| # taz.de -- Zwischen China und Nordkorea: Die Grenze der Blumenmädchen | |
| > In Yanji und Tumen, zwei chinesischen Städten an der Grenze zu Nordkorea, | |
| > sieht, riecht, schmeckt und hört man Nordkorea. | |
| Bild: Am stark bewachten Grenzfluss Tumen. | |
| Willkommen im Yanji-Taxi. Wir wünschen eine angenehme Fahrt.“ Es ist sechs | |
| Uhr morgens, als die Taxameterstimme den Fahrgast auf Koreanisch und | |
| Chinesisch grüßt. Bilingual sind auch die Reklametafeln und | |
| Straßenschilder, selbst das Fernsehen strahlt Programme auf Koreanisch aus. | |
| Das chinesische Yanji, zwanzig Kilometer vor Nordkorea gelegen, ist die | |
| Hauptstadt der autonomen Präfektur Yanbian. Gut ein Drittel seiner 400.000 | |
| Einwohner gehören der koreanischen Minderheit an. Yanbian ist eine der | |
| wenigen Regionen der Volksrepublik, in der die Bezeichnung „autonom“ mehr | |
| als nur folkloristischen Charakter hat. | |
| Gerüche von Bratenöl, Fleisch, Fisch, Gemüse und Arzneikräutern wabern | |
| durch den Morgennebel. Die kurze Fahrt vom Bahnhof endet hinter dem Deich | |
| des Flusses Buerhatong. Frühmarkt. Obschon es hier zugeht wie überall auf | |
| Chinas Morgenmärkten, fällt die beinahe klinische Sauberkeit ins Auge. | |
| Ein Verkäufer hat saftige Trauben auf großen Weinblättern drapiert, daneben | |
| leuchtet das Fleisch gehäuteter Hunde hellrosa in der Morgensonne. Unter | |
| den Koreanern gelten sie als Delikatesse, die meisten Chinesen hingegen | |
| verschmähen sie. Viele der feilgebotenen Waren sind aus Nordkorea | |
| importiert: Stockfisch, gedörrte Seegurken und Pilze. Von UNO-Sanktionen | |
| haben die Verkäufer noch nie etwas gehört. | |
| Der Frühstücksimbiss-Besitzer macht sein Tagesgeschäft: Händler kauern auf | |
| niedrigen Hockern, essen Ölstangen und schlürfen Tofuhirn. Feierabend um | |
| sieben Uhr morgens. Sauber und aufgeräumt wirkt auch die breite Allee, die | |
| an den westlichen Stadtrand führt. Jenseits des Flughafens steht dort das | |
| neue Museum der autonomen Präfektur Yanbian. Auf drei Etagen des | |
| prunkvollen Baus erfahren Besucher das brüderliche Zusammenleben von | |
| Koreanern und Chinesen mit allen Sinnen: Der oberste Stock beherbergt die | |
| Abteilung „Revolutionsgeschichte“. | |
| ## Die Lebensweise der Koreaner | |
| Ein modernes Diorama zeigt chinesische und koreanische Kommunisten vereint | |
| im Kampf gegen die japanischen Besatzer – multimedial unterlegt mit | |
| Maschinengewehrgeknatter und Leuchtspurmunitionssalven. Leichter | |
| verdauliche Kost ein Stockwerk tiefer. Dort zeugen Trachten und | |
| Häusermodelle von der traditionellen Lebensweise der Koreaner. | |
| Das Erdgeschoss gibt Einblick in die lichte Zukunft der Region: Mollige | |
| Parteikader lachen auf Wandzeitungen dem Besucher entgegen. Obschon die | |
| Harmoniedarbietungen im Museum aufgesetzt wirken, ist das Zusammenleben | |
| zwischen Hanchinesen und den rund zwei Millionen Koreanern in Yanbian | |
| tatsächlich vorbildlicher als anderswo im Reich der Mitte. Von der | |
| Kolonialzeit bis zum Koreakrieg war die Gegend für Koreaner ein | |
| Zufluchtsort. Auch die meisten Hanchinesen wanderten erst im vergangenen | |
| Jahrhundert aus den Provinzen südlich der Großen Mauer ein. | |
| Die gemeinsame Geschichte hat die gegenseitige Akzeptanz und Kenntnisse von | |
| Traditionen und Sprache gestärkt. Doch die Kulturen beider Ethnien | |
| vermengen sich zusehends und der Anteil der Koreaner an der | |
