| # taz.de -- Spielfilm „Cemetery of Splendour“: Alles bleibt in der Schwebe | |
| > In „Cemetery of Splendour“ präsentiert der thailändische Regisseur | |
| > Apichatpong Weerasethakul erneut ein radikal offenes Kino. | |
| Bild: Therapeutische Maßnahme oder Kunstinstallation? In „Cemetery of Splend… | |
| Sie schlafen. Soldaten der thailändischen Armee, ein ganzer Saal voll, in | |
| einem Krankenhaus, das früher eine Schule war, die auf dem Grund eines | |
| Friedhofs der Könige aus längst vergangener Zeit errichtet wurde. Sie | |
| schlafen und sie werden nie mehr erwachen. | |
| Die Könige in ihren Gräbern, heißt es einmal, bedienen sich ihrer Energie, | |
| zehren von den Soldaten, die darum nicht leben und auch nicht sterben. Es | |
| sind Menschen um sie, Verwandte oder auch eine Frau, die zu den Schlafenden | |
| Kontakt aufnehmen kann, die die Grenze zwischen wachem Bewusstsein und dem | |
| Unbewussten im Schlaf überschreitet. | |
| So können die Verwandten den Schlafenden zum Beispiel fragen, was er von | |
| Bodenfliesen in der neuen Küche hält. (Die Antwort hilft nicht wirklich | |
| weiter.) Die Soldaten schlafen, aber manche von ihnen haben doch Anteil am | |
| Leben, das ohne sie weitergeht. | |
| Die Fenster im Saal sind offen, das Licht dringt herein, die Geräusche der | |
| Natur dringen herein, eine Tonspur, immer präsent, schon vor den ersten | |
| Bildern präsent, am Anfang bleibt das Bild lange schwarz, darunter die | |
| Tonspur, auf der es rauscht und zwitschert und auf der die Blätter der | |
| Bäume im Wind nicht sanft, sondern ziemlich lautstark rascheln: Ambient der | |
| nachdrücklichen Art. | |
| Draußen wird gegraben, ein Bagger ist am Werk, das ist das erste Bild, der | |
| Friedhof der Könige unter dem Schlafsaal wird aufgegraben, umgegraben, man | |
| weiß nicht, warum, am Ende ist da eine Wüstenlandschaft der staubigen | |
| Dünen, in der Kinder ein Fußballspiel spielen, bergauf und bergab, ein | |
| mühsames Spiel. | |
| ## Wachträume | |
| Eine Frau, Jenjira Pongpas, hat sich Itt, einen der Soldaten, erwählt: als | |
| Sohn, den sie pflegt, an dessen Bett sie wacht, dessen Schlaf sie hütet, | |
| dessen Wachträume sie teilt. Oder vielleicht sind seine Wachträume auch | |
| ihre Fantasien, jedenfalls spricht sie mit ihm, stützt ihn, geht mit ihm | |
| einmal sogar in ein Kino, ein Multiplex in der Stadt. | |
| Man sieht da, was sie sehen, es ist eine Art Traum im Traum, der Trailer | |
| eines wilden thailändischen Films mit Schlangen aus Mündern, ein Albtraum, | |
| man versteht nicht so ganz, worum es geht, aber die rasche Bildfolge ist | |
| als kurzes Fantasy-Spektakel traumlogisch schön. | |
| Nach dem Trailer stehen sie auf, Jenjira und Itt und die anderen | |
| Kinobesucher, es müsste jetzt zu Ehren des Königs wie bei jedem Film die | |
| Hymne gespielt werden, aber sie wird nicht gespielt. Die Kinobesucher | |
| stehen, sie warten, aber der zwanghafte Ritus, der die thailändischen | |
| Bürger noch im Kino auf König und Vaterland einschwört, geht ins Leere. | |
| ## Reales und Irreales | |
| Man sieht nur noch, wie zwei Männer den wieder eingeschlafenen Itt aus dem | |
| Kino schleppen im Multiplex-Rolltreppenhaus. Im Traum, im Schlaf, in | |
| Jenjiras Fantasie: Es sind Bilder, so viel steht fest. Bilder in einem Film | |
| von Apichatpong Weerasethakul, der in „Cemetery of Splendour“ radikaler | |
| denn je darin ist, in seinen Bildern Reales und Irreales zu zeigen, und | |
| alles dazwischen. | |
| Ob sie schlafen, ob sie träumen, ob sie fantasieren, ob, was man sieht, | |
| wirklich geschieht, ob es Gegenwart oder Vergangenheit ist oder Zukunft, ob | |
| das eine vor dem anderen oder danach oder gleichzeitig geschieht, ob es | |
| wahr ist oder falsch oder beides oder keines von beidem, ob etwas nur | |
| einmal passiert oder sich wiederholt, ob man Lebende sieht oder Tote oder | |
| Halblebende oder Untote, ob Jenjira Pongpas, die auch im richtigen Leben | |
| Jenjira Pongpas heißt, eine Rolle spielt, oder die ist, die sie ist: All | |
| das bleibt in der Schwebe. Ein Bild ist ein Bild, und es zeigt, was es | |
| zeigt. | |
| Weerasethakul zieht keine Grenzen. Die Montage trennt nicht, sondern | |
| verbindet, und zwar in einem stetigen Gleiten. Sie verbindet aber nicht, | |
