# taz.de -- Bayer Uerdingen gegen Dynamo Dresden: 7:5 für und gegen Deutschland | |
> 30 Jahre nach dem verrücktesten Fußballspiel der Achtzigerjahre | |
> verdichten sich Anekdoten zur Geburtsstunde der Wiedervereinigung. | |
Bild: Uerdingens Wolfgang Funkel verwandelt einen Strafstoß zur 6:3-Führung g… | |
Bald nach dem Abpfiff gelang ein intimer Blick auf die | |
Unterwäschekollektion im real existierenden Sozialismus. Sicherheitskräfte? | |
Waren wohl feiern. Umstandslos gelangte man in die Gästekabine und konnte | |
den Spielern von Dynamo Dresden zusehen, wie sie die Schmach abzuduschen | |
versuchten oder schon aufgedresst herumliefen in ihren einheitlichen weißen | |
Baumwollrippunterhosen. Vollretro, bevor es Retro gab: ein zutiefst | |
hässliches, wiewohl realsozialistisch geschlossenes Bild. | |
Auch der Trainer, Klaus Sammer, saß da in Feinripp gekleidet und stammelte | |
sächsische Satzbrocken schieren Entsetzens: „Endäuschnd, eksdrähm, ein | |
einzsches Gaos, da gähsde under …“ | |
Krefeld, 19. März 1986. Gerade hatte ein Ereignis stattgefunden, welches | |
das Fußballmagazin 11 Freunde später als „Spiel des Jahrhunderts“ küren | |
sollte. Westdeutschlands Pokalsieger Bayer Uerdingen hatte im Viertelfinale | |
des Europapokals das „innerdeutsche Duell“, wie das damals hieß, na ja: | |
gewonnen? | |
Nein, sie hatten Dynamo zertrümmert, kerngeschmolzen: nach 0:2 im Hinspiel | |
und einem weiteren 1:3-Rückstand bis zur 60. Minute durch ein 7:3. Das | |
Spiel Westchemie gegen Ostphysik hatte sich aus Krefelder Sicht zum „Wunder | |
von der Grotenburg“ geweitet. | |
## Sie riefen ihn Herrgott | |
Bei Dynamo spielten Ulf Kirsten, Dixie Dörner und ein sehr lockiger | |
Feuerkopf namens Matthias, der 18-jährige Trainersohn. Uerdingen hatte die | |
Funkel-Brüder auf dem Platz und den Libero der DFB-Elf Matthias Herget, von | |
den Fans fortan Herrgott gerufen. In Krefeld versank seitdem alle paar | |
Jahre Trainer Kalli Feldkamp bei Nostalgieabenden in selbstgerechter | |
Erinnerungsrührung. | |
Doch erst ab dem nächsten Tag begann sich das Drama in toto zu offenbaren. | |
Dynamos Frank Lippmann, Torschütze in beiden Spielen und nur per | |
Stasi-Order gegen den Trainerwillen ins Team gedrückt, setzte sich noch in | |
der Nacht samt seinen Unterhosen aus dem Krefelder Hansa-Hotel ab. | |
Republikflucht! Schande! „Verrat“ notierte die Stasi. Die | |
DDR-Nachrichtenagentur ADN mutmaßte bitter: „Der Spieler Frank Lippmann hat | |
für eine hohe Geldsumme, die ihm sportfeindliche Kreise boten, seine | |
Kameraden verraten.“ | |
Die Stasi-Offiziere vor Ort hatten Lippmanns Abgang durch die Tiefgarage | |
schlicht verpennt. Die Kollegen daheim sägten Clubführung und Trainer | |
Sammer umgehend ab: „Die Arbeitsweise der genannten Genossen“, hieß es, | |
entspreche „nicht mehr den Erfordernissen aus den ihnen übertragenen | |
Aufgaben“ und sei „hinderlich für die Weiterentwicklung des Kollektives“. | |
## Real existierender Klassenfreund? | |
Beim Kameraschwenk über die Ersatzspieler aus dem Osten hatte der | |
ZDF-Reporter einmal erklärt: „Das ist die Dresdner Bank.“ War das schon ein | |
Hinweis auf die bevorstehende Übernahme der gedemütigten Arbeiter und | |
