# taz.de -- Intervention: „Alternative zur Logik des Kunstmarkts“ | |
> Der Kunstverein Hildesheim versucht unter dem Vorsitz der Universität | |
> einen Neuanfang, um ein anderes Publikum, vor allem aber an Relevanz zu | |
> gewinnen | |
Bild: Neue Agenda? Stadtteilforum Idee 01239 – eine Fallstudie für den Kunst… | |
taz: Frau Hertzsch, Herr Page, im Kunstverein Hildesheim stellen Sie unter | |
dem Titel „Neue Agenda?“ noch bis Ende Juni die Ergebnisse eines | |
Kunstprojektes in Dresden vor. Warum? | |
Eva Hertzsch: Mit der Übernahme durch die Universität Hildesheim sucht der | |
Kunstverein neue Orientierung und als wir gebeten wurden, die erste | |
Ausstellung im Rahmen dieser Suche zu kuratieren, wollten wir ein | |
ungewöhnliches Modell eines Kunstvereins zeigen. | |
Adam Page: Der von KünstlerInnen und Langzeitarbeitssuchenden gegründete | |
Verein Idee 01239 in der Großsiedlung Dresden-Prohlis wurde nicht | |
Kunstverein genannt, doch wurden dort zwischen 2007 und 2012 über zwanzig | |
Projekte von zeitgenössischen bildenden KünstlerInnen durchgeführt. Die | |
Mitglieder des Vereins Idee verstanden ihren Ort vordergründig als | |
Produktionsort und nur zweitrangig als Ausstellungsort. | |
Wie muss man sich das vorstellen? | |
Page: KünstlerInnen und AnwohnerInnen haben mit künstlerischen Mitteln ein | |
gemeinsames Arbeitsmodell als Alternative zur Logik des Kunstmarktes, zu | |
Ausschlussmechanismen der Innenstadt und zum Regelwerk des zweiten | |
Arbeitsmarktes der Agenda 2010 produziert. Dieser Blick auf die Schaffung | |
von Milieu-übergreifender Kunstproduktion soll eine Alternative zum | |
kuratierten White-Cube-Format der Kunstvereine sein. | |
Wie kam es zu dem Stadtteilforum in Prohlis und mit wem haben Sie dort | |
zusammengearbeitet? | |
Hertzsch: Unter den Gründungsmitgliedern von Idee 01239 waren ein | |
Bauarbeiter, ein Bibliothekar, eine Kellnerin, ein Musiker, eine | |
Sekretärin, ein Spätkauf-Inhaber und einige KünstlerInnen, beziehungsweise | |
Urbanisten. Alle wollten mit zeitgenössischer Kunst und Kultur einen | |
toleranten, respektvollen und sozialen Raum im Stadtteil gestalten. | |
Page: Ein gemeinsamer Nenner der zum Teil durch Arbeitslosigkeit isolierten | |
AnwohnerInnen und der aus zentralen Stadtteilen kommenden KünstlerInnen war | |
die Bearbeitung ihrer eigenen Prekarität. Sie haben festgestellt, dass sie | |
alle für 1,50 Euro die Stunde arbeiteten. | |
Was hat dieses Projekt mit Hildesheim zu tun, wo sowohl der Arbeitsmarkt | |
als auch der Kunstbetrieb ganz anders funktionieren? | |
Hertzsch: Idee 01239 ist als Fallstudie für den Kunstverein Hildesheim und | |
für die Studierenden unseres Uni-Seminars „Kunst im sozialen Raum“ gedacht. | |
Die Auswirkungen der Arbeitsmarktpolitik tragen nicht nur | |
Langzeitarbeitssuchende in den neuen Bundesländern, sondern auch die | |
Aufstocker des ehemaligen Mittelstands in Niedersachsen. Wie Idee damals | |
bekommt auch der Kunstverein Hildesheim keine institutionelle Förderung. | |
Die Fördertöpfe der Kulturverwaltungen und ‑stiftungen reichen kaum für ein | |
Jahresprogramm. Der Kunstverein wird auch darauf angewiesen sein, Konzepte | |
in anderen gestalterischen Feldern der Gesellschaft zu entwickeln, etwa in | |
der politischen Bildung oder der Stadtentwicklung. | |
Sie zeigen Arbeiten von und mit Langzeitarbeitslosen. Ist es nicht | |
voyeuristisch, diese in das Korsett einer Sammelausstellung für das gängige | |
Kulturpublikum zu pressen? | |
Page: Das Zielpublikum ist nicht das übliche Ausstellungspublikum. Wir sind | |
bewusst den kostenlosen Stadtzeitungen hinterher und nicht den Feuilletons. | |
Unsere Flyer legen wir eher beim Metzger aus, anstatt im Stadttheater. Und | |
für die Gesprächsrunden über die Zukunft des Kunstvereins haben wir das | |
