# taz.de -- Debatte Grüne Politik in BaWü: Das Kretschmann-Prinzip | |
> Ist der Ministerpräsident so standhaft, wie er tut? Ach was. Wenn es | |
> ernst wird, geht er Konfrontationen gerne aus dem Weg. | |
Bild: Personalisierung, Biegsamkeit und postdemokratisch anmutende Vagheit: Win… | |
Der [1][TV-Spot der Grünen zur Landtagswahl] ist völlig politikfrei und | |
genau deshalb so genial. Winfried Kretschmann arbeitet in einer Werkstatt. | |
Der baden-württembergische Ministerpräsident sägt, hobelt und schleift, er | |
pustet Sägespäne weg und schaut prüfend auf das Brett, das ein | |
Spielzeugauto werden soll. „Dran bleiben an den Zielen, standhaft in den | |
Überzeugungen, glaubhaft in den Aussagen“, tönt Kretschmanns sonore Stimme | |
aus dem Off. Am Ende des Films steigt er, nun im Anzug, in seine | |
Dienstlimousine. | |
Was Kretschmann als Ministerpräsident tun will, erfährt der Zuschauer mit | |
keiner Silbe. Sicher, sich über inhaltsfreie Fernsehwerbung zu mokieren, | |
ist etwas unterkomplex. Aber in diesem Fall steht die Inhaltsleere für | |
etwas: das Kretschmann-Prinzip. Der Verzicht auf Inhalte, die Unterordnung | |
aller Themen unter seine Person sind die Bausteine seines Erfolgs. | |
Viele Grüne und Teile der Medien überhöhen Kretschmann als Politiker neuen | |
Typs: Er zitiert Hannah Arendt, praktiziert eine „Politik des | |
Gehörtwerdens“ und erfindet mindestens die Demokratie neu. Diese Sicht | |
wirkt unpolitisch, weil sie die Inhalte aus dem Blick verliert, aber auch | |
die Schattenseiten von Kretschmanns sensationellem Erfolg. Er bleibt eben | |
nicht an Zielen dran, wenn sie ihm schaden könnten. Seine Überzeugungen | |
sind flexibel. Wer behauptet, Kretschmann sei glaubhaft in seinen Aussagen, | |
der muss mit riesigen Widersprüchen leben. | |
Deshalb ein kurzer Blick auf Inhalte, ausnahmsweise. Seit über einem Jahr | |
tobt die Debatte über eine neue Erbschaftssteuer – ein möglicher Hebel, um | |
die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland zu schließen. Sie | |
kommt den Ländern zugute, welche, teils hoch verschuldet, unter der Last | |
der Flüchtlinge ächzen. Eigentlich müsste Kretschmanns Regierung die Steuer | |
gut und richtig finden. Der grün-rote Koalitionsvertrag legt fest, dass | |
Spitzenverdiener und Menschen mit sehr hohen Vermögen einen zusätzlichen | |
Beitrag für das Gemeinwesen leisten sollten. | |
## Er ignorierte das Allgemeinwohl | |
Als aber vor einem Jahr der Bundesfinanzminister einen Vorschlag | |
präsentierte, der die meisten Firmenerben von der Steuer befreit und nur | |
Superreiche belastet hätte, da ging dies ausgerechnet Baden-Württemberg zu | |
weit. Der SPD-Finanzminister Nils Schmid stimmte ins Geheul der | |
Unternehmerverbände ein, Kretschmann hingegen schwieg. | |
Der Chef ließ seinen Minister gewähren, weil er Angst hatte, sonst als | |
Mittelstandsfeind hingestellt zu werden. Die Reform, die bald in Kraft | |
tritt, schützt nun vor allem die Privilegien der Vermögenden. Kretschmann | |
praktizierte also in diesem Fall eine sehr eigene Politik des | |
Gehörtwerdens: Er hörte auf die Finanzeliten, aber ignorierte das | |
Allgemeinwohl. | |
Ähnlich lief es bei den Gigalinern, überlangen Lastwagen, die neuerdings in | |
einem Modellversuch auf Baden-Württembergs Autobahnen fahren dürfen. | |
Kretschmanns Regierung legte eigentlich per Koalitionsvertrag fest, diese | |