| Gesamtbevölkerung des autonomen Bezirks soll rückläufig sein. Die Nähe zu | |
| Kim Jong Uns Reich hingegen ist Ursache zahlreicher Konflikte. Zuletzt | |
| testete das nordkoreanische Militär im Januar 2016 unterirdisch eine | |
| Wasserstoffbombe unweit der chinesischen Grenze. Die Detonationen ließen | |
| noch im 180 Kilometer entfernten Yanji die Erde beben. Schleichhandel ist | |
| ein weiteres Problem. So soll Yanji in den letzten Jahren Umschlagort für | |
| aus Nordkorea eingeschmuggeltes Crystal Meth geworden sein. | |
| ## Ein Kessel Buntes | |
| Ein Besuch im Ryugyong-Restaurant im Stadtzentrum lässt diese Probleme | |
| vergessen. Große Rundtische mit Servierscheibe, edler Steinfußboden und | |
| Kellnerinnen, die den Gast mit einer Verbeugung grüßen. Das Restaurant | |
| wirkt auf den ersten Blick wie ein gediegenes chinesisches Wirtshaus. Doch | |
| der hohe, in kitschigem Morgenrot erstrahlende Berg auf einem ausladenden | |
| Wandgemälde passt nicht ins Bild. „Changbaishan – der heilige Berg der | |
| Koreaner“, erklärt eine hübsche Bedienung in gebrochenem Chinesisch. Sie | |
| drängt den westlichen Besucher, in einem Separee am Ende des leeren | |
| Speisesaals Platz zu nehmen. | |
| Ein Blick in das Menü verschafft Klarheit: Koreanisch, | |
| zielgruppenorientiert. Das Ryugyong gehört der nordkoreanischen | |
| Haedanghwa-Group, einer Kette mit Restaurants von Amsterdam bis Hanoi. | |
| Rasch bringt die Kellnerin Kimchi, einen Teigkuchen mit Fisch und | |
| Samgyeopsal – gegrillte Schweinebauchscheibchen in frischen Salatblättern. | |
| Das japanische Flaschenbier der Marke Ashai kostet nur 15 Yuan (rund 2 | |
| Euro) Erstaunlich preiswert ist Pjöngjangs kulinarisches | |
| Devisenunternehmen. „Ein oder zwei Jahre arbeiten wir hier“, sagt die | |
| hochgewachsene Kellnerin freimütig. „Wir sind Studentinnen an einer Kunst- | |
| und Musikakademie in Pjöngjang.“ | |
| Plötzlich Hektik. Dampfende Speisen werden serviert, noch ehe die Gäste | |
| Platz genommen haben – man hat offenbar vorbestellt. Zwei Dutzend Männer | |
| und Frauen nehmen an den vier großen Tischen im Saal Platz. Aus der Nähe | |
| von Pusan seien sie, sagt einer. „Kurzurlaub. Morgen fliegen wir wieder | |
| nach Hause.“ Gesichter und Kleidung der südkoreanischen Reisegruppe | |
| verraten die Herkunft vom Lande. | |
| Schon am Vormittag war die Touristengruppe aufgefallen. Sie waren die | |
| einzigen Museumsgäste. Ihre lautstarken Diskussionen hatten selbst die | |
| dösenden Aufseher geweckt. Offenbar fehlt in südkoreanischen Lehrplänen die | |
| Geschichtsstunde über den Bruderkampf von Koreanern und Chinesen gegen die | |
| japanischen Imperialisten. Doch jetzt, nach ein paar Gläsern Soju und | |
| eingelullt von Revolutionsmusik, warten sie ungeduldig auf die Show. Teller | |
| leer, Bäuche voll. | |
| Fünf Kellnerinnen betreten die kleine Bühne am Kopf des Saals. Von den | |
| Gästen unbemerkt haben sie neue Kostüme angezogen. Eines der Mädchen setzt | |
| die Keyboard-Begleitautomatik in Gang, die anderen vier gerade Volljährigen | |
| drehen sich auf der Bühne im Takt. Beim Singen wechseln sie sich ab. Ihre | |
| harten Stimmen durchbrechen die samtene Illusion. Mit ihren weiß | |
| geschminkten Gesichtern und dem Wangenrouge sehen sie aus wie | |
| Porzellanpüppchen. | |
| ## Auf Suche nach dem Brudervolk | |
| Frivoles Johlen aus dem Publikum dringt durch die laute Musik. Als die | |
| jungen Mädchen „Arirang“ anstimmen, hält es einige der Herren nicht mehr | |
