| # taz.de -- Kolumne Down: Deniz. Und das Wesentliche | |
| > Was wäre, wenn? Wenn alles anders wäre? Dann wäre manches gewiss besser. | |
| > Aber wir wären nicht wir. | |
| Bild: So sieht es aus: Das Wesentliche. | |
| Manchmal frage ich mich, wie Deniz wäre, wenn all seine Chromosonen intakt | |
| wären. Es ist ein Gedankenspiel, welches mich gelegentlich überkommt, wenn | |
| ich Gleichaltrige sehe. | |
| Er ist nun 24 Jahre alt, in dem Alter studierte ich und packte meinen | |
| Rucksack, um die Welt zu entdecken. Was würde mein Bruder machen, wenn er | |
| uneingeschränkte gesellschaftliche Teilhabe hätte? Was wäre er für ein | |
| Junge? Einer, der die älteren Schwestern nervt, weil er sich bei ihnen | |
| durchschnorrt? | |
| Einer, der introvertiert in der Uni-Bibliothek sitzt, um an einer | |
| Hausarbeit zu werkeln? Heute ist er kleinwüchsig, wäre er als gesunder Mann | |
| groß? Und wen würde er lieben? Wie würde sein Freundeskreis ausschauen? | |
| Würden wir gemeinsam auf Konzerte gehen? | |
| Stattdessen lebt er immer noch zu Hause. Er spricht nie von Träumen oder | |
| Zielen, weil er nicht über das Langfristige nachdenken kann. Er wird | |
| ausgegrenzt von uns Gesunden. Vergangenheit und Zukunft finden bei ihm | |
| gedanklich nicht statt, weil er nur im Hier und Jetzt denkt. Wenn andere | |
| junge Männer in die Clubs gehen, dann geht er ins Bett. Wenn Gespräche ein | |
| klein wenig anspruchsvoller werden, dann versteht Deniz meistens nicht, | |
| worum es geht. | |
| ## Ohne Lüge leben | |
| Ich wechsele die Perspektive und sehe seine Potenziale und Möglichkeiten: | |
| Deniz kann nicht lügen, weil er keine Fassaden aufrechterhalten kann. Er | |
| hat eine unendliche Leichtigkeit, weil er die Alltagsprobleme von uns | |
| Gesunden überhaupt nicht kennt. Er ist herrlich unbekümmert, weil er sich | |
| keine Sorgen um seine Zukunft macht. Er ist unvoreingenommen, weil er | |
| Schubladendenken nicht beherrscht. Er kann allein mit dem Bus fahren, wenn | |
| wir das vorher mit ihm üben. Ich mag es, dass er instinktiv handelt ohne | |
| feste Regeln im Kopf. | |
| Ich sehe, was er nicht kann: Er wird niemals eigene Kinder haben, weil | |
| Männer mit dem Downsyndrom nicht zeugungsfähig sind. Er wird niemals allein | |
| wohnen, weil er dies nicht organisieren könnte. Er wird niemals allein | |
| verreisen, weil er dann verloren wäre. Er wird niemals ein ganzes Buch | |
| lesen lernen, weil seine Konzentration so schwach ist. | |
| Deniz wird niemals eigenverantwortlich leben. Er wird niemals solch banale | |
| Erfahrungen machen, wie es sich anfühlt, seine Miete nicht bezahlen zu | |
| können – solche Aufgaben übernehmen andere für ihn. Schon allein an einer | |
| Supermarktkasse anzustehen macht ihm Angst. | |
| Ich kenne unser größtes Problem: Seine Lebenserwartung ist nicht so hoch. | |
| Ich sehe, was er mir als Schwester schenkt: Authentizität. | |
| Meine Gefühle schwanken zwischen Einerseits und Andererseits. | |
| Ich denke: Dennoch, alles ist gut so, wie es ist. Seine Trisomie 21 macht | |
| mich sogar glücklich, weil er uns damit immer wieder auf das Wesentlich | |
| zurückwirft. Auch wenn es nicht immer leicht ist mit seiner Behinderungen, | |
| aber ohne ihn wäre ich nicht die, die ich heute bin. | |
| Es ist meine letzte „Down“-Kolumne, und ich gebe den Stab weiter – | |
| demnächst schreibt an dieser Stelle meine Kollegin Judyta Smykowski ihre | |
| Kolumne „Rollt bei mir“. Ich freue mich! | |
| 24 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Cigdem Akyol | |
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