| # taz.de -- Trekking-Tour in den Abruzzen: Der Esel gibt das Tempo vor | |
| > Die raue Hügellandschaft der Abruzzen ist weit weg der italienischen | |
| > Toskana-Idylle. Am besten erkundet man sie mit einer großen grauen | |
| > Begleiterin. | |
| Bild: Pause mit Esel: Ottavia isst Pflanzen, wir essen Käse | |
| Tommie ist in Ottavia verliebt. Wann immer es möglich ist, sucht er ihre | |
| Nähe. Dabei ist Ottavia älter und größer als Tommie, aber das stört ihn | |
| nicht. Tommie und Ottavia sind Esel. Gemeinsam mit rund zwei Dutzend | |
| weiteren Tieren leben sie in den Abruzzen, einer Bergregion mitten in | |
| Italien und doch weit abseits der touristischen Aufmerksamkeit. | |
| Heute aber ist Tommie von Ottavia getrennt, denn sie soll uns auf einer | |
| Eselwanderung begleiten. Saskia Steigleder hat ihr dafür schon den speziell | |
| für Eselmaße angefertigten Packsattel angeschnallt. Steigleder, 34, kommt | |
| aus Heidelberg. Im Jahr 2005 war sie zum ersten Mal in den Abruzzen und | |
| lernte bei einem Workcamp der italienischen Umweltorganisation | |
| [1][Legambiente] ihren heutigen Ehemann Giuseppe Turavani kennen. Zwei | |
| Jahre später zog sie in das kleine Dorf Goriano Valli, seit 2009 bietet sie | |
| Eseltrekking an. | |
| Auf die Idee brachte Steigleder auf einer Tourismusmesse in Deutschland der | |
| Chef der Webseite [2][eselwandern.de]. Dabei ist es für die Abruzzen so | |
| naheliegend: „Vor einigen Jahrzehnten hatte hier noch jede Familie einen | |
| Esel und der hat alles gemacht. Da gab es fast keine Autos“, sagt | |
| Steigleder. „Und wenn der Esel gestorben ist, war das wie ein | |
| Familiendrama.“ Inzwischen haben die Abruzzenesel ihre Bestimmung als | |
| Arbeitstiere verloren. Und weil sich schnell rumsprach, dass Saskia | |
| Steigleder die Wandertouren anbietet, wurden ihr bald immer wieder | |
| ausgemusterte oder geerbte Esel angeboten, mitunter sogar geschenkt. | |
| „Jetzt haben wir ein kleines Eselaltersheim“, sagt sie und kann zu fast | |
| jedem ihrer Tiere eine Geschichte erzählen: etwa Rosanna, die als uralte | |
| Arbeitseselin mit einem ganz krummen Rücken zur Herde kam und sich | |
| weigerte, schmale Wege zu gehen, weil sie es so gewohnt war, mit weit | |
| auskragendem Gepäck beladen zu sein. Oder Perseo, der den | |
| Veterinärmedizinstudenten von Teramo als Demonstrationstier diente und den | |
| sie nur den „Professor“ nennt. | |
| Über 25 Tiere umfasst die Herde inzwischen: Neben Rentnern und | |
| Wanderveteranen auch „Azubis“, wie Steigleder ihre Jungtiere bezeichnet. | |
| Mit vier Jahren machen die Esel ihre ersten Touren, zunächst noch ohne | |
| Gepäck. | |
| Wenn Wandern Entschleunigung ist, dann ist Eseltrekking Entschleunigung im | |
| Quadrat: Die Tiere geben ein gemächliches Tempo von drei bis vier | |
| Stundenkilometern vor, dafür tragen sie das Gepäck – und sind der soziale | |
| Mittelpunkt der Reise. „Viele Eltern machen das, um ihre Kinder zum Wandern | |
| zu motivieren. Die dürfen dann auch den Esel führen“, sagt Steigleder. | |
| Reiten sollten sie aber nur kurze Strecken: Mehr als ein Fünftel ihres | |
| Körpergewichts sollen die Tiere nicht tragen. | |
| Eine normale Wanderung ist auf mehrere Tage angelegt und führt auf alten | |
