# taz.de -- Klassenkampf in Dresden: Der letzte Stalinist | |
> Seit mehr als 20 Jahren kämpft Hans-Jürgen Westphal auf Dresdens Straßen | |
> für den Kommunismus. Auch im Netz agitiert er. | |
Bild: Trägt den Pullover eines verstorbenen Genossen: Unikat Westphal | |
DRESDEN taz | Wo ist der Mann mit der roten Fahne? Hat womöglich die Klasse | |
der Bourgeoisie zugeschlagen und ihren schärfsten proletarischen Feind | |
liquidiert? Hans-Jürgen Westphals Dresden verlöre sein letztes Original und | |
die Welt den vermutlich letzten glühenden Stalinisten. | |
Plötzlich radelt er wie eh und je durch die Prager Straße, dem wichtigsten | |
Boulevard Dresdens. Die große rote Fahne mit dem gelben Symbol von Hammer | |
und Sichel weht im Fahrtwind. Im Gepäckkorb drängen sich Broschüren mit | |
selbst verfassten Traktaten und Gedichten, einige der 88 von ihm | |
produzierten CDs und ein Stapel Zeitungen. | |
Früher war es die Rote Fahne der Kommunistischen Partei Deutschlands, jetzt | |
ist es die der marxistischen Tageszeitung Junge Welt. Am Zielort, dem | |
Karstadt, nimmt Hans-Jürgen Westphal Aufstellung. Direkt vor einem Tempel | |
des Kapitalismus, dem Systemfeind. | |
## Che Guevara Dresdens | |
Vollbart, Nickelbrille und die Che-Guevara-Mütze mit dem Roten Stern | |
gehören zu den unvermeidlichen Attributen. Die Klamotten – ein Begriff für | |
Kleidung in der spätkapitalistischen Epoche – bekam er sämtlich geschenkt. | |
Den braunen Pullover vor allem, von einem verstorbenen Genossen übereignet, | |
wird er in Ehren halten, „bis er zerfällt“. So steht er – der letzte | |
Stalinist –, die Fahne über der Schulter, und verteilt Broschüren an | |
Passanten. Er versucht es zumindest. | |
Vor über 25 Jahren ist seine geliebte Deutsche Demokratische Republik | |
zerfallen. Das Kürzel DDR verwendet Westphal nicht. Und der 3. Oktober? | |
„Selbstverständlich ein tiefer Schmerz für jeden klassenbewussten | |
Proletarier.“ Ein Trauertag. Seine 89. Scheibenproduktion wird eine DVD mit | |
dem Titel „25 Jahre Restauration“ sein. | |
„Denn die Deutsche Demokratische Republik besaß eine Gesellschaftsordnung, | |
in der sich die Produktivkräfte entfalten konnten, und sie war ein | |
Friedensstaat!“ Die Starkstromanlagen, die in seinem volkseigenen Betrieb | |
„Otto Buchwitz“ einst für den Irak gebaut wurden, hätten die Amerikaner im | |
Krieg zerstört. | |
## Abwechslungsreiche Wege | |
In dieser DDR ging der 1951 in Anklam geborene Westphal abwechslungsreiche | |
Wege. Selbstverständlich drei Jahre Nationale Volksarmee, danach weitere | |
drei Jahre Studium der Ingenieurpädagogik. Als solcher beim VEB | |
Starkstromanlagenbau, dann Kreissparkasse Meißen, Museum für Geschichte der | |
Stadt Dresden, sieben Jahre im VEB Kombinat Obst, Gemüse, Speisekartoffeln. | |
1984 begann er ein fünfjähriges Fernstudium zum Ingenieur-Ökonomen. So | |
etwas gab es so nur in der DDR. | |
Kurz vor der Wende war Westphal Leiter der Allgemeinen Verwaltung im VEB | |
Kupplungswerk Dresden. Am Tag vor der deutschen Einheit wurden alle in die | |
„Kurzarbeit null“ geschickt, erinnert er sich. | |
Was danach folgte, war eine mehrfache Enttäuschung: vom Kapitalismus – und | |
von den Parteien. 1991 hatte er noch im damaligen „Haus der Begegnung“ der | |
Dresdner PDS den „Kleinen Buchladen“ eröffnet, musste aber ein Jahr später | |
aufgeben. Seither ist er „wegen der kapitalistischen | |
Produktionsverhältnisse“ arbeitslos, dies aber durchaus mit Überzeugung. | |
Denn den Verkauf seiner Ware Arbeitskraft hält er unter diesen Bedingungen | |
„nicht gerade für ehrenwert“. | |
Im übelsten Fall könne er womöglich bei einer Bank, in der Medienbranche, | |
bei der Bundeswehr oder im Rotlichtgewerbe landen. Und nichts Schlimmeres | |
könnte passieren, als die Klasse des Proletariats zu verlassen, der er sich | |
leidenschaftlich zugehörig fühlt. Doch wer das Proletariat nach dem Ende | |
