| # taz.de -- Ströbele und die taz: Die gute Autorität | |
| > Hans-Christian Ströbele ist der lebende Beweis für den Geist von 68. Ein | |
| > Buch über den Mann, der eine wichtige Rolle in der taz-Geschichte spielt. | |
| Bild: Aufmerksamer Hinhörer: Hans-Christian Ströbele | |
| Die Neue Linke träumt seit 1968 von einer eigenen Zeitung. Aktuell wird | |
| dies 1978 – nach der Nachrichtensperre im Deutschen Herbst 1977, der mit | |
| den Selbstmorden von Christian Ströbeles Exmandanten Andreas Baader, Gudrun | |
| Ensslin und Jan-Carl Raspe endet. Den nötigen Schub bekommt der Plan beim | |
| Tunix-Treffen im Januar 1978, bei dem fast 20.000 Leute aus der linken | |
| Szene, enttäuschte Maoisten, RAF-Sympathisanten, Landfreaks, Feministinnen, | |
| Aktivisten der Irrenoffensive, Schwule und Lesben teilnehmen. | |
| Tunix ist das Wetterleuchten einer neuen Bewegung, die in der Tradition der | |
| 68er zu stehen scheint. Doch sie zielt auf etwas anderes. Auf der | |
| Tagesordnung steht das authentische, selbstbestimmte Leben und Arbeiten in | |
| alternativen Nischen, nicht mehr die Avantgardeidee von RAF und Maoisten. | |
| Das Konzept lautet: Jeder, der will, darf. | |
| Ströbele stellt bei dem Spontitreffen die kühne Idee einer Tageszeitung | |
| vor. Die Vorbereitungen laufen mühsam an. Es werden Nullnummern produziert, | |
| die nie rechtzeitig fertig werden. Es fehlt an fast allem: vor allem an | |
| Geld. Michael Sontheimer, taz-Gründer und Redakteur 1979, meint, dass es | |
| die taz nur gibt, weil „wir so völlig ahnungslos waren. Sonst hätten wir es | |
| gar nicht probiert.“ Die taz ist ein Ergebnis, so Sontheimer, „der Arroganz | |
| der Adoleszenz“. | |
| Ströbele ist mit abgewetzter Ledertasche, Jeans, Holzclogs habituell von | |
| den kiffenden Twentysomethings nicht zu unterscheiden. Doch das täuscht. Er | |
| ist kein Student in der Postpubertät. Er ist verheiratet, wohnt in einer | |
| Eigentumswohnung, nicht in einer WG, er fährt einen passablen | |
| Mittelklassewagen und ist ein erfolgreicher und keineswegs verarmter | |
| Anwalt. | |
| ## Nie taz-Redakteur oder -Angestellter | |
| Ströbele spielt mehrere Rollen: Er ist Spiritus Rector des Projekts, | |
| Mädchen für alles, Caterer, ruhender Pol, Justitiar der in Rechtsfragen | |
| ahnungslosen Redaktion, entschlossener Verfechter der Basisdemokratie. Er | |
| ist nie Redakteur oder Angestellter der taz. „Er war“, so Sontheimer, „die | |
| gute Autorität. Seine Altersgenossen haben eher gesagt: Ach, die Spontis | |
| kommen doch nicht aus dem Bett. Was ja stimmte.“ | |
| Das Problem der taz ist nicht nur, dass niemand weiß, wie man Zeitung | |
| macht. Man will überdies das Medium neu erfinden. In der Produktion gibt es | |
| nicht nur keine Chefs – Hand- und Kopfarbeit sollen anfangs nicht getrennt | |
| werden. Die taz hat 1979, wie Tunix, gewisse Ähnlichkeit mit einem | |
| Happening. Es ist ein in die raue Wirklichkeit gepflanztes Kunstprojekt. | |
| Die Zeitung soll selbst befreites Gebiet sein, in dem die Individuen das | |
| Korsett formalisierter Beziehungen abstreifen. Es geht, wie Jean-Luc Godard | |
| für die Filmproduktion formulierte, nicht darum, eine politische Zeitung zu | |
| machen, sondern politisch Zeitung zu machen. Die taz ist ein Labor der | |
| Alternativbewegung. Es gibt kein zweites Medium, das sich so offensiv | |
| selbst zum Thema macht und Interna zum Politikum erklärt. | |
| Man streitet über Geldsammlungen für Befreiungsbewegungen, über Sexismus | |
| und Quote. Das ist mehr als Selbstbespiegelung – taz und Alternativbetrieb | |
| liegen im Trend. Denn in der Republik sind Pflicht und Disziplin auf dem | |
| Rückzug, in der entstehenden Wissensgesellschaft zählen Autonomie, | |
| Selbstverwirklichung, Teamgeist. taz und Alternativebetriebe sind daher, so | |
| der Historiker Sven Reichardt, „anschlussfähig an den | |
| bundesrepublikanischen Mainstream“. | |
| ## Unerschütterlich gute Laune | |
| Ströbele ist von 1979 bis 1982 oft in der Wattstraße und bringt mit, was in | |
| der taz rar ist: juristischen Sachverstand und unerschütterlich gute Laune. | |
| Er verteidigt taz-Redakteure gratis, die vor Gericht stehen, weil sie | |
| Polizisten in taz-Artikeln als „Bullizisten“ bezeichnet haben. Beliebt ist | |
| bei der Redaktion vor allem das Frühstück, Joghurtpaletten, Gouda, | |
| Brötchen, das der Anwalt des Öfteren in seinem VW Passat anliefert. | |
| Die Vorstellung, dass in der taz alle alles machen sollen, und zwar zum | |
