| # taz.de -- Kolumne Down: Demut und Wehmut | |
| > Wer sich für ein Kind entscheidet, muss es annehmen, wie es ist – oder? | |
| Bild: Jippiiie. Baby | |
| Wir drei Freundinnen saßen bei Sabrina in der Studentenbude, rauchten, | |
| tranken Kölsch und quatschten herum. Irgendwie kamen wir auf die Themen | |
| Schwangerschaft, Vorsorgeuntersuchungen und Abtreibungen. | |
| Meine Position war klar: Wer sich für ein Kind entscheidet, der muss es | |
| annehmen, so wie es ist. Auch wenn schon im Mutterbauch klar sein sollte, | |
| dass mit dem Baby etwas nicht stimmt – vorausgesetzt, das Kind hat bei | |
| einer Krankheit eine Überlebenschance und es besteht keine Gefahr für die | |
| Mutter. | |
| Kurz zuvor war auf dem Titel des Magazins der Süddeutschen Zeitung ein Mann | |
| mit einem Downsyndrom abgebildet. „Vom Aussterben bedroht“ war da zu lesen. | |
| „Die Diagnose ‚Ihr Kind wird mit Behinderung zur Welt kommen‘ ist für | |
| Eltern ein Schock. Immer mehr Väter und Mütter entscheiden sich danach | |
| gegen das Baby“, lautete die Unterzeile. | |
| Mir kamen die Tränen, als ich diesen Titel sah. Warum nicht akzeptieren, | |
| dass auch Menschen mit einem Handicap ein schönes Leben führen können? | |
| Warum Behinderungen nicht auch als Bereicherung ansehen, statt nur als | |
| Belastung? Warum nicht einfach annehmen, dass das Leben nicht geradlinig | |
| verläuft? | |
| So argumentierte ich auch in der Runde. „Aber was ist, wenn das Kind | |
| niemals ohne Hilfe wird leben können“, fragte Sabrina und schob hinterher, | |
| „ich würde das Baby abtreiben, wenn es krank wäre“. | |
| Und Ina sagte ohne Umschweife: „Ich würde es sofort abtreiben. Ich traue | |
| mir nicht zu, ein behindertes Kind zu erziehen“. – „Aber wir dürfen doch | |
| nicht zwischen den Menschen selektieren“, entgegnete ich den beiden und | |
| hatte dabei immer Deniz’ dicke Fingerchen vor meinen Augen, die ich so gern | |
| in meine Hand nahm. | |
| Egal was die zwei sagten, für Rationalität war bei mir kein Platz, nur für | |
| meine Emotionen. Ich argumentierte mit Demut, mit Bescheidenheit, mit | |
| Nächstenliebe. Ich entgegnete, dass jeder Mensch unerwartet zu einem | |
| Pflegefall werden könne. „Wollt ihr eure Kinder dann einfach abschieben?“, | |
| fragte ich die zwei moralisch anklagend. Aber meine Freundinnen waren klar | |
| in ihren Aussagen, ein „defektes“ Kind wollten sie nicht. | |
| Jetzt sind fast zehn Jahre vergangen, und meine Meinung ist eine andere. | |
| Mit zunehmendem Alter sehe ich die wachsenden Sorgen meiner Mutter. Unsere | |
| ältere Schwester gibt es nicht mehr, nur Deniz und ich sind ihr geblieben. | |
| Was wird ihr Jüngster machen, wenn seine Mutter sich nicht mehr für ihn | |
| einsetzen kann? Und wird sich jemals irgendwer so hingebungsvoll um ihren | |
| Sohn kümmern, wie sie es tut? Über diese Tatsachen mag sie nicht reden, es | |
| nimmt ihr den Atem. | |
| Es geht nicht um den „perfekten“ Menschen, es geht nicht darum, dass man | |
| ein behindertes Familienmitglied 24 Stunden am Tag umsorgen muss und dabei | |
| sein eigenes Leben vergisst. Es geht um die Qualen einer Mutter. Um die | |
| berechtigte Angst, was mit dem eigenen Kind geschieht, wenn man selbst | |
| nicht mehr kann. Wer kann es einer Frau verübeln, wenn sie diese Last nicht | |
| tragen kann? | |
| 4 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Cigdem Akyol | |
| ## TAGS | |
| Down-Syndrom | |
| Behinderte | |
| Menschen mit Behinderung | |
| Down | |
| Leben mit Behinderung | |
| Leben mit Behinderung | |
| Down-Syndrom | |
| Behinderung | |
| Menschen mit Behinderung | |
| Down-Syndrom | |
| Geburt | |
| taz.gazete | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kolumne Down: Ich darf das | |
| Wie ich mal vor dem Kreml stand, kein Geld dabeihatte und Gebärdensprache | |
| imitierte, um hineinzukommen. Mich dann aber fragte: Darf ich das? | |
| Kolumne Down: „Zweitvater“ Erdoğan | |
| Spricht Recep Tayyip Erdoğan, bedeutet mein Bruder mir zu schweigen. Er | |
| liebt diesen Mann. Wie konnte das bloß passieren? | |
| Artikel: „Authentizität? Gerne, nur nicht so viel“: Richtigstellung | |
| Kolumne Down: Direkt, anklagend, ordinär | |
| Die lässigsten Punks der Welt: Die finnische Band Pertti Kurikan | |
| Nimipäivät. | |
| Kolumne Down: Deniz fehlte | |
| Ich machte mir wenig Gedanken um mein neues Geschwisterchen. Für mich war | |
| es wichtiger, keine Sechs in der Mathearbeit zu schreiben. | |
| Kolumne Down: Alles unauffällig | |
| Wie würden Sie sich entscheiden, wenn sich herausstellen sollte, dass ihr | |
| Kind krank ist? Über Furcht und die Grenzen der Fruchtwasseruntersuchung. |