| # taz.de -- Karneval der Kulturen in Berlin: „Ich bin eine Art Phantom“ | |
| > Sonia de Oliveira ist für viele das Gesicht des Karnevals – doch am | |
| > Sonntag ist sie zum ersten Mal nicht dabei. Ein Gespräch über Geld, | |
| > Politik und wie es weitergeht. | |
| Bild: Seit 1997 strahlendes Highlight des Berliner Karneval der Kulturen: Die D… | |
| taz: Frau de OIiveira, Sie sind ja für viele das Gesicht des Karnevals. | |
| Dieses Jahren machen Sie das erste Mal seit 1997 nicht mit. Warum? | |
| Sonia de Oliveira: Das war keine leichte Entscheidung. Aber wir hatten seit | |
| letztem Jahr, als wir ein paar Tage nach dem Umzug aus unserem Lager in der | |
| Urbanstraße ausziehen mussten, lange überhaupt keine feste Bleibe für uns. | |
| Wir mussten unsere Sachen mehrmals von A nach B bringen, immer in | |
| Zwischenlager, wo wir nicht arbeiten konnten. Ich war fix und fertig, am | |
| liebsten hätte ich die Sachen gleich nach dem Umzug letztes Jahr verbrannt. | |
| Es war auch lange so unsicher, ob und wie es überhaupt weiter geht. Und ich | |
| brauche Zeit für die Vorbereitung: für mich ist nach dem Karneval gleich | |
| wieder vor dem Karneval. | |
| Sie brauchen ein Jahr, um sich vorzubereiten? | |
| Ja. Manche Kostüme sind kaputt, manche einfach weg. Und die Gestelle für | |
| die Kostüme werden in Brasilien gemacht, das kann hier niemand. Meine | |
| Familie in Rio und ich arbeiten das ganze Jahr daran. | |
| Für Sie war also der Umzug in das neue „Haus des Karnevals“ im März zu | |
| spät? | |
| Ja, ich hatte keine Möglichkeit meine Sachen in der gewohnten Qualität zu | |
| machen. Ich bin ja praktisch eine Ein-Frau-Firma, habe kein Geld jemanden | |
| zu bezahlen, um diese aufwändigen Kostüme zu erstellen. | |
| Wie viele Kostüme haben Sie? | |
| Im Lager sind etwa 600. Die ganz wertvollen habe ich aber Zuhause, die | |
| kosten teils tausende Euro. | |
| Wie groß ist denn die Gruppe? | |
| Sehr unterschiedlich. Im ersten Jahr hatten wir 450 Teilnehmer. Dann wurde | |
| es von Jahr zu Jahr weniger, weil die Logistik immer schlechter wurde. | |
| Aber nächstes Jahr machen Sie wieder mit. | |
| Das hoffe ich, meine Gruppe will natürlich auch, die sind alle traurig. | |
| Aber es ist noch nicht gesagt, dass der Karneval 2017 gesichert ist. Es | |
| fehlt noch ein Betrag x – nicht dass wir Gruppen viel davon bekommen. Wir | |
| müssen ja immer selbst sehen, dass wir private Investoren finden. Letztes | |
| Jahr habe ich zum allerersten Mal überhaupt etwas von diesem Senatsgeld | |
| bekommen, wenn das natürlich auch längst nicht die Kosten gedeckt hat. | |
| Aber alle schmücken sich mit Ihnen, Sie sind auf jedem Poster, jede | |
| Zeitung, die über den Karneval berichtet, druckt ihr Foto. | |
| Ja, mein Bild ist auch in mindestens zehn Reiseführern über Berlin. Niemand | |
| fragt mich und für all dies bekomme ich auch keinen Cent. Es soll jetzt ein | |
| Dokumentarfilm über mich gemacht werden mit dem Titel „Fremde Federn“ – … | |
| stand es mal in der taz. Das ist genau das, was hier passiert. Niemand | |
| fragt, was mich das kostet und alle bedienen sich. Das ist schon traurig, | |
| keiner kennt meinen Namen, ich bin eine Art Phantom. Darum trage ich jetzt | |
| auch immer ein „Amasonia“-Schild in meinem Kostüm. | |
| Trotzdem machen Sie immer wieder mit, oder wollen zumindest. Warum? | |
| Ich mache das nicht nur für mich und mein Ego. Für viele in meiner Gruppe | |
| sind die Vorbereitungen, die Treffen, das Basteln und Proben, fast eine Art | |
| Therapie. Wir haben Leute aller Altersklassen, auch wenn wir seit ein paar | |
| Jahren keine Kinder mehr dabei haben, weil uns der LKW fehlt. Aber wir sind | |
| eine große Familie, die sich jedes Jahr wieder trifft. Für mich ist es | |
| wichtig, meiner Gruppe diesen Tag zu schenken, und das Feedback, dass ich | |
