Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Regionalwahlen in Großbritannien: Die grüne Lady
> Somers Town ist eine der multikulturellsten Arbeitersiedlungen Londons.
> Natalie Bennett, Grünenpolitikerin, findet hier ihre Themen.
Bild: „Wir werden versuchen, das zu verhindern“: Bennett über den Verdrän…
London taz | Natalie Bennett wohnt mitten drin in Somers Town, dem bunten
Stadtteil am Nordrand der Londoner Innenstadt. Hier unterhalten sich die
Gäste im Café des Gemeindezentrums in der Ossulston Road noch in Cockney,
dem rar gewordenen Dialekt der Londoner Arbeiterklasse. Im Hintergrund
läuft Rod Stewarts 80er-Jahre-Hit „Baby Jane“. Seit 2012 ist Bennett
Parteivorsitzende der Grünen in England und Wales. Die 50-Jährige lebt seit
neun Jahren in Somers Town. Hier findet sie alle Themen, die ihre Politik
bestimmen.
Somers Town, so getauft nach Charles Cocks, dem Ersten Baron Somers
(1725–1806), dem dieses Land einst gehörte, ist eine der ältesten sozialen
Wohnsiedlungen Londons. Charles Dickens hat kurze Zeit hier gelebt. Ein
einstiger Slum, der heute zum Londoner Innenstadtbezirk Camden gehört und
an dessen südlichen Ende sich der Neubau der britischen Nationalbibliothek
British Library erhebt.
Etwa 13.000 Menschen leben in Somers Town, viele von ihnen in den aus
Ziegelstein gebauten Sozialwohnungen. Ein Viertel der Bevölkerung sind
Muslime. 15 Prozent stammen aus Bangladesch. Im Café des Gemeindezentrums
gibt es deswegen neben den obligatorischen Sandwichs mit Speck auch solche
mit Halalhühnchen. An der Wand hängen Flugblätter mit Titeln wie „Bäume
statt Türme!“, die auf die Verdrängung langjähriger Bewohner durch
Luxussanierung hinweisen. Daneben befindet sich das letzte Rundschreiben
des lokalen Polizeibüros mit einer Gruppe lächelnder Beamten.
Natalie Bennett trägt einen grünen Mantel und grüne Ohrringe zu ihren
blonden Haaren. Sie tritt selbstsicher und freundlich auf. „Es ist ein
schöner Zufall“, sagt sie, „dass auch Mary Wollstonecraft hier gelebt hat.…
Die britische Philosophin aus dem 18. Jahrhundert, Frauenrechtlerin und
Mutter von Mary Shelly, die mit „Frankenstein oder der moderne Prometheus“
in die Geschichte einging.
## Fahrradfahrende Frau
Bennett versteht sich gleichfalls als Feministin. Als sie noch ein kleines
Mädchen war, hatte ihr jemand erklärt, „Fahrradfahren sei nichts für
Ladys“. Diesen Unsinn hat sie nicht vergessen, erzählt sie, und so wurde
sie zur Feministin und zur Grünenpolitikerin, die Frauenrechte und
Fahrradfahren verteidigt.
1966 im australischen Sydney geboren, arbeitete sich die Tochter zweier
Teenagereltern stetig nach oben. Sie erhielt ein Schulstipendium, jobbte
auf einer Ranch und begann Kommunikationswissenschaften zu studieren. In
Thailand arbeitete sie ehrenamtlich für ein Frauenprojekt und schrieb bald
über Frauenthemen. Später ging sie nach London, volontierte im British
Museum und arbeitete als Redakteurin des Guardian Weekly. Doch am Ende
entschied sie sich, in der Politik mitzumischen. Als die damalige
Grünen-Vorsitzende Caroline Lucas bei den Wahlen 2010 überraschend den
Wahlkreis Brighton-Pavilion holte – sie ist bis heute die einzige grüne
Unterhausabgeordnete – und die Parteiführung abgab, kam ihre Chance. Seit
vier Jahren bestimmt nun Bennett die Linie der Partei.
Neben Ökothemen setzt sie im Wahlkampf der Grünen für Wales und Schottland
auf Sozialpolitik. Die meisten grünen Bewegungen täten dies, meint Bennett,
weltweit. Als logische Folge der leeren Versprechungen der letzten
Jahrzehnte, die sich als neoliberale Ideologie entpuppt hätten. Diese
Erkenntnis sei der Grund für den wachsenden Erfolg grüner Parteien und von
Systemkritikern wie dem Labour-Chef Jeremy Corbyn oder dem linken
Demokraten Bernie Sanders in den USA. „Wir haben mit unserer Politik ein
Umdenken bewirkt“, sagt Bennett, „in Städten wie Sheffield, Liverpool,
Lancaster, Solihull und natürlich Brighton sind wir stark vertreten.“
## Bahnarbeiter wohnten hier
Draußen vor dem Café zeigt Bennett die hundert Jahre alten Wohnungen der
ehemaligen Bahnarbeiter, solide feste Bauten, die lange halten sollten.
