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# taz.de -- Kolumne Down: „Zweitvater“ Erdoğan
> Spricht Recep Tayyip Erdoğan, bedeutet mein Bruder mir zu schweigen. Er
> liebt diesen Mann. Wie konnte das bloß passieren?
Bild: Vom Bruder geliebt: Erdoğan
Wir haben ein Problem, ein sehr politisches Problem. Mein Bruder verehrt
den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, während ich
kritische Bücher und Artikel über diesen Mann schreibe. Deniz liebt Erdoğan
von ganzem Herzen. Ich hingegen habe noch keine Zuneigung zu diesem
Politiker entdecken können. Je länger ich mich mit ihm beschäftige, desto
schwieriger finde ich seinen Charakter. Deniz freut sich immer, wenn der
Mann auf dem Bildschirm erscheint, ich bin froh, wenn ich mal einen
Erdoğan-freien Tag habe.
Wie konnte das passieren? Zwei Geschwister, die im selben Haushalt groß
geworden sind, linksliberal sozialisiert wurden – wie konnte es passieren,
dass Deniz einen Autokraten umschwärmt? Vor zwei Jahren machten Deniz und
ich gemeinsam Urlaub in der Türkei. Damals war Erdoğan noch
Ministerpräsident, aber wie immer in der Türkei standen Wahlen an. Nach
drei Amtszeiten als Ministerpräsident bewarb sich Erdoğan nun als
Staatspräsident. Im ganzen Land hingen Plakate des ohnehin schon
allgegenwärtigen Politikers.
Erdoğan, wie er rote Tulpen in die ihm zujubelnde Menge wirft. Erdoğan, wie
er U-Bahn-Linien eröffnet, Alte und Kinder herzt. Aber vor allem gab es ein
Plakat, auf dem Erdoğan einen Jungen mit Down-Syndrom an sich drückte. Bei
diesem Anblick war es um Deniz geschehen: Ein starker, charismatischer Mann
kümmert sich um einen seiner Freunde. Seitdem ist mein Bruder ein Fan des
Mannes, dem Menschenrechte egal sind, der sich als fleischgewordenen Staat
betrachtet.
Seine Begeisterung nimmt so absurde Formen an, dass ich den Mund halten
muss, wenn er einer Erdoğan-Rede zuhört. Er schaut und lauscht dann ganz
gebannt, nickt, und wenn ich mir eine kritische Anmerkung erlaube, werde
ich fast schon niedergebrüllt. Wenn Deniz in der Türkei wählen dürfte, dann
würde er seine Stimme der Regierungspartei AKP geben. Er bezeichnet Erdoğan
sogar als seinen Vater. Immer wenn er ihn irgendwo sieht, rutscht ihm ein
„Mein Vater!“ heraus – eine Vorstellung, die ich durch mein
Nichtkommentieren kommentieren möchte.
Kürzlich haben Deniz und ich uns wegen Erdoğan fast gestritten. Ich zeigte
ihm mein Buch „Generation Erdoğan“, in dem ich kritisch die Entwicklung der
türkischen Gesellschaft unter dem Machtmenschen beschreibe. Ich las ihm
daraus vor, und mein Bruder machte demonstrativ den Fernseher an, volle
Lautstärke. Ich las lauter vor, er machte dann noch sein Radio an. Ich
schaltete beides aus. Ich wollte ihn überzeugen, dass er ein falsches Bild
von seinem „Zweitvater“ hat.
Doch er hörte mir überhaupt nicht zu. Ich quasselte, er ignorierte mich.
Erdoğan sei lieb, sagte er und wiederholte dann seinen Standardsatz:
„Erdoğan ist mein Vater!“ Ich insistierte: „Nein, du hast einen echten
Vater!“ Er schüttelte den Kopf: „Ich liebe Erdoğan!“ Ich schaute meinen
kleinen Bruder entsetzt an – gegen Liebe, dass wusste ich, würde ich mit
keinen Argumenten der Welt ankommen. Nein, ich musste mich damit
arrangieren, dass ich einen Erdoğan-Versteher liebe.
30 Nov 2015
## AUTOREN
Cigdem Akyol
## TAGS
Behinderung
Down-Syndrom
Menschen mit Behinderung
Leben mit Behinderung
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Down
Down-Syndrom
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Geburt
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