Lkws nicht zuzulassen. Doch die drängenden Anfragen der Daimler-Chefs im | |
Stuttgarter Staatsministerium zeigten Wirkung, Kretschmann verdonnerte | |
seinen Verkehrsminister zum Schwenk. Gegen die Wirtschaft, so das Kalkül, | |
gewinnt man eben keine Wahlen. | |
Wenn es ernst wird, ordnet Kretschmann also seine Überzeugungen der | |
Notwendigkeit des Machterhalts unter – wie viele andere Politiker auch. Nun | |
ist eine gewisse Biegsamkeit nötig, ja geradezu die Voraussetzung für | |
Erfolg in der Politik. Aber was bei Kretschmann verblüfft, ist die | |
Schnelligkeit, mit der er Zugeständnisse macht. Würden konservative Wähler | |
wirklich das Weite suchen, wenn Kretschmann absurd reiche Firmenerben | |
besteuern wollte? Davon ist nicht auszugehen, der Unterschied zwischen der | |
Verbandspropaganda und der Realität hätte sich erklären lassen. Was wäre | |
passiert, hätte Kretschmann Daimler abgesagt? Wenig bis nichts. | |
## Nachgeben ohne Widerstand | |
Der Mann, der vorgibt, standhaft zu sein, gibt also nach, ohne überhaupt | |
auf Widerstand gestoßen zu sein. Aus Angst vor schlechter Presse übt sich | |
Kretschmann in vorauseilendem Gehorsam. Ein solches Verhalten aber bricht | |
nicht nur Versprechen, die den Wählern gegeben wurden. Es schadet auch dem | |
demokratischen Diskurs, den Kretschmann an anderer Stelle gerne hochhält. | |
Auch in der Flüchtlingspolitik gehen progressive Inhalte durch das | |
Wegducken Kretschmanns verloren. Bei den Grünen ist es ein offenes | |
Geheimnis, dass seine Bereitschaft nachzugeben die eigene | |
Verhandlungsposition minimiert. Die grün mitregierten Länder haben unter | |
Kretschmanns Führung harte Asylrechtsverschärfungen abgesegnet, aber sie | |
haben kaum etwas dafür bekommen. | |
Erinnert sich noch jemand daran, das Kretschmann sich 2014 dafür lobte, die | |
Residenzpflicht abgeschafft zu haben? Oder daran, dass Flüchtlinge | |
angeblich nach drei Monaten arbeiten dürfen sollten? Solche Erfolge sind | |
längst wieder perdu. Was der Ministerpräsident und seine Vertrauten als | |
„pragmatischen Humanismus“ verkaufen, ist das Eingeständnis, dass die | |
Grünen aus Furcht vor der Skepsis der Mittelschicht bereitwillig ein ganzes | |
Politikfeld räumen. | |
Kretschmann wird in Baden-Württemberg ein sensationelles Ergebnis holen, | |
grüner Konservatismus ist hier ein Erfolgsmodell. Der Nachteil dieses | |
Konzepts ist, dass ihm jeder Mut fehlt, wenn Ideen im Spiel sind, die der | |
Mainstream nicht mag. Wenn es anfängt wehzutun, wenn es um Geld, die | |
Wirtschaft oder die Verteilung von Reichtum geht, dann sollte man besser | |
nicht auf Kretschmann setzen. Dafür gibt es einen Nationalpark im | |
Schwarzwald und mehr Windräder, progressiver als eine CDU-Regierung ist | |
Kretschmann allemal. | |
Strikte Personalisierung, Biegsamkeit und postdemokratisch anmutende | |
Vagheit: Kretschmann ist nicht der Einzige, der diese Strategien für sich | |
entdeckt. Angela Merkel praktizierte sie bis zur Flüchtlingsdebatte äußerst | |
erfolgreich. Was einen bei dem Grünen so ratlos zurücklässt, ist diese | |
abenteuerliche Kombination: Einerseits Hannah Arendt hochzuhalten, aber | |
dann auf die Entpolitisierung des Politischen zu setzen – das passt einfach | |
schlecht zusammen. | |
4 Mar 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://youtu.be/GWypaHSWcOA | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
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