| hinterher bekomme, ist immer unglaublich toll. Das ist meine Motivation: | |
| Ich merke, dass ich etwas tue, was andere glücklich macht. | |
| Damit es weitergehen kann, gab es ja den Konzeptdialog mit dem Senat. Eines | |
| der Ergebnisse: es soll einen Förderverein geben, um Sponsoren zu finden. | |
| Überzeugt Sie das? | |
| Nicht so richtig. Das hat seit 20 Jahren nicht geklappt und ich glaube | |
| nicht mehr an Märchen. Der Senat hätte uns viel früher und viel mehr | |
| unterstützen müssen. Der Karneval mit seiner Offenheit für alle Kulturen | |
| bringt so viel Anerkennung für die Stadt, was gerade mit der deutschen | |
| Geschichte wichtig ist. Und er bringt so viele Touristen, man sagt, 1,8 | |
| Millionen – und damit viel Geld. Wenn wir einen Euro pro Besucher bekämen, | |
| wäre das super. Aber der Senat hat es einfach verpasst, aus dem Karneval | |
| eine Institution zu machen mit der entsprechenden Logistik, einem | |
| Kulturzentrum, das man jeden Tag besuchen kann und so weiter. In Brasilien | |
| ist der Karneval eine Industrie, viele Leute leben davon. Ich würde das | |
| auch gerne machen, habe wahnsinnig viel Erfahrung – aber ich würde hier nie | |
| einen Job kriegen vom Senat. | |
| Ein bisschen was hat er ja dazu gelernt. Jetzt gibt es die neuen | |
| Strukturen: Träger, Beirat, den Verein. Und das neue Haus in Marzahn. Ist | |
| das nicht gut? | |
| Viele von meinen Kollegen aus den Gruppen haben vorher gesagt, das ist der | |
| einzige Ort, wo wir nicht hin wollen. Einige haben dort Geschichten mit | |
| Rechten erlebt – ich auch. Ich wurde mal eingesperrt in der S-Bahn von drei | |
| Skinheads. Die Bahn war fast leer und sie haben mich einfach nicht | |
| aussteigen lassen. Ich hatte solche Angst, habe zwar Capoeira gemacht, aber | |
| gegen drei Männer? Am Ende ist es gut ausgegangen, mir ist nichts passiert. | |
| Irgendwann kam ein Schaffner, der hat die drei an der nächsten Haltestelle | |
| rausgeworfen. Danach war ich traumatisiert. Ich bin nur froh, dass ich | |
| darüber reden kann, es gibt sicher viele, die das nicht können. (sie kämpft | |
| mit den Tränen) | |
| Sie wollten also nicht nach Marzahn? | |
| Nein, das war genau das Gegenteil von dem, was wir wollten. Wir brauchen | |
| auch ein Umfeld von Kreativität, wie in Kreuzberg, und etwas gut | |
| erreichbares. Aber es hieß, es gibt keine Alternative, alle freien Gebäude | |
| seien an Flüchtlinge vergeben. Vor ein paar Wochen habe ich sie mir dann | |
| die neuen Räume angesehen. Ich habe einen Bekannten mitgenommen und mein | |
| Pfefferspray. Das Haus ist wirklich gut. Mal gucken, wie viel Platz ich | |
| dort bekomme und ob ich dort arbeiten kann. Aber die Atmosphäre fehlt | |
| natürlich. Und viele meiner Leute, gerade die Ausländer, haben schon | |
| gesagt, dass sie nicht dorthin kommen wollen – es gibt in Marzahn einfach | |
| zu oft Vorkommnisse mit Nazis. Mal sehen, wie sich das entwickelt, aber ein | |
| Zentrum des Karnevals, wo alle hinpilgern, wird Marzahn wohl nicht. Aber | |
| was noch nicht ist, kann immer noch werden. | |
| Es gab unter den Gruppen lange eine große Angst, dass der Karneval | |
| kommerzialisiert wird. Ist das jetzt vom Tisch? | |
| Unsere Angst war, dass uns unser Baby vom Senat weggenommen wird und er | |
| daraus eine ganz andere Veranstaltung macht, die mehr Geld bringt. Das | |
| wollten wir nicht, der Karneval sollte so bleiben wie bisher: Jeder kann | |
| mitmachen, sein Land vertreten, so wie er sich das denkt. Das ist keine | |
| Kommerzveranstaltung. Dafür kämpfen wir immer noch, der Karneval soll keine | |
| Loveparade mit Bier und tausend Verkaufsständen werden. Denn dann verliert | |
| er sein Gesicht. Aber ich glaube, so weit kommt es auch nicht. | |
| 12 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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