| Maultierpfaden in einem weitem Bogen um Goriano Valli, vorbei an | |
| verlassenen Hirtendörfern, einer alten Burgruine, über Hochebenen und | |
| Hügelketten, übernachtet wird zumeist in Hotels und in einer Nacht auch in | |
| einer Berghütte. | |
| Uns reicht erst einmal die mehrstündige Schnupper-Eselwanderung. Die Region | |
| zwischen der Provinzhauptstadt L‘Aquila und dem wunderschönen Ort Sulmona, | |
| der für seine Confetti, süße Zuckerperlen, bekannt ist, ist geprägt von | |
| langen, bewaldeten Hügelketten und kleinen Dörfern, in denen sich graue, | |
| schmucklose Steinhäuser eng an eng aneinanderkauern. Eine Landschaft für | |
| Naturmenschen, die hier in der Nebensaison auf den unzähligen Wanderewegen | |
| auch wirklich allein mit Bäumen, Felsen und wildem Thymian sein können. Die | |
| Abruzzen sind nicht so lieblich wie das Klischee-Toskana-Italien, und im | |
| Herbst auf Höhen von 600 bis 1.000 Metern auch schon ordentlich frisch. | |
| Von weitem – am besten aus den kompakt in den Hang gebauten Bergdörfern wie | |
| Castel del Monte und Santo Stefano di Sessanio – sieht man bei gutem Wetter | |
| die beinahe 3.000 Meter hohen Gipfel des feslzackigen Gran-Sasso-Massivs | |
| weiter im Norden. Hier verwandeln sich die Abruzzen in ein hügeliges | |
| Mittelgebirge mit spektakulären Blickachsen, vor allem im und über dem | |
| Campo Impteratore. Rund 15 Kilometer lang ist diese schlauchförmige | |
| baumlose Hochebene, auf deren Wiesen Kühe und halbwilde Pferde zuhause | |
| sind. Eine beliebte Filmkulisse, die auch schon mal „Piccolo Tibet“ genannt | |
| wird. | |
| Aber zurück ins Valle Subequana, wo uns die erste Hälfte der Wanderung vor | |
| allem nach unten führt. Über enge, matschige Wege erfolgt der Abstieg ins | |
| Tal. Als trittsichere und weitgehend angstfreie Tiere sind Esel perfekt für | |
| Wanderungen. Zu Beginn einer Tour sollte es dennoch lieber erst mal bergab | |
| als bergauf gehen, sonst könnte selbst ein so genügsames Tier wie Ottavia | |
| den Dienst verweigern. | |
| Mit 16 Jahren ist Ottavia im besten Eselalter und ideal für Einsteiger: | |
| Geduldig trottet sie den Weg entlang. Ist man aber einen Moment | |
| unaufmerksam, nutzt sie die Chance und dreht sich zum Wegesrand, um einen | |
| Grasbüschel zu naschen. Esel sind sanftmütig und so kuschelig wie ein | |
| überdimensioniertes Steiff-Tier, haben aber ihren eigenen Kopf – wenn sie | |
| nicht gezeigt bekommen, wer der Chef ist, dann sind sie es eben selbst. Und | |
| wenn ein Esel in eine Richtung will, dann ist er im ersten Moment immer der | |
| stärkere: 150 bis 300 Kilo Lebendgewicht muss man erst mal unter Kontrolle | |
| bringen. Dann muss einer vorne ziehen und einer hinten ermutigend auf den | |
| Eselhintern klopfen und „Andiamo!“ rufen. Überhaupt ist es für Ottavia | |
| wichtig, dass sie nie als letzte in unserer kleinen Herde läuft, | |
| schließlich ist sie ein Leittier, das sind bei Eseln immer die Stuten. | |
| Am Bahnhof von Beffi sonnen sich ein paar Katzen vor leerstehenden Häusern, | |
| eines davon ist in sich zusammengefallen. Ruinen und verlassene Häuser | |
| finden sich in fast allen Dörfern der Abruzzen, zahlreiche weitere | |
| Altbauten werden von metallenen Exoskeletten gestützt. Sie alle erinnern an | |
