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# taz.de -- Mythos oder Realität: Verklären wir die Geburt?
> Wir feiern an Weihnachten eine Geburt. Doch bis heute reden wir nicht
> darüber, was in diesen Stunden wirklich passiert.
Bild: Das soll ein Bild nach der Geburt sein? Wo ist das Blut? Der Schleim? Die…
Als die Hirten die Stalltür öffnen, schlägt ihnen der Geruch von Blut und
Erbrochenem entgegen. Vorn senkt eine Kuh mit lautem Schnaufen ihren Kopf
über ein Stück Fleisch, das im Mist liegt. Es ist dunkelrot mit einer
daumendicken Ader daran. Die Nachgeburt.
In der Holzkrippe liegt ein verrunzeltes, rotes Bündel, kaum als Mensch zu
erkennen. Ein winziger Hundertjähriger mit zugeschwollenen Augen, ein paar
Halme Heu kleben an dem mit Käseschmiere, Schleim und Blut verschmierten
Kopf. Er schläft.
Auch Josef ist vor Erschöpfung im Stroh eingeschlafen. Er hat sich neben
dem Futtertrog zusammengekauert, sein Mund steht offen, das Hemd riecht
nach Schweiß und Angst.
Maria kann nicht schlafen. Nicht nach dieser Nacht. Sie hat sich ein paar
Meter von der Stelle weggeschleppt, an der das Fruchtwasser ins Stroh
gesickert ist. Irgendwann gegen Abend musste sie sich in den Wehen
übergeben. Später hat der Druck des Kindes den letzten Kot aus ihrem Darm
herausgepresst. Sie merkte es nicht. Ihr Damm, das Stück Haut zwischen
Vagina und After, wurde von Jesus‘ Kopf so sehr gedehnt, dass es am Ende
einriss. Das Blut an ihren Beinen ist schon getrocknet, jetzt kommt langsam
der Schmerz.
Der kleine Kopf sieht so verloren in der Krippe aus. In ihr drin fühlte er
sich an wie eine mit Chili eingeriebene Wassermelone, die sie heraus kacken
musste. Jesus.
## Sie ist unendlich erschöpft
Es fällt ihr immer noch schwer diesem Kind in Gedanken einen Namen zu
geben. Es soll nun plötzlich ein ganzer Mensch sein? Wie kann irgendjemand
auf dieser Welt so etwas schaffen? Gerade war er noch in ihrem Bauch. Wie
konnte er da nur herauskommen? Sie muss Gott sein. Sie ist unendlich
erschöpft.
Und warum in Gottes Namen, geht jetzt schon wieder die Tür auf? Wer um
Himmels Willen hat Besuch hereingelassen?
Maria versucht etwas zu sagen, aber die Schreie dieser Nacht haben sie
heiser gemacht. Sie ist zu schwach zu protestieren, auszurasten. Diese
verdammten Hirten, diese vermaledeiten Könige, diese verfluchten Engel zum
Teufel zu schicken.
Also lächelt sie einfach.
Milliarden Menschen auf der Welt feiern an Weihnachten eine Geburt. Was sie
allerdings dabei vor Augen haben, erinnert an das Bild, das Marc Zuckerberg
und seine Frau Priscilla Chan mithilfe eines Profi-Fotografen von sich
inszenieren ließen: [1][Glückliche Blicke, die auf einem rosigen Säugling
ruhen]. Aber Eltern nach einer Geburt sehen anders aus.
In der taz.am wochenende schreibt Emilia Smechowski ihre persönliche
Geschichte einer heiligen Nacht auf. Sie nennt sie die schlimmsten Stunden
ihres Lebens.
„Noch heute, wenn ich den Kopf meiner Tochter betrachte, wenn ich über ihr
Haar streiche und die Schädelknochen spüre, wird mir manchmal schlecht.
Weil sich mein Körper an den Schmerz erinnert. Einen Schmerz, auf den ich
nicht vorbereitet war“, beginnt sie.
Was dann kommt, ist keine Geschichte besonders seltener Komplikationen,
sondern die einer Geburt, die quasi problemlos verlief. Aus Sicht der
Mediziner.
## Die Antworten: nebelig
Emilia Smechowski hatte einen Geburtsvorbereitungskurs besucht, war
neugierig, was auf sie zukommt. Die Antworten blieben nebelig. Die Hebamme:
Du schaffst das! Andere Frauen: Wenn du das Kind dann im Arm hältst! Und
alle, die Autorin inklusive, waren sich einig: Für eine natürliche Geburt
braucht man keine Schmerzmittel.
Dann kamen die Schmerzen. „Glaube, ich platze. Alles ist eins, ein großes
Loch, das immer weiter gedehnt wird. Und noch weiter. Und noch weiter. Und
ja: noch weiter.“
Heute, etwas mehr als ein Jahr später, schreibt Emilia Smechowski: „Die
Geburt ist ein Gewaltakt. Was, wenn wir in Zukunft nicht mehr lächeln und
beschwichtigen, wenn es um Geburtsschmerzen geht? Wenn wir aufklären,
sagen, was ist?“
Es ist eine Gratwanderung: Viele Hebammen betonen, [2][wie wichtig positive
Geburtsberichte sind]. Gerade um Frauen, die vor ihrer ersten Geburt
stehen, nicht noch mehr Angst zu machen. Gerade in einer Gesellschaft, in
der die Kaiserschnittrate immer weiter steigt, in der Geburt mehr und mehr
Sache von Medizinern, Zusatzuntersuchungen und Risikofaktoren wird.
Negative Erlebnisse, so argumentieren Hebammen, sollten im geschützten
Rahmen besprochen werden. Oder mit einer Traumatherapeutin.
Aber gehören nicht bei so einem individuellen Thema viele unterschiedliche
Erfahrungsberichte nebeneinander? Slogans wie: „[3][Dein positives
Geburtserlebnis bestimmst du selbst]“ können Kraft geben. Bauen aber auch
Druck auf. Hat eine Frau, die ihre Geburt nicht als pures Glück beschreiben
kann, etwas falsch gemacht?
Was meinen Sie?
Verklären wir die Geburt? Bringen Geschichten wie die von Emilia Smechowski
noch mehr Frauen dazu, die Geburt lieber gleich dem Chirurgen zu
überlassen? Oder führen sie gerade dazu, die Geburt zurückzuholen aus der
Welt von Himmel und Hölle – ins normale Leben?
Diskutieren Sie mit!
Die ganze Geschichte „Es ist ein Ziegelstein“ lesen Sie in der
[4][Weihnachtsausgabe der taz.am wochenende] vom 24./25./26. und 27.
Dezember.
23 Dec 2015
## LINKS
[1] https://www.facebook.com/notes/mark-zuckerberg/a-letter-to-our-daughter/101…
[2] https://www.hebammenblog.de/geburtsbericht-eine-ungeplante-hausgeburt/
[3] http://www.positivebirth.at/
[4] /taz.am%20wochenende/!161557/
## AUTOREN
Luise Strothmann
## TAGS
Geburt
Weihnachten
Krippe
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Geburt
Kinderschutz
Stillen
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