| # taz.de -- Der Mensch und sein Darm: Ein Organ wie ein Ozean | |
| > Der Darm soll ein Schlüssel zu neuen Heilmethoden sein. Er wird als | |
| > zweites Gehirn gehandelt. Dabei ist er noch weitgehend unerforscht. | |
| Bild: Eine Funktion kennen alle. | |
| Zwischen Meer und Darm gibt es Parallelen: Es brodelt darin, Gase werden | |
| ausgestoßen, Sedimente durchforstet von Lebewesen, die niemand kennt. Darm | |
| und Meer sind dunkel, sind unbekannt, sind schwer kontrollierbar. Sie sind | |
| ein Wunder. Sie sind autonom. Einst begann das Leben im Meer. Sind, was an | |
| Land kam, seine Ausscheidungen? | |
| Seit ein paar Jahren wird versucht, die Lebewesen im Meer, die bisher in | |
| keinem Verzeichnis auftauchen, zu katalogisieren. Eine halbe Million | |
| unbekannte Arten sollen sich in den Ozeanen tummeln. Diese Zahl wurde im | |
| Jahr 2014 von Wissenschaftlern genannt und in den Medien verbreitet. | |
| Eigentlich auf Genauigkeit bedacht, ist Genauigkeit nicht möglich. Was die | |
| unbekannten Meereslebewesen tun, warum sie es tun und welche | |
| Entwicklungsketten von jedem einzelnen abhängen, ist ein Geheimnis; was | |
| passiert, wenn welche aussterben – durch Klimawandel, Verschmutzung, | |
| Überfischung, Versäuerung – ein Fragezeichen. | |
| Seit wenigen Jahren wird ebenfalls mit neu erwachtem Forschungsinteresse | |
| über das Dunkle im Darm, diesem größten sensorischen Organ im menschlichen | |
| Körper, nachgedacht. Acht Meter lang ist der Darm; auseinander gefaltet | |
| hätte er eine Fläche von bis zu 300 Quadratmetern. Auch dort tummeln sich | |
| Organismen. Wie viele? Die Antwort ist in ihrer Dimension nicht griffig. 39 | |
| Billionen seien es im Dickdarm eines erwachsenen Mannes rechneten | |
| israelische Wissenschaftler in einer Studie vor, die Anfang 2016 | |
| veröffentlicht wurde. Etwa 400 Milliliter nehmen diese an Platz ein. | |
| Was da im Darm alles so unterwegs ist, welche Stoffe von was in welche | |
| Stoffe umgewandelt werden, wie die Zusammenwirkungen der einzelnen | |
| Bakterien oder Organismen sind, man weiß es nicht genau. | |
| ## Der Darm als „Gehirn“ | |
| Nur wenige Darmorganismen sind bekannt. Und kennt man sie, verhalten sie | |
| sich, wie der helicobacter pylori, nicht eindeutig in dem, was sie tun. Mal | |
| soll das Bakterium gute Wirkung haben, mal schlechte. Übrigens entsteht | |
| auch im Darm – wie im Meer – Schaden durch Übersäuerung und Verschmutzung. | |
| Der Darm ist, so viel weiß man, mit einem autonomen Nervensystem versehen | |
| und nicht vom Gehirn gesteuert. Weil der Verdauungsprozess aufwendig ist, | |
| würde es dem Hirn viel zu viel Energie abverlangen, dies stets zu | |
| koordinieren. Die Eigenständigkeit des Darms indes ist vor allem auf ein | |
| mechanisches Verdauen ausgerichtet. Daneben können durch das, was im Darm | |
| geschieht, aber auch Prozesse gesteuert werden, die die Persönlichkeit | |
| beeinflussen. Dieser Umstand verdankt ihm neuerdings die Aufmerksamkeit. | |
| Vom Darmhirn wird gesprochen, manchmal auch vom „zweiten Gehirn“. „Gehirn… | |
| das muss schon sein, da die Vorstellung, Denken und Sein sei von Bakterien | |
| im Darm beeinflusst, nicht so gut ankommt. Schließlich sind Ausscheidungen | |