| indem sie die eine Szene an die nächste, das eine Bild an das andere klebt. | |
| Die Verbindung bleibt offen, von Moment zu Moment. Offen bleibt, wie sich | |
| das eine zum anderen verhält, ob etwas fortgesetzt wird oder abgebrochen, | |
| ob das wechselt, was man mit der Logik des Realen den Wirklichkeitsstatus | |
| nennen würde. | |
| ## Verbindungen aller Art | |
| Nur ist die Logik des Realen hier ganz außer Kraft. Im Film gelten eigene | |
| Regeln, oder gar keine Regeln, jedenfalls nicht die des Realen, nicht die | |
| einer Grammatik: Mit der Einsicht, dass das Kino zwar rhetorische Formen | |
| kennt, aber keine feste Grammatik hat, dass zwischen einem Bild und dem | |
| nächsten alles liegen kann oder nichts, dass eine Folge von Bildern kein | |
| „weil“ und „obwohl“ und „danach“ und „davor“ und auch nicht die… | |
| Differenz von „und“ und „oder“ oder „sowohl als auch“ kennt, dass a… | |
| Kino denkbar offen ist für Verbindungen aller Art, mit dieser Einsicht | |
| macht Weerasethakul so radikal ernst wie sonst keiner. | |
| Und, übrigens, an keines der Bilder muss man im strengen Sinn glauben. | |
| Aber dieser radikale Ernst ist bei ihm immer auch ein großer Spaß. Alles | |
| ist möglich, auch der albernste Quatsch. Spermasalbe zum Beispiel und das | |
| Spiel mit der Erektion eines Soldaten. Unversehens gibt es mal wieder, man | |
| kennt das aus früheren Filmen, den Schnitt aus dem Traum- und Schlafsaal zu | |
| Outdoor-Workout und knalligem Thaipop – bis dahin gab es außer im | |
| Filmtrailer überhaupt keine Musik. Das ist dann sozusagen Weerasethakuls | |
| Signature-Quatsch. | |
| ## Statuen aus dem Tempel | |
| Ganz wichtig ist diesmal das Essen. Ständig wird davon geredet. Und es wird | |
| auch gegessen. Zwei schöne junge Frauen setzen sich draußen zu Jenjira an | |
| den Tisch. Sie sind, sagen sie, die beiden Statuen aus dem Tempel, | |
| Göttinnen, Jahrhunderte alt, denen Jenjira Opfergaben bringt, kleine | |
| Figuren, einen Tiger zum Beispiel. Erst ist Jenjira ein wenig befremdet. | |
| Dann erkennt sie sie wieder. Sie haben ihr etwas zu essen gebracht. | |
| So sitzt das Erhabene neben dem Banalen, das Tolle neben dem Schönen, das | |
| Alltägliche neben dem Transzendenten. Und Weerasethakul lässt es da sitzen. | |
| Weil in seinen Filmen alles ein Zulassen und Durchlassen ist, ein Aufnehmen | |
| und Einatmen und Ausatmen. Apropos: Früh im Film bekommen die Soldaten eine | |
| Atemmaske verpasst. So atmen sie freier, so schnarchen sie auch nicht mehr. | |
| Merkwürdiges Gestänge mit wechselndem Licht, weiß und rot und blau, steht | |
| neben den Betten, Rohre, irgendwas zwischen medizinischer Apparatur und | |
| künstlerischer Lichtinstallation. Eine der schönsten Szenen im Film ist | |
| eine ganz langsame Überblendung: aus dem Rolltreppenhaus des Multiplexkinos | |
| in den nächtlichen Schlafsaal, in dem die Reihe der Lichtrohre roten Dämmer | |
| erzeugt. Lange geht das in dieser Blende, ein sanftes Gleiten wie von | |
| diesem in ein anderes Leben. | |
| ## Politische Deutung | |
| So sanft Weerasethakuls Filme sind, so robust sind sie auch. Orchideen, die | |
| man schützen muss, die gibt es. Aber „Cemetery of Splendour“ sperrt sich | |
| keineswegs gegen politische Deutung. Ja, der Film bietet sich sogar offen | |
| dar als Allegorie eines Landes, das darauf wartet, aus seinem autoritären | |
| Schlummer erst noch zu erwachen. Es ist, hat der Regisseur gesagt, der | |
| letzte Film, den er in Thailand gedreht haben wird. | |
| Aber auch mit dem Kino im engeren Sinn macht Weerasethakul, hat er | |
| gleichfalls verkündet, jetzt erst einmal Schluss. Stärker als frühere | |
| seiner Werke gleitet dieses hinüber in die eher installativen Bilder der | |
| Videokunst. Es wäre einerseits schade, käme der eigenwilligste Regisseur | |
| seiner Generation dem Kino abhanden. Andererseits lernt man bei ihm, wie | |
| schön und befreiend es sein kann, den Übergang und das Passieren der Grenze | |
| zu akzeptieren. Seien wir also voller Vorfreude auf alles, was kommt. | |
| 13 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Ekkehard Knörer | |
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| Dominik Graf | |
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