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# taz.de -- Zum Weltlepratag am 31. Januar: Ihre Haut erzählt eine Geschichte
> Die Brasilianerin Evelyne Leandros hat in einer Hamburger Klinik die
> Lepra besiegt. Eine Krankheit, die in Deutschland als ausgestorben gilt.
Bild: Evelyne Leandro im Dezember 2015 in einem Café in Berlin.
Ein Nachmittag in einem gemütlichen Café im Berliner Wedding drei Jahre
nach dem Beginn ihrer Behandlung. Evelyne Leandro trägt ein langes Kleid,
außerdem rote Ohrringe zu ihren kurzen, rötlichen Haaren. Sie bestellt
einen Tee und beginnt zu erzählen. Am Nachbartisch sitzen zwei ältere Damen
vor den Resten ihrer Käseplatte und lauschen den Worten Evelynes.
Kurz darauf wühlt die eine in ihrer Handtasche, drückt Evelyne ein Buch in
die Hand und sagt: „Lesen Sie Seite 48 bis 52, das schenke ich Ihnen!“
Verdutzte Blicke. Dann fügt die Dame hinzu: „Sie sind sehr jung und stark!
Eine Inspiration. Ihr Lächeln. Sie sind so positiv. Jetzt schenke ich Ihnen
ein wenig Inspiration zurück.“
Eine Begegnung, die viel verrät. Darüber, wie die Leute auf ihre Geschichte
reagieren. Und warum es Evelyne Leandro so wichtig ist, ihre Erlebnisse zu
teilen. „Ich glaube nicht an Zufall“, sagt die 34-Jährige. Deshalb will sie
ihre ganze Geschichte erzählen, nicht erst die seit dem Ausbruch der
Krankheit.
## Von Bahia nach Berlin
Evelyne Leandro wächst mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in einer
Kleinstadt im Bundesstaat Bahia im nördlichen Brasilien auf. Ihr Vater ist
Fernfahrer, ihre Mutter Friseurin. Die Straße vor dem Haus der Familie ist
damals noch ungeteert. Erde, wenn es regnet: Schlamm. Dazu das ganze Jahr
über Temperaturen um die 35 Grad. Eine öffentliche Wasserversorgung gibt es
nur unregelmäßig.
In der Grundschule ist Evelyne Leandro eine der Besten. Schon damals wollte
sie irgendwie mehr. Und schafft es. Sie macht einen Hochschulabschluss in
Betriebswirtschaftslehre und verdient bald ihr eigenes Geld. Sie lernt
ihren zukünftigen Mann kennen – einen deutschen Entwicklungshelfer.
Gemeinsam entscheiden sie, nach Berlin zu ziehen. Leandro ist ehrgeizig,
lernt schnell Deutsch und schafft den beruflichen Einstieg im
Unternehmensmanagement.
Leandro hofft auf die Beförderung in ihrer Firma, da entdeckt sie Flecken
an ihrem Körper. Am linken Arm, am rechten Knie und an der Wade. Sie fragt
ihren Hausarzt, doch der ist ahnungslos. Auch später im Krankenhaus können
die Ärzte keine Diagnose stellen. Leandro ist verzweifelt – keiner weiß,
was mit ihr ist. Die Flecken werden mehr, die betroffenen Hautstellen
schmerzen. Am 30. Januar 2012 – einen Tag nach dem Weltlepratag –
bestätigen die Ärzte die Infizierung mit Lepra.
## Die Flecken schmerzen, breiten sich über den Körper aus
„Tja, damals trug ich noch lange, lockige Haare“, sagt Evelyne Leandro
zurückblickend. Sie hat sie geopfert im langen Kampf gegen die Krankheit,
den sie nach der Diagnose in einer Hamburger Tropenklinik geführt hat. Die
Entfernung von ihrem Mann ist das Schlimmste, die Einsamkeit im
Krankenbett, dazu die Schmerzen der Flecken, die sich über den ganzen
Körper ausgebreitet haben. Doch die Ärzte in Hamburg können ihr helfen.