Daneben Neubauten aus den 60er und 70er Jahren. Damals kam es erneut zur
Krise in Somers Town, erzählt sie, weil die nötigen Investitionen für die
Sanierung ausblieben; die Gegend verfiel und wurde zum städtischen
Rotlichtviertel.
Premierminister David Cameron plant nun, diese Sozialwohnungen zu
verkaufen, denn sie befinden sich in der sogenannten hochwertigen Zone
Londons. Für das Geld dieser auf dem freien Markt verkauften Wohnungen
sollen dann am Stadtrand, dort wo es noch billig ist, neue Sozialwohnungen
entstehen. Es wäre das Ende von Somers Town, wie man es kennt. Das Recht,
in einer Sozialwohnung zu leben, soll nicht mehr lebenslang gelten, sondern
nach zwei bis fünf Jahren nach Einkommen überprüft werden. Menschen mit
einem Jahreseinkommen von über 40.000 Pfund (50.000 Euro) sollen
Marktmieten für diese Wohnung zahlen – 1.600 bis 3.000 Pfund pro Monat für
eine Zweizimmerwohnung. Wer sich das leisten kann, darf wohnen bleiben –
oder gar die Wohnungen kaufen. „Wir werden versuchen, das zu verhindern“,
sagt Bennett.
Drei Fernbahnhöfe liegen in unmittelbarer Nähe von Somers Town: St.
Pancras, Euston sowie Kings Cross. Viele Eisenbahner, die hier lebten,
arbeiteten in den Zugdepots auf einem der großen angrenzenden Gelände.
Jahrzehntelang lagen sie brach, bevor das Crick Institute dort ein
Forschungslabor bauen ließ. Der riesige Bau zeigt der Siedlung den Rücken.
Lediglich ein paar Lehrstellen seien dabei für die Gegend abgefallen,
erzählt Bennett. Ein verlorener Kampf für die Siedlung, findet sie, denn
die Nachbarschaft brauche vor allem Wohnungen. Drei Minuten vom Café des
Gemeindezentrums entfernt befindet sich ein kleiner Park. Doch auch hier
droht Verdrängung, ein Teil der Grünfläche soll einem Luxuswohnturm
weichen.
## Luxuswohntürme und nur eine Oberschule
Ein paar hundert Meter weiter deutet Bennett auf eine Oberschule. Die
Oberschule in Somers Town sei sowohl ein Glanzstück als auch eine Tragödie.
Zwar wurde die alte Schule zu Labour-Zeiten renoviert, sei dabei jedoch in
einen Massenbetrieb umfunktioniert worden. Im Süden des Stadtbezirks,
berichtet Bennett, kämpften Einwohner seit über 20 Jahren für die Gründung
einer neuen Oberschule. „Kleinere Schulen haben mehr Erfolg, weil sie
Nachbarschaften zusammenhalten. Bisher wurden diese Forderungen ignoriert,
das bedeutet, dass die Teenager aus Südcamden in 49 verschiedene Schulen
der Großstadt London pilgern müssen, die alle weit weg liegen.“
Neben der existierenden Oberschule soll auf einer Grünfläche, wo sich heute
noch ein Kindergarten und eine Jugendeinrichtung befinden, ebenfalls ein
hoher Wohnturm entstehen. „Das Jugendzentrum leidet jetzt schon unter
fehlenden Subventionen“, sagt die Grünen-Politikerin. Vor 20 Jahren gab es
hier gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Jugendgangs, heute hält das
Jugendzentrum die Teenager von der Straße fern und gibt ihnen Erholungsraum
in einer ohnehin ungesunden Gegend.
## Immens hohe Luftverschmutzung
Damit spricht Bennett ein zentrales Thema der Grünen in der Londoner
Stadtversammlung an. Dieses Jahr – wie auch in den Vorjahren – erreichten
viele Straßen in London bereits eine Woche nach Jahresbeginn die maximal
erlaubten Jahreswerte für Luftverschmutzung. Immer wieder stritten die
Grünen mit Oberbürgermeister Boris Johnson und schafften es, nahezu alle
Ratsmitglieder, sogar einige Konservative, hinter sich zu bringen, bis
Johnson, der das Thema immer kleingeredet hatte, im letzten Jahr
behauptete, Luftverschmutzung sei ihm ein wichtiges Thema. Inzwischen hat
auch das Oberste Gericht aufgrund einer Klage der NGO Client Earth die
britische Regierung dazu aufgefordert, sofort Maßnahmen wegen der
andauernden illegalen und ungenügend regulierten Luftverschmutzung zu
ergreifen.
Bennett findet, nicht Autos seien das Problem, sondern zu volle Straßen und
zu wenige Alternativen. Ihrer Meinung nach müsste viel mehr in öffentliche
Verkehrsmittel investiert werden, ihre Benutzung billiger sein. Aber nicht
nur die Autofahrer kommen bei Bennett relativ gut weg, auch Arme, die keine
Mülltrennung machen, finden ihr Verständnis. „Man kann nicht von Menschen
verlangen, ihr Verhalten zu verändern, die täglich damit kämpfen, genug
Essen auf dem Tisch zu haben.“ Sozial- statt Ökopolitik.