| auf den Stühlen. Das beliebteste Volkslied der Koreaner. Auf | |
| internationalen Sportveranstaltungen mit gesamtkoreanischen Mannschaften | |
| hielt es schon als Nationalhymnenersatz her. „Ein Blumenstrauß für 50 Yuan�… | |
| (sieben Euro) steht auf einem Schild geschrieben, das vor der Bühne | |
| aufgestellt wurde. Die Männer drängen zum Podium, überreichen den Mädchen | |
| Plastikblumen. Sechs Euro kostet die Umarmung mit einer der Frauen. Manch | |
| ein Gast ist spendabler, steckt einem der Mädchen einen | |
| Hundert-Yuan-Geldschein zu. | |
| Das rote Konterfei Maos für die klammen Kassen Kim Jong Uns. Einem | |
| Sojutrunkenen rutscht die Hand von der Hüfte abwärts. Die zarte Sängerin | |
| aus dem Norden wehrt mit eingefrorenem Lächeln den Angriff des | |
| Klassenfeinds ab. Erst nach dem Lied, als sie im Schutz einer Säule ihre | |
| Tracht von Mintpink zu Gelbpink wechselt, entgleist ihr die eiserne Mimik | |
| für einen Augenblick. Fünf kurze Schnulzen dauert das | |
| koreanisch-koreanische Spektakel. Dann verschwinden die Gäste aus dem | |
| reichen Süden wieder im Reisebus. Die Kellnerinnen räumen die Tische ab, | |
| spülen das Geschirr. Eines der Mädchen zählt die Einnahmen. Singen, tanzen, | |
| bedienen, spülen. | |
| Schnell das Gemüse putzen und die Tische decken. Die beiden Köche stehen | |
| schon wieder am Herd. Die nächste südkoreanische Reisegruppe kommt in einer | |
| Viertelstunde. Im Foyer dann ein diskretes Hinweisschild auf Hotelzimmer: | |
| Je nach Kategorie kostet die Nacht zwischen 388 und 588 Yuan. Ob die | |
| Völkerverständigung in den oberen Stockwerken fortgesetzt wird? Eines ist | |
| sicher: Südkoreanische Touristen suchen in diesem abgelegenen Winkel der | |
| chinesischen Mandschurei nicht China, sondern ihr fremdes Brudervolk. Und | |
| das Ryugyong ist eine Kontaktzone der besonderen Art: Devisenrestaurant und | |
| Sehnsuchtsort. | |
| ## Tumen ist unspektakulär | |
| Neues Taxi, gleiche elektronische Begrüßung. Dann Weiterfahrt mit dem Zug | |
| nach Tumen, eine Stunde östlich von Yanji. Tumen, eine Kleinstadt am | |
| gleichnamigen Grenzfluss, ist Endstation zahlreicher Fernzüge aus Peking, | |
| Harbin und Changchun. Nur ein paar Pendler mit Monatstickets sitzen im | |
| Waggon. Am Bahnhof kein Gedränge. | |
| Lärm dringt nur vom Rangierbahnhof her. Tumen ist ein unspektakulärer Ort. | |
| Etwas mehr als einhunderttausend Einwohner zählt die Stadt, mehrheitlich | |
| Koreaner. Tumen liegt an der Grenze zum unheimlichen Nachbarn Nordkorea. | |
| Selbst im Zentrum stehen viele Wohn- und Geschäftshäuser leer. Keine | |
| Glasfassaden, die mittlerweile zum Symbol für die chinesische Verstädterung | |
| gewordenen sind. Stattdessen verwaiste Schaschlikbuden, Karaokebars und ein | |
| paar Obdachlose, die sich im Parterre eines sechsgeschossigen Rohbaus | |
| eingerichtet haben. | |
| Die Mehrzahl der Bauruinen stammt aus den neunziger Jahren, als Investoren | |
| noch an ein nordkoreanisches Wirtschaftswunder glaubten. Doch anders als in | |
| China ging es in Nordkorea ökonomisch bergab. Willkommen im | |
| Zonenrandgebiet. Nach einer Viertelstunde Fußmarsch der Grenzfluss. Der | |
| Tumen ist hier gerade hundert Meter breit. „Illegaler Grenzübertritt | |
| verboten! Rufen und Fotografieren in Richtung Nordkorea verboten! Schwimmen | |
| verboten! Schmuggel, Drogenhandel und Angeln verboten!“ | |
| Auf Chinesisch, Koreanisch und Englisch verheißt das Warnschild ein | |
| strenges Grenzkontrollregime. Hinter der Hinweistafel Stacheldraht und | |