Die Nebenwirkungen der Polychemotherapie, eine ähnliche Behandlung wie bei
Krebs, setzen ihr zu. Täglich drei verschiedene Antibiotika. Wenn sie die
Schmerzen nicht mehr aushält, erhält sie Cortison. Das Auf und Ab der
Gefühle zermürbt sie, längst bedingen sich ihr psychischer und ihr
physischer Zustand. Leandro möchte die Kontrolle zurückgewinnen, informiert
sich über Lepra.
Es ist der Moment, in dem ihr die Bedeutung ihrer Krankheit bewusst wird.
Eine Krankheit, die in den Köpfen in Deutschland nur noch als Klischee
existiert. Menschen mit verbeulten Gesichtern, mit denen man jeden Kontakt
scheut. In Wahrheit ist Lepra kaum ansteckend.
## Die kleinen Erfolge im Kampf gegen die Krankheit
Evelyne Leandro möchte über diese, ihre Krankheit reden. Das schafft sie
zunächst nur im Dialog mit Papier. Sie beginnt Tagebuch zu schreiben, aus
dem sie später ein Buch entwickeln will. Das hat sie mittlerweile im
Selbstverlag herausgegeben. Im Tagebuch möchte sie die kleinen Erfolge
festhalten; als sie es schafft, trotz der täglichen Einnahme von 31
Tabletten, vier Stunden auf dem Konzert von Bruce Springsteen im Berliner
Olympiastadion zu stehen.
Evelyne Leandro lächelt bei dem Gedanken daran. Sie hat ein weiteres Talent
an sich entdeckt, ihren Charme, ihre Überzeugungskraft. Die Leute hören ihr
gern zu. Ihr Tee ist mittlerweile leer, sie bestellt einen zweiten, die
beiden Damen vom Nachbartisch haben sich verabschiedet.
Leandro schlägt das Buch auf, das sie geschenkt bekommen hat, und
überfliegt Seite 48, dann liest sie vor: „Es bleibt uns nichts anderes
übrig, als die Tatsachen zu akzeptieren, anzunehmen, durchzustehen und den
Mut nicht zu verlieren. Auf das Wie kommt es an, wie ich mit
Schicksalsschlägen umgehe, ob ich mich in meinem Schmerz vergrabe oder ob
ich auch noch lachen kann.“ Sie lächelt. Es hätte von ihr sein können.
## „Ich möchte die Welt ein bisschen schöner machen“
Als Leandro nach Deutschland kam, führte sie einen Blog über die
kulturellen Missverständnisse zwischen Deutschland und Brasilien. Sie
nutzte die Schwierigkeiten der Integration, um etwas Positives zu
erschaffen. „Ich möchte die Welt ein bisschen schöner machen“, sagt sie.
Nicht darauf warten, dass sie eines Tages schöner wird.
Diese Denkweise half ihr, die Krankheit zu überwinden. Nach einem halben
Jahr Chemotherapie nimmt sie die Dinge selbst in die Hand, findet heraus,
dass es eine alternative Behandlung gibt, um das Immunsystem zu stärken:
Thalidomid – besser bekannt unter dem Markennamen „Contergan“. Um die
Behandlung zu verkürzen, möchte sie die möglichen Nebenwirkungen in Kauf
nehmen. Kinder wollte sie eh nie bekommen.
Schon bald bessert sich ihr Zustand. Wenn es ihr nicht gut geht, hört sie
klassische Musik, geht es ihr besser, beginnt sie langsam, Dinge in ihrem
Leben zu verändern. Sie beschäftigt sich mit Minimalismus, sortiert ihren
Kleiderschrank aus, verabschiedet sich von dem Lebensziel, reich zu werden.
Ein Sommer vergeht, ohne dass sie Zeit in der Sonne verbringen darf, zu
sehr schmerzen dabei die verletzten Stellen.
## Mit dem neuen Job kommt der Optimismus
Als sie die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe in Würzburg kennenlernt,
findet sie das erste Mal Menschen, mit denen sie offen über ihre Krankheit
reden kann; es wirkt wie eine Befreiung. Sie erhält die Aussicht auf einen
Job und ihr Optimismus kehrt zurück.
Mit diesem Optimismus ist Leandro im Berliner Norden heimisch geworden. In
einem Mehrfamilienhaus wohnt sie mit ihrem Mann und ihren Stiefkindern in
einer Wohnung. Während draußen der Regen den Schnee in Matsch verwandelt,
ist es drinnen gemütlich.