Am Ende des Rundgangs durch Somers Town zeigt Bennett ihr Lieblingscafé
„Albertini“. Ein für die Straße überraschend elegantes Café-Restaurant …
italienischem Flair, das zwei Brüder betreiben. Sie kochen selber, die
Angestellten kennen und grüßen die Stammgäste der Gegend. Bennett wünscht
sich, dass solche Orte erhalten bleiben können. Dass nicht etwa eine Kette
wie Starbucks diesen Platz einnimmt.
## Ein Labourbezirk
Trotz Bennetts Engagement ist Somers Town ein Labour-Bezirk geblieben.
Stört sie das? „Nein!“, antwortet die Grüne, „ich kann damit leben. Es …
um die gemeinsame Zukunft und um eine Wahlrechtsreform, damit Parteien wie
unsere mehr Gewicht erhalten. Da die Torys und Labour in große interne
Streitereien verwickelt sind, gibt es jetzt durchaus Chancen für die
Grünen.“
Was ist dann mit den großen Fragen der britischen Politik, wie dem
EU-Referendum und dem Thema der Immigration? Wie wirkt sich das auf die
Kommunal- und Regionalwahlen aus? „Wir befürworten den Verbleib in der EU“,
antwortet Bennett. „Gerade unsere vielen jungen Mitglieder sind dafür.“ Es
müsste jedoch noch viel weiter in Richtung eines sozial gerechteren Europa
gehen, wünscht sie sich, statt „nur in die Richtung der Vorstellungen der
Geschäftswelt“.
Was die Migrationspolitik angeht, so hört sie von vielen Engländern weniger
Beschwerden über Immigranten als über niedrige Löhne, übervolle soziale
Einrichtungen und Schulen. „Das ist kein Problem der Einwanderung. Die
lokalen Behörden versagen darin, adäquate Einrichtungen zu schaffen, die
proportional dem Wachstum der Bevölkerung nachkommen“, erklärt sie und
entschuldigt sich. „Ich habe gleich ein Meeting mit frisch ausgebildeten
Ärzten.“ Auch die sind in einen Streit mit der Regierung über die
Arbeitsbedingungen im nationalen Gesundheitssystem NHS verwickelt.
Bennett empfiehlt, mal an einem Freitag vorbeizuschauen, da gäbe es noch
einen echten Markttag, ganz wie es das grüne Parteibuch mag. Dann
verschwindet sie im Straßenbild von Somers Town, wo die soziale Geschichte
Londons auf die sozialen Spannungen der Gegenwart trifft. Im Hintergrund
ragt die neue Zentrale von Unison auf, der zweitgrößten britischen
Gewerkschaft; auf der Chalton Street selbst befindet sich in einem alten
Haus die Zentrale der oft rebellischen Verkehrsmittelgewerkschaft RMT, und
direkt gegenüber hat eine der wichtigsten Organisationen, die
Notunterkünfte für junge Obdachlose betreibt, ihren Sitz.
Dort sollten sich vor Kurzem alle Londoner OberbürgermeisterkandidatInnen
zu einer Podiumsdikussion einfinden. Einzig die grüne Amtsanwärterin Sian
Berry stellte sich persönlich den Fragen. Den anderen Parteien fehlt wohl
der Draht zu Somers Town. Das lässt sich von Natalie Bennett nicht sagen.
2 May 2016
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
## TAGS
Wahlen in Großbritannien
London
Schwerpunkt Brexit
Großbritannien
Wahlen in Großbritannien
Großbritannien
Schwerpunkt Brexit
London
## ARTIKEL ZUM THEMA
Grünen-Parteitag in Großbritannien: Für ein besseres politisches Klima
Die britischen Grünen wollen der Brexit-Aufgeregtheit eine „höfliche Art“
entgegensetzen. Außerdem setzen sie auf Klima als Zukunftsthema.
Machtwechsel bei den britischen Grünen: Caroline Lucas ist wieder Parteichefin
Bewährtes setzt sich durch: Die einzige Grünen-Abgeordnete im Unterhaus
kehrt an die Spitze der Partei zurück. Immerhin im Tandem mit Jonathan
Bartley.
Vor dem Brexit-Referendum: EU-Skeptiker im Westen Cornwalls
Im Juni entscheiden die Briten über ihren EU-Austritt. In Cornwall mischt
sich eine diffuse Antipathie gegen Ausländer mit EU-Skepsis.
Großdemo in London: Zehntausende gegen Cameron
50.000 Menschen gingen in London gegen die Sparpolitik des britischen
Premierministers auf die Straße gegangen. Einige forderten Camerons
Rücktritt.
Vor der Abstimmung über den Brexit: Nur die Alten sind gegen die EU
In Wales findet sich wenig Begeisterung für das EU-Referendum. Landwirte
und StudentInnen plädieren für einen Verbleib.
Sozialer Wohnungsbau in London: Streit um Broadwater Farm
In Tottenham droht der Abriss von Siedlungen aus den 60er-Jahren. Sie
gelten als soziale Brennpunkte. Die Einwohner fürchten Verdrängung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.