der DDR vertrat, war auf einmal nicht mehr klar. | |
## Agitation – dank Grundsicherung | |
1978 trat Westphal der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) | |
bei. Die Nachfolgepartei PDS verließ er 1994. In der KPD glaubte er dann | |
die wahren Kommunisten zu finden, bis die ihn 1999 rausschmiss, weil sie | |
gegen eine Wahllistenverbindung mit der revisionistischen PDS gestimmt | |
hatten. | |
Im neuen System hat sich Westphal arrangiert. Er absolvierte einige von der | |
Arbeitsagentur verordnete Pflichtfortbildungen – unter anderem zum | |
Finanzbuchhalter (!). Seither bezieht er Grundsicherung und agitiert im | |
Dienste des Volkes. „Ich bin kein Missionar, der einen Erlöser verkauft, | |
sondern ein wissenschaftlich denkender Mensch!“ Mit dem möglichst täglichen | |
Einsatz genüge er nur seiner Klassenpflicht. | |
Dazu gehört auch, Passanten mit aus der Zeit gefallenen Begriffen aus dem | |
Staatsbürgerkundeunterricht zu beschallen. Und mit abgegriffenen | |
ideologischen Feindbildern. Der Mensch: durch das kapitalistische System | |
sich selbst der nächste. Der Rundfunk: ein Klasseninstrument der | |
imperialistischen Bourgeoisie. Pegida: blind gegen den wahren Feind, die | |
Ausbeuterklasse. Nur selten blitzt ein Zweifel auf, ob die Fronten dieser | |
Welt nicht etwas komplizierter verlaufen. | |
Sicherheit geben auch die alten Kampfgenossen. Ein Arbeitsloser hilft beim | |
Zettelverteilen, Westphal grüßt eine Flaschensammlerin mit dem großen | |
Beutel, sozusagen das Lumpenproletariat. Einige dunkelhäutige Roma aus der | |
Slowakei weiß zu berichten: „Kommunist gut! Früher Arbeit, Zuhause, Schule, | |
heute alles weg!“ Für die übrigen Passanten ist nicht klar, ob nicht ein | |
Gaukler oder Straßenkabarettist dort steht. | |
Westphal erntet jedoch keinesfalls nur Spott: „Der bleibt wenigstens | |
linientreu – Wendehälse hatten wir genug“, sagt ein Dresdner. Heimliche | |
Bewunderung für einen Standhaften. Dafür hat Westphal auch schon einiges | |
einstecken müssen. Im Sommer 2010 wurde er auf offener Straße angegriffen. | |
## Online ist Klassenpflicht | |
Seit einigen Jahren hat Westphal ohne ideologische Vorbehalte die digitale | |
Welt entdeckt. Internet sei auch nur „ein von Proletariern hergestelltes | |
Produkt“, seine Nutzung Klassenpflicht. Dort verbreitet er seine | |
Entertainerversuche als Sänger und Instrumentalist. „Die BRD ist nicht | |
unser Staat, das war sie nie …“, klingt es heiser zu wuchtigen Schlägen der | |
E-Gitarre. In „Stalinwerke“ wird das Vorbild des Generalissimus gepriesen. | |
Auf einer CD zum 13. Februar, dem Tag der Bombardierung Dresdens kurz vor | |
Kriegsende, verkündet er: Das war der Feind! | |
Dabei ist bei Privatbegegnungen mit dem kauzigen Typ erst einmal wenig von | |
Klassenfeindschaft zu spüren. Proletarische Direktheit ist angesagt, in | |
gepflegtem Deutsch sogar mit bildungsbürgerlichem – nein: | |
bildungsproletarischem Anstrich. Denn lateinische Wendungen liebt Westphal | |
über alles. Und wenn am Wochenende Großreinemachen zu Hause angesagt ist, | |
dröhnt Wagners „Rienzi“ aus den offenen Fenstern. Nur zu Diskussionsrunden | |
einladen sollte man ihn nicht. Die dominiert er in der Art eines geschulten | |
Agitators, der immer das letzte Wort haben muss. | |
Das letzte Wort der Weltgeschichte wird nach fester Überzeugung Hans-Jürgen | |
Westphals der Kommunismus haben. „Der Tag des Sieges kommt!“ Auch wenn es | |
derzeit überhaupt nicht den Anschein haben mag. | |
11 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
## TAGS | |
Dresden | |
Kommunismus | |
Aktivismus | |
DDR | |
DDR | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kommunisten treffen sich in Bremen: Vorwärts, und nicht vergessen | |
60 Jahre nach dem Verbot der KPD: Aufrechte Linke, verfolgte Kommunisten | |
und Freunde der DDR treffen sich und klagen über Demokratieabbau. |