| gleichen Lohn von 800 DM, erweist sich als nur bedingt realitätstauglich. | |
| Das mit egalitären Ansprüchen überladene Projekt produziert enorme | |
| Reibungsverluste. Nach einem Jahr taz, am 17. April 1980, resümiert | |
| Ströbele: „Nicht menschlicher, freundlicher, schöpferischer ist die | |
| Atmosphäre in der Wattstraße, sondern der Stress ist fast schlimmer als in | |
| anderen Betrieben, die Atmosphäre ist lähmend, ein richtiger Frust. Der | |
| Ausdruck davon ist der Staub und Dreck in allen Ecken, die | |
| Unverbindlichkeit bei Terminen, Zeiten bei der Erledigung von übernommenen | |
| Pflichten.“ | |
| Kurzum: Was fehlt, sind bürgerliche Werte: Sauberkeit, Disziplin, | |
| Verbindlichkeit. Ströbele zweifelt auch an der Selbstorganisation: „Sollte | |
| es also doch richtig sein, was die Väter uns immer schon gesagt haben: Ein | |
| großes Wirtschaftsunternehmen kann nicht demokratisch aufgebaut, muss | |
| arbeitsteilig organisiert sein, wenn es funktionieren soll. Die arbeitenden | |
| Menschen können, wollen das nicht anders haben, nicht anders als bei Krupp | |
| oder Springer? Noch hat die taz diesen resignierenden Schluss nicht | |
| gezogen.“ | |
| ## Logik der Väter überwinden | |
| Die taz soll der Beweis dafür sein, dass die Logik der Väter überwunden | |
| werden kann. Eine Chefredaktion hält er daher für Kapitulation. Dafür hat | |
| er präzise Vorstellungen, wie man das auseinanderdriftende, immerhin schon | |
| hundert Köpfe starke taz-Kollektiv retten kann. Alle sollen, so Ströbele, | |
| „stupide, blöde Fummelarbeiten vom Putzen bis zum Dateneintippen übernehmen | |
| und Verbindlichkeiten in allen Bereichen einhalten“. Denn „Arbeit und | |
| sonstige Lebensgestaltung sind nicht zu trennen, sind eine Einheit“. | |
| Das mönchisch anmutende Rezept lautet: Moral, Selbstdisziplin und | |
| Engagement für die Gemeinschaft. Mehr wir, weniger ich. Die | |
| Alternativbewegung ist eine widersprüchliche Melange. Es gibt einen rigiden | |
| Kanon kollektiver Moralansprüche. Alles Wissen, das womöglich Herrschaft | |
| begründen könnte, soll in einem endlosen Rotationsverfahren demokratisiert | |
| werden. | |
| Journalist, Setzer, Layouter sind Rollen, die Mann und Frau wechseln sollen | |
| wie Latzhosen. In der taz wird der Versuch – die Journalisten als Setzer, | |
| Setzer als Journalisten – nach ein paar ernüchternden Erfahrungen betreffs | |
| der Qualität der Texte rasch wieder eingestellt. Der alternative Moralkodex | |
| hat auch etwas Stickiges, Enges – und er kollidiert mit dem anderen | |
| zentralen Ideal der Szene: der Selbstverwirklichung. | |
| Wie chaotisch diese Widersprüche wirken, beschreibt Ströbele 1980 in der | |
| taz: „Der Null-Bock vieler Redakteure/Innen, Urlaub, Reisen führten dazu, | |
| dass an manchen Tagen die gesamte Arbeit im Ressort Inland (13 bezahlte | |
| Stellen) von einem halb bezahlten Urlaubsvertreter erledigt werden musste. | |
| Beim taz-Plenum 1980 gerät Ströbele, sonst stets als hilfreicher Mediator | |
| anerkannt, selbst unter Beschuss. Ein Redakteur wirft ihm Bigotterie vor – | |
| der Anwalt fordere Aufhebung der Arbeitsteilung und selbst bestimmte | |
| Arbeit, doch in seiner Kanzlei tippe ihm seine Sekretärin „die Papiere über | |
| alternatives Arbeiten.“ Dabei, so Ströbele säuerlich, habe der tazler auch | |
| noch „hämisch gegrinst“. Ströbele engagiert sich gratis für die taz. Er | |
| nimmt kaum Einfluss auf die Redaktionsarbeit, beglückt die Samstagsplenen | |
| überfraktionell mit Kuchen. Kurzum: Diese Kritik ist undankbar. Doch | |
| Dankbarkeit gehört nicht zum alternativen Moralkanon. | |
| Und die Kritik trifft etwas: Ströbele hält Kollektivideale hoch, ist aber | |
| nicht Teil dieses Kollektivs. Er ist ein Segen für die taz – aber er kann | |
| auch im Anwaltsbüro bleiben, wenn ihm danach ist. Er lebt konventionell – | |
| und fordert von der taz das Unkonventionelle. Es ist nicht leicht zu | |
| entziffern, ob bei Ströbele das Bürgerliche die Maske des Radikalen oder | |
| das Radikale Maske des Bürgerlichen ist. | |
| Der Streit, ob die Redakteure selbst putzen müssen, wird gelöst – im Sinne | |
| der Arbeitsteilung. Müllberge, volle Aschenbecher und Schimmel erzwingen | |
| eine praktische Lösung. Die Zeitung engagiert die Putzkolonne „Kollektiv | |
| Roter Besen“. | |
| 6 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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