# taz.de -- Debatte über Versicherungsbetrug: Alter Sumpf treibt neue Blüten | |
> CDU fordert, den mutmaßlichen massenhaften Sozialversicherungbetrug eines | |
> Bremerhavener Vereins lückenlos aufzuklären. Die Betroffenen sollen | |
> derweil weg. | |
Bild: Der Bremerhavener Sumpf treibt nicht so schöne Blüten: Sumpfdotterblume… | |
Bremerhaven, Sumpf, SPD: Diese Stichworte werden heute im Landtag in der | |
Aktuellen Stunde in einem Atemzug genannt werden. Wahrscheinlich nicht nur | |
einmal, weil es ja nicht nur eine Oppositionsfraktion gibt. | |
„Massenhaften Sozialversicherungsbetrug in Bremerhaven lückenlos aufklären | |
– Schaden für die öffentlichen Haushalte minimieren“ heißt das Thema, das | |
auf Wunsch der CDU diskutiert wird. Dabei geht es vordergründig um | |
Ermittlungen gegen einen Bremerhavener Verein, der wie berichtet über 1.000 | |
Arbeitsverhältnisse mit bulgarischen und griechischen Einwanderern fingiert | |
haben soll, damit diese Arbeitslosengeld beantragen können. | |
Dazu gibt es allerdings nicht viel zu sagen, weil die Staatsanwaltschaft ja | |
versucht, die Vorgänge aufzuklären. Erst wenn diese Ermittlungen | |
abgeschlossen sind, kann festgestellt werden, ob es Lücken gibt. Und ob es | |
Personen in Bremerhaven gibt, die von den Geschäften des Vereins „Agentur | |
für Beschäftigung und Integration“ wussten – darüber zu spekulieren, ist | |
das Parlament auch nicht der geeignete Ort. | |
Bleibt „der Schaden für die öffentlichen Haushalte“: Der lässt sich im | |
Nachhinein nur dadurch minimieren, indem die zu Unrecht erhaltenen | |
Sozialleistungen zurückgefordert werden. Von Menschen also, die nach | |
Aussage des Leiters des Bremerhavener Jobcenters Friedrich-Wilhelm Gruhl | |
„bitterarm“ sind und zum Teil wahrscheinlich gar nicht wussten, dass sie | |
einen Betrug begehen. Außerdem, davon geht die Staatsanwaltschaft aus, | |
mussten sie von ihren Bezügen monatlich etwas an den Hauptbeschuldigten, | |
den Geschäftsführer des Vereins, abgeben. 180 Verfahren hat die | |
Staatsanwaltschaft bereits eingeleitet, Hunderte könnten folgen, weil 1.350 | |
Fallakten untersucht werden. | |
„Politisch kann es nur darum gehen zu verhindern, dass so etwas noch mal | |
passiert“, sagt Sybille Böschen, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der | |
SPD aus Bremerhaven, die morgen im Landtag zu dem Thema sprechen wird. | |
Zugewanderte müssten besser über ihre Rechte informiert werden, um sie vor | |
organisierter Kriminalität zu schützen. | |
Dazu würde dann aber auch gehören, sie über eine neue Rechtslage | |
aufzuklären, die das jetzt in Bremerhaven aufgeflogene Geschäftsmodell | |
eigentlich obsolet macht. Ende 2015 hatte das Bundessozialgericht in Kassel | |
geurteilt, dass EU-Bürger und Bürgerinnen auch dann Anspruch auf | |
Sozialleistungen haben, wenn sie noch nie in Deutschland gearbeitet haben. | |
Arbeitslosengeld dürfen sie zwar nach wie vor erst dann beziehen – aber die | |
Sozialhilfe steht ihnen nach sechs Monaten in Deutschland durchaus zu. | |
Nur: Für die Sozialhilfe nach dem Sozialgesetzbuch XII kommt nicht der Bund | |
auf, sondern die Kommune. Dementsprechend gering ist das Interesse etwa | |
