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# taz.de -- Die Wahrheit: Spatzenlaune der Natur
> Biologie und Komik: Die lustige Tierwelt und ihre ernsten Erforscherinnen
> – Teil drei der Erkundungen des Humors im Tierreich.
Bild: In einem Ginsterstrauch sitzen aufgeplustert zwei Spatzen und schauen sic…
Die englische Musikerin und Hobbyornithologin Clare Kipps veröffentlichte
1953 ein Buch über die Aufzucht eines Spatzen, der – auf sie „geprägt“ …
zwölf Jahre bei ihr lebte. Die Autorin entwickelte ein besonderes
Verhältnis zu „Clarence“ – ihrem Sperling, der in den Kriegsjahren, da
Clare Kipps im Londoner Luftschutz eingesetzt war, berühmt wurde, weil er
die im Bunker Versammelten unterhielt, so dass sie vorübergehend ihre
Sorgen und Ängste vergaßen.
Es gibt einen Wikipedia-Eintrag darüber: „Neben einigen anderen Tricks war
die Luftschutzkellernummer sehr beliebt: Clarence rannte auf den Ruf
,Fliegeralarm!‘ hin in einen Bunker, den Mrs. Kipps mit ihren Händen
bildete, und verharrte dort reglos, bis man ,Entwarnung!‘ rief. Noch
beliebter waren indes seine Hitlerreden: Der Spatz stellte sich auf eine
Dose, hob den rechten, durch ein Jugendunglück leicht lädierten Flügel zum
Hitlergruß und begann zunächst leise zu tschilpen. Er steigerte dann seine
Lautstärke und Furiosität bis zu einem heftigen Gezeter, verlor dann
scheinbar den Halt, ließ sich von der Dose fallen und mimte eine Ohnmacht.
Clarence wurde so zu einer Symbolfigur der von Hitlers Luftangriffen
geplagten Londoner und ihres Durchhaltewillens.“
## Spatz am Klavier
Clare Kipps Buch über ihn heißt auf Deutsch „Clarence der Wunderspatz“ –
singen konnte er auch, von Kipps am Klavier begleitet. Der Biologe Adolf
Portmann schreibt im Nachwort: „Es mag im Spatzen ein sehr vages
allgemeines Erbschema eines Liedes vorhanden sein, das in der Spatzenwelt
normal gar nicht ausreift, das aber in neuer Umwelt sich entwickelt. Solche
Erscheinungen kennt die Erbforschung da und dort. Das würde uns zeigen, wie
wenig ,frei‘ die normale Entwicklung in einer Gruppe ist, wie viele
Möglichkeiten eine gegebene Sozialwelt erstickt. … Der Gesang des
trefflichen Clarence mahnt an schwere Probleme alles sozialen Lebens.“
Ansonsten begrüßte es Portmann, dass der Bericht sich auf die
Individualität eines Vogels konzentrierte: „Wir wissen durch nüchterne
Beobachtung, dass bei manchen Vogelarten gerade im Gesang starke
Individualitäten sich äußern.“ Außerdem konnte sich Portmann in den
fünfziger Jahren noch darüber freuen, dass sich auch in der biologischen
Forschung langsam Begriffe wie „Stimmungen“ oder „Gemütsleben“ (Jakob …
Uexküll) durchsetzen: „Das Tiergemüt kommt zu Ehren“, schrieb er.
