# taz.de -- Kommentar Handschlag in der Schweiz: Ihr seid doch nur unsicher | |
> Ein verweigerter Handschlag wird in der Schweiz zur Integrations-Debatte | |
> aufgeblasen. Damit macht es sich die Politik zu einfach. | |
Bild: Die Schweizer drehen durch: Dabei sind's doch nur Hände | |
Man muss sich die Schweiz als ein glückliches Land vorstellen. Es scheint | |
dort keine größeren Probleme zu geben als die Frage, ob Schüler ihrer | |
Lehrerin die Hand geben sollen oder nicht. Diese Frage hat das Land über | |
fast zwei Monate hinweg umgetrieben, sie wurde in Talkshows und | |
Leitartikeln heiß debattiert. Glücklich ist ein Land, das solche Sorgen | |
hat. | |
Eine weniger freundliche Einschätzung lautet: die Schweiz ist komplett | |
durchgedreht. Denn anders ist nicht zu erklären, warum eine lokale | |
Bagatelle für einen landesweiten Aufruhr sorgen konnte. Anfang April war | |
der Fall zweier (!) Schüler im Kanton Basel-Landschaft, die sich geweigert | |
hatten, ihrer Lehrerin die Hand zu geben, über die Region hinaus bekannt | |
geworden. Der 14-jährige und sein 16-jähriger Bruder begründeten ihr | |
Verhalten mit ihrer religiösen Überzeugung, die es ihnen aus Respekt vor | |
Frauen verbiete, diesen die Hand zu geben. | |
Statt den Vorfall als pubertäre Verwirrung oder religiösen Spleen zweier | |
Minderjähriger abzutun, wurde er von rechten Medien und der Politik zur | |
Staatsaffäre und Prinzipienfrage aufgeblasen. Mit erfolg: Zuletzt fühlte | |
sich sogar die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga bemüßigt, das | |
Händeschütteln zu einem unverzichtbaren Teil der Schweizer Kultur zu | |
erklären. Da dürfe es keine Fragezeichen geben, erklärte die | |
Sozialdemokratin. | |
Nun hat auch die Schulbehörde ein Machtwort gesprochen: künftig darf kein | |
Schüler mehr die Hand einer Lehrerin zurückweisen – er muss sie schütteln. | |
Zieren Schüler sich, müssen sie oder die Eltern mit Sanktionen rechnen – | |
bis hin zu einem Bußgeld über 4.500 Euro oder einem Schulverweis. Denn den | |
Handschlag nicht zu erwidern gilt jetzt als Integrationsverweigerung. | |
## Symptom für die tiefgreifende Verunsicherung | |
Dabei ist es nur eine kleine und marginale Minderheit | |
konservativ-religiöser Muslime – und orthodoxer Juden – die eine Berührung | |
des anderen Geschlechts grundsätzlich vermeidet. Aber der Schweizer Umgang | |
damit ist symptomatisch: während man den Muslimen einmal mehr vermittelt, | |
dass man auf ihre religiösen Gefühle leider keine Rücksicht nehmen könne, | |
werden die verletzten Gefühle all jener, die den verweigerten Handschlag | |
als Affront begreift, zum alleinigen Maßstab gemacht. | |
Dabei ist der Handschlag kein universeller Brauch, sondern hat sich auch in | |
der Schweiz erst seit den Siebzigerjahren zwischen Lehrerinnen und Schülern | |
eingebürgert. Nun aber wird er zu einem in Stein gemeißelten Fundament | |
Schweizer Leitkultur erklärt. | |
Diese Überreaktion ist ein Symptom für die tiefgreifende Verunsicherung, | |
die viele europäische Gesellschaften erfasst hat. Und ausgerechnet die | |
Schweiz, die es geschafft hat, mit vier verschiedenen Amtssprachen zu leben | |
und zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen einen Modus | |
Vivendi zu finden, der über Jahrhunderte gehalten hat, scheint davon | |
besonders betroffen zu sein. Ganze vier Minarette reichten in dem kleinen | |
Land bekanntlich ja bereits aus, um eine Mehrheit für ein Minarettverbot zu | |
mobilisieren und dieses per Referendum durchzusetzen. | |
Aber auch in anderen europäischen Ländern dienen oft nichtige Anlässe dazu, | |
einen Kulturkampf vom Zaun zu brechen. In einer Wohnsiedlung bei Kopenhagen | |
entscheiden sich die mehrheitlich muslimischen Mieter erstmals dagegen, zu | |
Weihnachten einen Christbaum aufzustellen? Darüber diskutierte man im | |
Advent 2012 in Dänemark so lange, bis der Baum wieder stand. | |
## Ein bisschen mehr Gelassenheit | |
Ein paar französische Modemacher haben Kollektionen für muslimische Frauen | |
entworfen, die ein Kopftuch tragen? Halb Frankreich steht deswegen Kopf, | |
denn Feministinen sehen das heilige Prinzip des Laizismus in Gefahr. Ein | |
ausländisches Staatsoberhaupt reicht Klage gegen einen Satiriker ein? Halb | |
Deutschland sitzt auf dem Sofa und ist empört. | |
Das wirft die Frage auf: Wie unsicher muss man sich seiner Werte, seiner | |
Demokratie und seiner Kultur eigentlich sein, um derart in Schnappatmung zu | |
verfallen? | |
Ein bisschen mehr Gelassenheit im Umgang mit solchen banalen Konflikten | |
täte unseren Gesellschaften gut. Wahrlich, es gibt größere Probleme. Und | |
Verbote haben oft den gegenteiligen Effekt, sie führen zu Trotz und | |
Ablehnung. Denn, ganz ehrlich: wer dazu gezwungen wird, anderen die Hand zu | |
geben, wird sich doch erst recht verweigern. Oder eben andere Wege finden, | |
seinen Protest gegen autoritäre Vorschriften auszudrücken und die | |
Mehrheitsgesellschaft zu provozieren. | |
27 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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