Bremerhavens, das Urteil anzuerkennen und danach zu handeln. | |
Davon kann der Bremerhavener Anwalt Gerd Bürsner berichten. Er vertritt | |
aktuell fünf Mandanten aus Osteuropa, die seit Jahren hier leben und | |
Sozialhilfe beantragt haben. Das Sozialamt hat die Anträge abgelehnt. | |
Bürsner klagt dagegen vor dem Landessozialgericht. Gleichzeitig versuche | |
die Kommune, die Leute loszuwerden, berichtet er. Ihr Recht auf | |
Freizügigkeit innerhalb der EU-Länder werde ihnen abgesprochen. „Sie | |
bekommen Anhörungsbögen und sollen darin begründen, warum sie überhaupt | |
hier sind. Das macht Angst.“ | |
„Die Anträge werden genau geprüft“, sagt dazu Bremerhavens Sozialstadtrat | |
Klaus Rosche. Es dürfe nicht passieren, dass durch einen Massenandrang „die | |
Sozialsysteme ausgehöhlt werden“. In einer gemeinsamen Pressemitteilung mit | |
dem Oberbürgermeister Bremerhavens, Melf Grantz, begründen die beiden | |
SPD-Mitglieder Rosche und Grantz diese Einschränkung der Freizügigkeit | |
damit, dass sie so den „umfangreichen Sozialmissbrauch“, wie er jetzt | |
bekannt wurde, „konsequent bekämpfen“ wollen. | |
„So ist das Freizügigkeitsrecht beispielsweise nicht mehr gegeben, wenn | |
nach dreimonatigem Aufenthalt keine Arbeitnehmerschaft nachgewiesen werden | |
kann“, heißt es darin. Das bedeutet: dass Kriminelle weiterhin damit Geld | |
verdienen können, Arbeitsverhältnisse vorzutäuschen. Weil es jetzt nicht | |
nur darum geht, keine Sozialleistungen zu erhalten, sondern abgeschoben zu | |
werden. | |
Darum wird es bei der heutigen Debatte aber vermutlich nur am Rande gehen, | |
wenn überhaupt. Viel spannender finden viele die Frage, ob die SPD nicht | |
Patrick Öztürk, den Sohn des Beschuldigten, der für die SPD im Landtag | |
sitzt, aus der Fraktion werfen sollte. Dann wäre die knappe Mehrheit von | |
Rot-Grün noch knapper. | |
20 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
## TAGS | |
Sozialversicherung | |
Bremerhaven | |
Bremerhaven | |
Bremerhaven | |
Davos | |
Schwarzfahren | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Sozialbetrug wird untersucht: Eigennütziger Familienverein | |
Die Familie des Bremer Parlamentariers Patrick Öztürk soll gewerbsmäßigen | |
Betrug in Bremerhaven organisiert haben. Der Untersuchungsausschuss | |
beginnt. | |
Ermittlungen gegen Bremer Politiker: SPD-Politiker: Betrugsverdacht | |
Der Bremer SPD-Abgeordnete Patrick Öztürk hatte stets beteuert, von den | |
Geschäften seines Vaters nichts gewusst zu haben. Doch jetzt wird gegen ihn | |
ermittelt. | |
Sozialbetrug in Bremerhaven: Humanitäre Katastrophe | |
Die Mehrheit der Bremischen Bürgerschaft erkennt die nach Bremerhaven | |
gelotsten Menschen „auch als Opfer“ an – die dringend Hilfe brauchen. | |
Kommentar Weltwirtschaftsforum Davos: Einwanderung und Fortschritt | |
Flüchtlinge als Chance: Statt Ängsten stellen die Teilnehmer des | |
Weltwirtschaftsforums das positive Potenzial der Zuwanderung heraus. | |
Debatte übers Schwarzfahren: Ohne Ticket – ist das unsozial? | |
Wer sich ohne Fahrschein im Nahverkehr erwischen lässt, muss mittlerweile | |
in vielen Städten 60 Euro zahlen. Ist das falsch und unverhältnismäßig? |