| Schilf. Totenstill liegt die Uferpromenade im Sommergrau. Meterhoch steht | |
| Unkraut in den Blumenkübeln. Auf einem Pontonboot mit Pagodendach döst ein | |
| Mann vor sich hin. Keine Kundschaft für Floßfahrten weit und breit. Der | |
| Flaneur wähnt sich unbeobachtet beim Blick auf das verschlossene Land. Doch | |
| der Schein trügt. Kameras auf Laternenmasten beäugen das Wenige, was sich | |
| hier bewegt. Alle paar hundert Meter ein Zeitungsleser im Nieselregen. | |
| Akkurat gekleidet, Mobiltelefon am Gürtel, so um die vierzig. Rauchen, | |
| lesen, rauchen. Kein Flüchtling, der vom anderen Ufer des Flusses kommt und | |
| im Hinterland Zuflucht sucht. Der Tagesvermerk im Protokoll: „Keine | |
| besonderen Vorkommnisse.“ Dienstschluss. | |
| ## Die Promenade am Grenzübergang | |
| Am anderen Flussufer rumort ein Betonmischer, irgendwo schaufelt ein | |
| Bagger. Trotz der Nähe hört der Spaziergänger Nordkorea eher, als dass er | |
| es sieht. Später dann wirft ein Baufahrzeug einen Lichtkegel auf die dichte | |
| Uferböschung. Der Schatten eines Bauarbeiters bricht sich darin. Von einer | |
| Anhöhe aus dann doch ein Blick über die Böschung hinweg auf die | |
| nordkoreanische Grenzstadt Namyang: Niedrige, verrottete Häuser, drinnen | |
| schimmern Energiesparlampen. Dahinter dicht bewaldete Berge, die Gipfel von | |
| tief hängenden Wolken verschluckt. | |
| Eine alte Dame flaniert einsam auf der Promenade, vorbei an einer die | |
| Trauerweide umkreisenden Kindereisenbahn. Sie grüßt mit einem Lächeln. Seit | |
| ihrer Pensionierung lebe sie in einer kleinen Wohnung mit Blick auf | |
| Nordkorea. Ist Tumen das chinesische Fort Lauderdale der Silver Ager? Die | |
| Frau findet, die Frage sei gar nicht abwegig. Zwar gebe es keinen StraDie | |
| vielseitigen Blumenmädchen im Ryugyong-Restaurant innd und die Winter seien | |
| kalt. „Aber was glauben sie, wie günstig hier die Wohnungen sind. Und viel | |
| Natur gibt es obendrein! Und Punkt sechs Uhr abends scheppern aus den | |
| Lautsprechern auf der Uferpromenade Revolutionslieder, natürlich auf | |
| Koreanisch. Zeit für die Abendgymnastik.“ Die Rentnerin verabschiedet sich, | |
| zwei Freundinnen warten bereits auf sie – trotz Regens. | |
| Am Ende der Promenade der Grenzübergang. Der chinesisch-nordkoreanische | |
| Freundschaftsturm, dessen genietete Metallskulpturen zwei verschränkte | |
| Fackeln darstellen sollen, wirkt in der Abenddämmerung wie ein Wehrsymbol. | |
| Hinter dem pompösen Tor des chinesischen Zolls eine lange Betonbrücke, die | |
| in das wohl größte Gefängnis der Welt hinüberführt. | |
| Am Abend rollen ein paar leere Lkw zurück nach China. Noch vor Einbruch der | |
| Dunkelheit geht der Schlagbaum runter – die Grenze ist nachts geschlossen. | |
| Immer wenn das renitente Regime von Pjöngjang Peking verärgert, stellt | |
| China zur Strafe keine Visa mehr aus und der Grenzverkehr kommt völlig zum | |
| Erliegen. | |
| Der Wind trägt noch immer Revolutionslieder von der Uferpromenade herüber. | |
| Vor den meisten Geschäften sind schon die Rollläden heruntergelassen. Rote | |
| und gelbe Lichterketten tauchen die leeren Straßen Tumens in warmes Licht. | |
| Wenngleich ich Nordkoreanern nur als Schattenrissen und singenden | |
| Kellnerinnern begegnet bin. So nahe wie jetzt fühlte ich mich Pjöngjang | |
| noch nie. | |
| 26 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Sören Urbansky | |
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