| das große Erdbeben in L’Aquila im Jahr 2009, das über 300 Todesopfer | |
| forderte. | |
| Die Aufbauarbeiten dauern an, sie sind ein Wirtschaftsschub für die sonst | |
| rückständige Region. Dabei liegen die Abruzzen nur anderthalb Autostunden | |
| von Rom entfernt. Doch nur zweimal im Jahr kommen die Hauptstadtbewohner: | |
| im Sommer, um aus ihrer überhitzten Stadt zu flüchten und im Winter, um in | |
| die Skigebiete des Gran-Sasso-Massivs zu fahren. Im Herbst ist es hier | |
| wunderbar leer. | |
| Unser Weg führt uns weiter entlang des Bergflüsschens Aterno, über die gut | |
| erhaltene Römerbrücke, in deren Nähe wir Rast machen: Käse und Wurst für | |
| uns, Sträucher und Disteln für Ottavia. Anschließend geht es wieder den | |
| Berg hinauf, wir passieren einen alten Wehrturm und erreichen schließlich | |
| wieder Goriano Valli. In der Bar an der Piazza steht die Uhr still: Für | |
| immer zeigt sie Montag, 6. April, 3.32 Uhr an – den Moment des Erdbebens im | |
| Jahr 2009. | |
| „Wenn der Esel verabschiedet wird, ist das immer ein großes Drama – vor | |
| allem bei den Kindern“, hatte Saskia Steigleder uns gewarnt. Wir bleiben | |
| tapfer, als Ottavia zu den anderen Eseln auf die Weide zurück darf. Gleich | |
| läuft die halbe Herde hinter ihr her, um sie zu begrüßen und ganz vorne: | |
| Zwergesel Tommie. Beruht die Liebe eigentlich auf Gegenseitigkeit? „Ottavia | |
| tut immer so, als ob es ihr egal ist“, sagt Saskia Steigleder. „Aber wenn | |
| er nicht da ist, dann ist sie traurig. Also irgendwie liebt sie ihn doch“ | |
| 27 Mar 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.legambiente.it/ | |
| [2] http://eselwandern.de | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Brake | |
| ## TAGS | |
| Reiseland Italien | |
| Esel | |
| Tourismus | |
| Esel | |
| Peru | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Tourismus in den Abruzzen: Verletzt, aber vital | |
| Die italienische Erdbebenregion ist zu schön, um vom Tourismus und von der | |
| Welt verlassen zu werden. Sie ist Wander- und Skigebiet. | |
| Kolumne Kreaturen: Wissenswertes über Esel | |
| Was ist die Lieblingsspeise der Esel? Vor wem beschützen sie die Schafe? | |
| Und wie heißt nochmal der Bürgermeister einer kleinen westdeutschen Stadt? | |
| Wandern in Peru: Mit Esel und Maultier in den Anden | |
| Der Santa Cruz Treck ist der beliebteste Wanderweg durch den Nationalpark | |
| Huascarán. Am Punta Unión führt der Weg auf 4.750 Meter hoch hinauf. | |
| Mangelhafte Erdbebenwarnung in Italien: Seismologen müssen in den Knast | |
| Beim Erdbeben in den Abruzzen kamen über 300 Menschen um. Die zuständigen | |
| Wissenschaftler werden zu langen Haftstrafen verurteilt – und halten sich | |
| für unschuldig. | |
| Nach dem Erdbeben in Italien: Bild der Verwüstung | |
| Rund 5.000 Helfer suchen immer noch nach Überlebenden des Erdbebens in den | |
| italienischen Abruzzen. Derweil wird in Italien lebhaft über Ursachen und | |
| Folgen der Katastrophe debattiert. | |
| Nach Erdbeben in den Abruzzen: Zahl der Opfer steigt auf 250 | |
| Nach dem Erdbeben in Italien suchen Rettungskräfte unermüdlich weiter nach | |
| Überlebenden. Bislang wurden 250 Todesopfer geborgen. Eine Studentin konnte | |
| nach 42 Stunden befreit werden - es geht ihr gut. |