Bauern durch die Krake des Kapitalismus? | |
Noch mysteriöser der ungarische Schiedsrichter Lajos Németh: Er ließ den | |
Uerdingern noch jedes Bluttackling durchgehen (Torwart Vollack: „In der | |
Bundesliga hätte das sechs Rote Karten gegeben“) und schenkte ihnen zwei | |
Elfmeter. Von wegen real existierender Klassenfreund! | |
Im Sommer nach Sammer wurde Németh WM-Schiedsrichter in Mexiko. Im April | |
1989 pfiff er nochmal Dynamo Dresden, nochmal im Westen, beim 0:1 im | |
Uefacup-Halbfinale in Stuttgart. Wieder flog Dynamo raus. Umgehend, am 2. | |
Mai, begannen Némeths Landsleute die Grenzen zu öffnen, mit den bekannten | |
Folgen. Alle Details seiner zersetzerischen Arbeit hat Németh 2014 mit ins | |
Grab genommen. | |
Migrant Lippmann lotste später seine Verlobte und Kind in den Westen – über | |
Ungarn. Er spielte noch drei Jahre mäßig erfolgreich Bundesliga, in | |
Nürnberg und Mannheim. Genau ein Tor gelang ihm – gegen: ja, Bayer | |
Uerdingen, 1987 in Krefeld kurz vor Schluss zum 1:1. Zufall? Lächerlich! | |
## Ohne Bayer-Millionen in der Oberliga | |
Und heute? Dynamo siegt sich mal wieder Richtung 2. Liga – mutmaßlich in | |
akzeptabler Sportwäsche. Friedhelm Funkel hat Samstag, am Jahrestag, sein | |
erstes Spiel im neuen Trainerjob in Düsseldorf; mit dem Schub dieses Datums | |
steht Fortunas Klassenerhalt außer Frage. | |
Uerdingen, längst nicht mehr mit Bayer-Millionen gepampert, kickt derweil | |
in der Oberliga gegen Teams wie SC Kapellen-Erft oder SV | |
Hönnepel-Niedermörmter – somit ist Krefeld nach Bonn und Wuppertal die | |
größte deutsche Stadt, die maximal Fünftligafußball kennt. Aber egal – | |
Krefeld hat ja seine Aufgabe erfüllt: die Wiedervereinigung 7:5 | |
eingeleitet. | |
19 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Bernd Müllender | |
## TAGS | |
Fußball | |
Dynamo Dresden | |
Änis Ben-Hatira | |
Fußball | |
Videobeweis | |
Fußball | |
Fußball | |
Fußball | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Samstagsspiele der Fußballbundesliga: Hoffnung für Hoffenheim | |
Bayern gewinnt, Köln baut aus, Hoffenheim freut sich. Hertha BSC ist durch | |
das 2:1 über den FC Ingolstadt weiter auf Champions-League-Kurs. | |
Kolumne Press-Schlag: Aussterbende Art | |
Darmstadt 98 verweigert sich mit krasser Unprofessionalität der arroganten | |
Attitüde der Ersten Liga. Das kann nur zum Abstieg führen. | |
Kolumne Press-Schlag: Des Fußballs gutes Unrecht | |
Der Videobeweis wird in einigen Ligen demnächst getestet. Ist der Fußball | |
endlich auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit? | |
Kolumne Press-Schlag: Der bärtige Glöckner ist tot | |
Der knochenharte Verteidiger genoss Kultstatus. Man nannte ihn den | |
„bulgarischen Wolf“. Nun starb Trifon Iwanow mit nur 50 Jahren. | |
Ex-Coach von Dynamo über Ostfußball: „Man hätte einen Wessi gebraucht“ | |
Am Tag der Deutschen Einheit trifft Rostock auf Dresden. Helmut Schulte, | |
einst Coach von Dynamo, erinnert sich an die bewegte Erstligasaison nach | |
der Wende. | |
Ostvereine in der Dritten Liga: Treffen der Sitzenbleiber | |
Acht ehemalige DDR-Oberligavereine schüren im Osten die Vorfreude auf die | |
Dritte Liga. Dabei verfehlen die Klubs seit Jahren ihre Ziele. |