In dem Buch von Clare Kipps hört sich das so an: „Er nahm mir nie etwas
übel und betrachtete mich von klein auf als seine Erretterin aus jeder
Klemme.“ Clarence schlief in Kipps Bett, an ihren Hals geschmiegt. Einmal
wollte eine Freundin in jenem Bett übernachten: „Er lief das Kissen auf und
ab, schalt und drohte und griff schließlich meine Freundin so wütend an,
dass sie als Eindringling gezwungen war, aufzustehen.“
Der erste Teil oder die Einleitung des Gesangs von Clarence „war ein
Ausdruck des Vergnügens, der guten Laune und alltäglichen Lebensfreude,
während der zweite Teil, das eigentliche Lied, ein Verströmen reinen
Entzückens war. Beide Teile waren gewöhnlich in F-Dur, aber der zweite Teil
variierte an Tonhöhe um soviel wie eine kleine Terz, je nach der
Tonstärke.“
## Spatz am Kartentisch
Wenn Clarence es im Luftschutzbunker satt hatte, „nahm er eine
Patiencekarte in den Schnabel und dreht sie darin zehn- oder zwölfmal
herum. Das war glaube ich sein Lieblingstrick, denn er hatte ihn selbst
erfunden und vergnügte sich noch jahrelang damit. … Leider begann er im
Frühjahr 1941 des Lebens in der Öffentlichkeit mit all seinem Glanze
überdrüssig zu werden. … Ich glaube nicht, dass er Sinn für Humor hatte. �…
Es war eine sehr wichtige Grundlage unseres Zusammenlebens, dass wir viele
Stunden friedlicher Betrachtung in Stille zusammen genießen konnten. Ich
liebe weder Geräusche noch zuviel Musik.“
Es gab aber auch Probleme: Clarence war zum Beispiel „sehr heftig dagegen,
daß ich in einem neuen Kleid erschien“. Clare Kipps meint, erst nach seiner
„verspäteten Reife bildete sich sein Charakter, und weil sein Dasein
verhältnismäßig frei von Ereignissen war, blieben sein Verhalten und seine
Gewohnheiten ziemlich gleich. … Sein Charakter war – abgesehen von seinem
wilden Temperament und der Eifersucht – ohne Makel.“
In dem Kapitel über sein letztes Lebensjahr heißt es: „Das stolze Gebaren,
das wählerische Verhalten und der tyrannische Eigensinn waren verschwunden
…“ Clarence erwies sich als sehr weise – „es fiel mir immer schwerer, i…
als einen gewöhnlichen Vogel zu betrachten.“ Abschließend schreibt Clare
Kipps: „Wenn meine Vermutung richtig ist, dann ist die Psyche eines kleinen
Vogels von größerem Interesse, als es die Ornithologen bisher angenommen
haben. … Daß seine Intelligenz überragend war, glaube ich nicht. Ich bin
klügeren Vögeln begegnet. Was ihn so interessant und reizend machte, war
die Fähigkeit, durch das Medium der ungewöhnlichen Umgebung seine
Vogelnatur in einer Sprache auszudrücken, die ein menschlicher Verstand
begreifen und an der er teilhaben konnte. Und darin war er vielleicht
einzigartig.“
Das lässt sich auch von meinem Spatz sagen, den ich in den frühen
Sechzigern großzog, leider nicht zwölf Jahre lang. Er war aus dem Nest
gefallen. Zwar hatte ich damals keine Ahnung vom Füttern eines solchen
Jungvogels, aber meine Eltern halfen mir – wir probierten einfach alles
aus. Und er entwickelte sich gut. Im Sommer kam er mit aufs Land. Und dort
mauserte er sich zu unserem interessantesten Haustier. Bei Spaziergängen im
Wald flog er voraus, landete aber immer wieder auf der einen oder anderen
Schulter und erzählte uns von da aus alles Mögliche. Er unterhielt sich
gern mit uns. Im Haus stürzte er sich auf den Frühstückstisch, landete
dabei auch mal im Honig oder in der Marmelade – und musste jedes Mal mühsam
gewaschen werden.
## Spatz im Auto
Auch flog er gern auf den in der Sonne liegenden Dackel und zupfte ihm
graue Haare aus dem Fell. Mittags schlief er bei meinem Vater zwischen
Schulter und Wange. Einmal schlüpfte er nachts unter den Bauch des
Meerschweinchens, das ihm daraufhin gedankenverloren die Flugfedern
anknabberte. Der Spatz, der Benjamin hieß, konnte danach eine ganze Weile
nur noch schlecht fliegen, er blieb aber fröhlich und unternehmungslustig.
Am liebsten fuhr er im Auto mit, wobei er sich auf die Rückenlehne des
Fahrers setzte und sich auf den Verkehr konzentrierte.
Monatelang erzählten wir anderen Leuten nur noch Geschichten, in denen er
die Hauptrolle spielte. Schon bald war er unser beliebtestes
Familienmitglied. Wenn einer von uns nach Hause kam, war die erste Frage:
„Wo ist Benjamin, was macht er?“
Wir kamen zu der Überzeugung, dass er sich als Mensch begriff, Vögel, auch
Spatzen interessierten ihn nicht, und der Größenunterschied zwischen sich
und uns schien ihm nichts auszumachen. Als er starb, der Hund hatte im
Halbschlaf um sich geschnappt, als er stürmisch auf ihn zuflog – und ihn
aus Versehen dabei mit den Zähnen erwischt, trauerten wir wochenlang um
ihn, auch der Hund. Der Spatz wurde im Familiengrab auf unserem Grundstück
beerdigt.
Ich will mit diesen „Anekdoten“, wie die quantifizierende
Verhaltensforschung diese Spatzen-Geschichten nennt, darauf hinaus, dass
die darin enthaltene „Annäherung“ nicht im Sinne einer immer größeren
„Genauigkeit“, sondern als genau der Ort des Durchgangs zu dem, was
geschieht, zu verstehen ist. Das ist doch witzig.
8 Mar 2016
## AUTOREN
Helmut Höge
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Humor
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