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# taz.de -- Kolumne Down: Deniz fehlte
> Ich machte mir wenig Gedanken um mein neues Geschwisterchen. Für mich war
> es wichtiger, keine Sechs in der Mathearbeit zu schreiben.
Bild: „Ein Junge ist schon etwas sehr Besonderes“, sagte meine Mutter und l…
Ein Junge also. Nach zwei Töchtern erwartete meine Mutter ihren ersten
Sohn. „Meine Mädchen, ich liebe euch über alles. Aber ein Junge ist schon
etwas sehr Besonderes“, sagte sie und lächelte ununterbrochen.
Meine Mutter ist weder konservativ noch besonders religiös, doch wenn es um
diese Jungen-Mädchen-Sache ging, verfiel sie in albernes Schubladendenken.
Auch bei liberalen Aleviten wird ein Junge meist mehr wertgeschätzt als ein
Mädchen.
Wir schauten uns auf dem Wohnzimmersofa die Ultraschallbilder an, für mich
war das nur ein Sammelsurium grauer Farben. Ich konnte wenig mit diesen
unscharfen Konturen anfangen, doch bei der Namensgebung war ich wieder
interessiert.
Schnell einigten wir uns auf den Namen Deniz für unser neues
Familienmitglied. Deniz heißt übersetzt „Meer“, aber vor allem ist Deniz
Gezmi Mitglied der türkischen 68-Bewegung gewesen, ein studentischer
Revolutionär und seit seiner Hinrichtung 1972 durch die Militärjunta die
Ikone der türkischen Linken.
## „Tussi“ oder Revolution
Ich machte mir wenig Gedanken um mein neues Geschwisterchen. Für mich war
es wichtiger, keine Sechs in der Mathearbeit zu schreiben, einen
Tanzpartner für den Abschlussball zu finden und mich mit meinen Freundinnen
in einem Diätwettkampf zu messen.
Weil man in Herne nur die Wahl zwischen „Tussi“ und Revolution hatte,
entschied ich mich für Letzteres. Ich färbte mir die Haare rot, stach mir
selbst einen Nasenring, trug ein T-Shirt mit einem Anarchiezeichen und
bezeichnete mich fortan als Punk.
Dann, am 3. August 1991, stand ich morgens auf und schlurfte in einem
weißen Nachthemd ins Wohnzimmer. Es waren Sommerferien, ich hatte keine
Eile. Meine Schwester saß auf dem Sofa. „Vor wenigen Stunden ist Deniz auf
die Welt gekommen“, sagte sie und schaute müde dabei aus.
Unsere Mutter war zur Beobachtung schon mehrere Tage im Krankenhaus, als
mitten in der Nacht ihre Fruchtblase platzte. Und während ich Deniz’ Geburt
verpennt hatte, war meine Schwester mit unserem Vater telefonisch von einer
Krankenschwester geweckt worden. Papa war in die Klinik geeilt, während sie
– die Ältere – auf mich aufpassen sollte.
## Notgeburt
So so, Deniz würde also demnächst hier einziehen. Ich ging in die Küche,
füllte mir eine Schale voller Kellogg’s und überlegte, wie ich meine
Freizeit gestalten sollte. Erst als meine Schwester mich aufforderte, mich
endlich anzukleiden, um unsere Mutter zu besuchen, stand ich wieder auf.
Wir fuhren mit dem Bus ins Krankenhaus, wo Mama sich von den Strapazen
ihres dritten Kaiserschnitts erholte. Sie war noch überhaupt nicht
ansprechbar und reagierte nicht auf uns.
Nur Deniz fehlte, er war weg. Die Ärzte hatten ihn in eine Kinderklinik
überwiesen. Unser Vater schilderte uns, dass er eine Notgeburt war und
nicht atmete, als er geholt wurde.
Auf dem Foto, welches im OP-Saal direkt nach seiner Geburt geschossen
wurde, sah er auch irgendwie komisch aus – fand ich jedenfalls. Irgendwie
ungesund, nicht so rosig wie andere Babys. Ich meinte, er sei blau
angelaufen und irgendwie machte er eine seltsame Bewegung – so, als zappele
er um sein Leben.
17 May 2015
## AUTOREN
Cigdem Akyol
## TAGS
Geburt
Down
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Behinderung
Menschen mit Behinderung
Down-Syndrom
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