Rathausfoyer als offenen Ort für jeden gewählt und bewusst | |
Nachbarschaftsinitiativen und nicht die Kulturverwaltung als Gastredner | |
eingeladen. Die nächste Gesprächsrunde machen wir mitten in der | |
Fußgängerzone in der Nähe des Hauptbahnhofs. | |
Müsste die Schwelle für solche partizipativen Pprojekte nicht niedriger | |
liegen? Wie können KünstlerInnen und KuratorInnen versuchen, ein anderes | |
Publikum anzuziehen? | |
Hertzsch: Die Idee-Projekte fanden auf der Straße, in einer Shoppingmall, | |
in einer Schule und im Vereinshaus, einem leerstehenden, umgestalteten | |
Getränkemarkt statt. Wenn diese Projekte in einer Kunstinstitution | |
dokumentiert werden, wird dieser künstlerischen Praxis ein höherer | |
Stellenwert verliehen. Es handelt sich nicht, wie in der Hochkultur öfters | |
verallgemeinert, um Sozialarbeit, sondern um eine Erweiterung des | |
Kunstbegriffs im öffentlichen Raum: weg von Zufallspassanten, hin zum | |
Aufbau verbindlicher Beziehungen mit Verbündeten in der Gesellschaft. | |
Page: So können die KünstlerInnen ihr Netzwerk, ihre ästhetischen | |
Kompetenzen und ihren Zugang zu Entscheidungsträgern, Planern und Presse | |
teilen, um sich für ein gemeinsames Interesse stark zu machen. Diese Praxis | |
will die Ausstellung reflektieren. | |
Der enge Kehrwiederturm mit seinen vielen Stufen ist denkbar ungünstig für | |
zeitgenössische Kunst, die oftmals sperrig daherkommt. Müsste sie nicht | |
langfristig aus diesem symbolträchtigen Elfenbeinturm geholt und unters | |
Volk gebracht werden? | |
Hertzsch: Sicherlich. Die letzte Ausstellung fand schon in einem | |
leerstehenden Laden statt. Für einen Teil der „Neue-Agenda“-Ausstellung | |
wollten wir in ein Geschäft in der Fußgängerzone einziehen, aber die | |
Immobilienabteilung von TUI hatte keine Zeit, sich um die Verträge zu | |
kümmern. Eigentlich müsste der Einzelhandel in den Innenstädten alles tun, | |
auch hundertprozentigen Mieterlass gewähren, um die Neubelebung von | |
Leerstand durch künstlerische Projekte zu ermöglichen. | |
Wie kann der Hildesheimer Kunstverein ein größeres und vielfältigeres | |
Publikum erreichen und dadurch für die Stadt relevanter werden? | |
Hertzsch: Die Studierenden Anne Garthe, Julien Rathje, Sarah Kaiser und | |
Sarah Kepski organisieren ein Begleitprogramm von vier Gesprächsrunden zum | |
Thema Kunst, Vernetzung und Stadtgestaltung. Sie verlassen damit bewusst | |
den Kehrwiederturm und gehen an zwei zentrale Orte der Demokratie: ins | |
Rathaus und den öffentlichen Raum. Dorthin laden wir lokale Initiativen | |
ein, über ihre Erfahrungen und Wünsche in Bezug auf Kulturarbeit in der | |
Stadt zu berichten. So erhoffen wir uns, Interessenlagen herauszuarbeiten, | |
die später die Schwerpunkte für Projekte des Kunstvereins werden. | |
Page: In erster Linie geht es darum, Beziehungen aufzubauen und nicht eine | |
große Besuchermenge zu generieren. So kann der Kunstverein zu einem Ort der | |
Beteiligung und Produktion werden. Nicht im Sinn einer Mitmach-Ausstellung, | |
sondern als Thinktank mit verbindlichen PartnerInnen. | |
Welchen Eindruck haben Sie von der Hildesheimer Kulturlandschaft? Werden | |
Sie die Verbindung aufrechterhalten, womöglich mit weiteren Seminaren oder | |
Ausstellungen? | |
Page: Die zeitgenössische Bildende Kunst ist in Hildesheim | |
unterrepräsentiert. Hier könnte der Kunstverein eine wichtige Rolle für die | |
Stadt spielen, auch angesichts Hildesheims Antrag, Europäische | |
Kulturhauptstadt 2025 werden zu wollen. Unsere Praxis setzt auf | |
Langfristigkeit, aber wir wissen noch nicht, ob wir wieder eingeladen | |
werden. | |
6 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Kornelius Friz | |
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Gerhard Richter | |
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