| im Laufe der Zivilisation in die unappetitliche Ecke verbannt worden, was | |
| nicht immer so war. | |
| Wie das, was im Darm passiert, auf die Psyche wirken könnte, dafür gibt es | |
| ein eigenwilliges Experiment: Mäusen, die auf ängstlich gezüchtet waren, | |
| wurde der Darminhalt von Mäusen, die auf draufgängerisch gezüchtet waren, | |
| eingepflanzt. Und siehe da, die vorher depressiven Mäuse entwickelten nun | |
| Unternehmungsgeist. Es sind solche Forschungen, die den Blick verändern. | |
| Denn auch wenn der Darm unabhängig vom Gehirn aktiv ist, in seinen | |
| Wirkungen arbeitet er mit den Gefühlsregionen im Gehirn zusammen. | |
| Soll heißen, ein wenig Darminhalt von Lara Croft, von Emma Peel, und schon | |
| wäre das ängstliche Ich, das Schisser-Ich, passé. An der Sprache zeigt sich | |
| der Zusammenhang zwischen Verdauung und Sein schon lange: Schiss haben, | |
| Schmetterlinge im Bauch haben und das Herz ist in die Hose gerutscht. | |
| Dass der Darm ins Unbewusste hineinfunkt, muss man in Gesellschaften wie | |
| unserer, die mit Ausscheidungen nichts zu tun haben wollen, erst wieder | |
| ertragen lernen. | |
| ## Die Verdauung als Tabu | |
| Der Darm wird als Kloake wahrgenommen. Kot stinkt, sieht übel aus, braun, | |
| klitschig, wie anaerober Schlick in einem Tümpel. Früher war er Rohstoff, | |
| dann wurde er zum Tabu. | |
| Einer jungen Medizinstudentin, Giulia Enders, oblag es, den dunklen | |
| Darmkontinent aus der Ekelzone zu holen. 2014 schrieb sie ein Buch, „Darm | |
| mit Charme“ heißt es. Komisch, dass niemand vorher darauf kam, dass sich | |
| die beiden Worte reimen. Ihr flott und witzig geschriebenes Buch, das | |
| Wissenschaft und Alltagswissen leichtfüßig verschränkt, hat mehr für die | |
| Enttabuisierung der Verdauung getan, als die Aufklärungskampagnen der | |
| Krankenkassen. | |
| Wer es liest, kann sich den viel bevölkerten Darmkosmos wie eine Spielart | |
| von Harry Potters Welt vorstellen oder der der Hobbits. Was es genau mit | |
| dem Bauchhirn auf sich hat, kann auch sie nicht erklären, aber sie | |
| verbreitet eine Lust, am Thema zu bleiben. | |
| ## Kot ist Gold | |
| Bevor Scheiße ein Fäkalwort wurde, war es Dünger. In Grimms Märchen | |
| „Tischlein deck dich“ scheißt der Esel Golddukaten – sprich Kot ist Gold. | |
| In vielen Mythen gilt die Kotausscheidung als schöpferische Kraft. Nicht | |
| nur entsteht neues Leben aus Kot, in der japanischen Mythologie entwickeln | |
| sich daraus gar Götter. | |
| Bei uns sorgen Menschen des öffentlichen Lebens neuerdings immerhin wieder | |
| dafür, dass das Wort „Arschloch“ salonfähig wird. Sigmar Gabriel sagte es… | |
| bezogen auf Männer, die Frauen belästigen. Jan Böhmermann sagt es über sich | |
| – „Arschloch mit Herz“ – weil ein Kabarettist das darf. Silvia Bovensch… | |
| die schöngeistige Autorin wiederum tituliert gern mal halbsympathische | |
| Protagonisten in ihren Romanen so. Die Enttabuisierung der Ausscheidungen | |
| hat begonnen. Nicht zufällig mag auch sein, dass es gerade populär ist, | |
| sich nicht nur mit dem Dunklen im Menschen zu beschäftigen – sondern auch | |
| mit dem Dunklen im Meer. | |
| 24 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
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