Leandro blickt aus dem Fenster und sagt: „Normalerweise sehe ich von hier
den Fernsehturm. Wenn es nicht so neblig wäre.“ Ein Blick über ihr Berlin.
„Eigentlich sollte man hier nicht sein, es gibt kaum berufliche
Perspektiven, trotzdem ist es toll, hier zu leben.“ Sie spricht stets
liebevoll über diese Stadt. Dass die nun ihr Zuhause ist, ist Symbol ihres
Erfolgs. Weil sie wieder das Beste draus gemacht hat.
## Keine Zeit für die Hängematte
Wie ihre Lieblingsstadt ist sie immer auf Trab. Aber nicht gehetzt, sondern
mit der Gelassenheit der Überzeugung, die eigenen Träume Stück für Stück zu
realisieren. Sie berät eine Schweizer Stiftung, die Lepra bekämpft,
arbeitet mit dem Aussätzigen Hilfswerk Österreich zusammen, ist
Bildungsreferentin für Entwicklungspolitik und organisiert Workshops für
eine Berliner Nachbarschaftsinitiative. Leandro ist eine Allrounderin. „Ich
versuche etwas. Wenn das nicht funktioniert, probiere ich etwas Neues.“
Über das Parkett des Wohnzimmers ist eine Hängematte gespannt. Sie könnte
sich darin ausruhen – wenn sie nicht ständig so viel zu tun hätte. Später
muss sie zu einem Richtfest in ihrer Funktion als Beirat im
Quartiersmanagement.
Ihre Hauptaufgabe aber bleibt ihr Buch und ihre Geschichte. Es stehen
weitere Lesungen und Vorträge an, zunächst in Bayern und in Österreich.
## Eine taube Stelle ist am Oberarm geblieben
Sie streichelt über ihren linken Oberarm, wo eine taube Stelle geblieben
ist, und sagt: „Meine Haut erzählt eine Geschichte.“ Zum Beispiel jene, als
sie nach der Heilung eine Reha machen wollte, um bald wieder ins
Berufsleben zurückzukehren, und die Rentenversicherung ihr schrieb: Das
Risiko einer Ansteckung sei zu hoch, außerdem sei ihr Fall nicht zu retten,
sie solle Invalidenrente beantragen. Leandro widersprach und die
Rentenversicherung prüfte das Ansteckungsrisiko mehrere Monate. Ein Blick
in ein Medizinbuch hätte gereicht: Während der Behandlung sinkt das
Ansteckungsrisiko auf null.
Nun will Leandro gegen das Unwissen angehen: „Die Fragen hören bis heute
nicht auf. Aber sie haben sich geändert. Es geht nicht mehr um mich,
sondern warum diese Krankheit überhaupt noch existiert.“ Gäbe es überall
auf der Welt bessere Lebensbedingungen und eine ordentliche
Wasserversorgung, wären Krankheiten wie Dengue-Fieber und Malaria längst
verschwunden.
Auch werde nicht ausreichend geforscht, kritisiert Leandro. Die Entwicklung
neuer Antibiotika gehe seit Jahrzehnten zurück. „Dafür finden sich in jeder
Apotheke 20 Medikamente gegen zu hohen Blutdruck“, sagt Leandro. „Die
Menschen, die heute solche Krankheiten haben, sind keine attraktive
Zielgruppe für die Pharmaindustrie.“
In Deutschland hatte Leandro beste Chancen, gesund zu werden. Die
Krankenversicherung bezahlte die Medikamente und die Ärzte hatten über ein
Jahr lang ein Auge auf sie. Ein Privileg, das keines sein sollte, schreibt
sie in ihrem Buch. Bis sich das ändert, scheint es noch ein langer Weg zu
sein. Evelyne Leandro möchte ihn verkürzen. Sie hat ihre Aufgabe gefunden.
Jenen Sinn der Erkrankung, den sie so lange gesucht hat.
30 Jan 2016
## AUTOREN
Fabian Grieger
## TAGS
Krankheit
Contergan
Kino
Arzneimittel
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