiges Referendum“. Dazu muss die Opposition | |
im nächsten Schritt rund vier Millionen Unterschriften sammeln. | |
## Alte Chavistas wenden sich ab | |
Die Stimmung im Land steht, so scheint es, gegen Maduro, den der populäre | |
Sozialist Hugo Chávez kurz vor seinem Tod 2013 zu seinem Nachfolger | |
auserkoren hatte. Je nach Umfrage würden 60 bis 70 Prozent der Venezolaner | |
für Maduros Abwahl stimmen. Und es wenden sich auch langjährige | |
Unterstützer des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ von ihm ab. | |
Petare ist das größte Barrio von Caracas, es liegt ganz im Osten der Stadt, | |
kleine Häuser aus Backstein drängen sich über mehrere steile Hügel. Iris | |
Arteaga wohnt im Viertel San José, zusammen mit ihren zwei Söhnen, | |
Schwiegertöchtern und drei Enkeln. Sie war von Anfang an Chavista, seit | |
neun Jahren engagiert sie sich im Rat ihrer Gemeinde (Consejo Comunal), | |
einer Basisorganisation, die von der chavistischen Regierung eingeführt | |
wurde. „Ich war blind“, sagt sie, „aber ich habe die Augen geöffnet.“ | |
Das war vor ein paar Monaten, als die Schlangen länger wurden und die | |
Regale leerer. „Unser Land liegt am Boden“, sagt sie. Bei den Treffen des | |
Consejo Comunal darf sie das nicht laut sagen, hier hat man nach wie vor | |
der Meinung zu sein, dass die Regierung schon alles richtig macht. In San | |
José wurde vor ein paar Tagen die Apotheke geplündert, erst drangen | |
bewaffnete Männer ein, dann auch Leute aus der Nachbarschaft, sie nahmen | |
alles mit, was sie tragen konnten. Auf einem Zettel neben der geschlossenen | |
Tür steht jetzt handschriftlich: Wegen Vandalismus geschlossen. Ein | |
weiteres Problem im Viertel: Seit Monaten kommt kein Wasser mehr aus der | |
Leitung. | |
Venezuela, sagt die alte Chavista Iris Arteaga, brauche jetzt einen anderen | |
Präsidenten. „Ich werde beim Referendum gegen Maduro stimmen.“ | |
17 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Erb | |
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