# taz.de -- Auf Kreuzfahrt in Patagonien: Am Ende der Welt | |
> Nachts wird es stürmisch, als das Schiff durch die engen Kanäle zum | |
> Pazifik steuert, um den den 1.400 Meter breiten Pia-Gletscher an zu | |
> steuern. | |
Bild: Gletscher, urwüchsige Natur und eisigen Strand. | |
Am Morgen des dritten Tages stehen wir in orangeroten Schwimmwesten an der | |
Reling der „Stella Australis“ und können unser Glück nicht fassen. Vor uns | |
funkelt in schönstem Sonnenschein ein Gletscherpanorama von überirdischer | |
Schönheit. Eisklumpen schwimmen verstreut auf dem Meer. Gleich werden wir | |
ins Schlauchboot steigen und gegenüber dem mächtigen Pia-Gletscher landen. | |
Schroffe Bergspitzen ragen aus seiner Mitte in die Höhe. Unter der | |
Steilwand hat sich ein See gebildet, der im Winter gefroren ist. | |
Sprachlos vor Andacht lauschen wir den geologischen Erklärungen unseres | |
Expeditionsführers Francisco Cardenes. Nach einer Weile schlägt er vor, | |
dass wir unsere Begeisterung mit einem gemeinsamen Schrei ausdrücken. Und | |
der Gletscher reagiert! Mit lautem Krachen löst sich ein Stück der Eiswand | |
und fällt klatschend in den See. Ein Zufall natürlich, und dennoch magisch. | |
## Im subarktischen magellan’schen Urwald | |
Tief im Süden Patagoniens waren wir im Hafenstädtchen Punta Arenas an Bord | |
der „Stella Australis“ zu einer fünftägigen Expedition durch die Fjorde | |
Feuerlands bis nach Kap Hoorn und Ushuaia aufgebrochen – eine der | |
einsamsten und rauesten Gegenden der Erde. Das kleine Kreuzfahrtschiff mit | |
gerade mal 200 Passagieren und 62 Besatzungsmitgliedern ist von der | |
chilenischen Reederei Cruceros Australis für Fahrten durch enge Kanäle und | |
für extreme Wetterbedingungen gebaut worden. Ein komfortables | |
Wohlfühlschiff ohne Wellness-Oasen, Pools und Luxus-Boutiquen, aber mit | |
großen Panoramafenstern in allen Kabinen. Aus 17 Nationen kommen diesmal | |
die Gäste, darunter 30 Deutsche. | |
Der erste Ausflug geht in die Ainsworth-Bucht mit dem Marinelli-Gletscher, | |
der sich weit zurückgezogen hat. Per Schlauchboot erreichen wir den | |
subarktischen magellan’schen Urwald, wo noch vor 100 Jahren die Eisdecke | |
eines der größten Gletscher der Darwin-Kordillere endete. Um 14 Kilometer | |
ist er abgeschmolzen. Moose, Flechten und Pilze haben sich auf den nackten | |
Felsen angesiedelt, und im heutigen Alberto de Agostini Nationalpark ist | |
ein Südbuchenwald entstanden. Nie wurde hier Holz geschlagen. | |
Wir wandern auf Stegen durch ein torfmoorartiges Feuchtbiotop mit mehreren | |
Seen und Bächen und lauschen hinter dem Dickicht schmaler Baumstämme dem | |
Plätschern eines Wasserfalls. An den stacheligen Calafate-Büschen hängen | |
rote Beeren. Marmelade und Saft zum Frühstück wird daraus gemacht. Bevor | |
wir zum Schiff zurückkehren, schenkt Barkeeper Marcello heiße Schokolade | |
mit einem Schuss Whisky aus – ein Ritual nach jedem Ausflug. | |
## Bis Kap Hoorn gibt es keine Dörfer | |
Auf der ganzen Strecke bis zum legendären Kap Hoorn gibt es keine Dörfer. | |
Nur Gletscher, urwüchsige Natur und eisigen Strand. Deshalb sind die | |
Magellan-Pinguine auf den Tucker-Inseln, zu denen wir nachmittags mit dem | |
Schlauchboot hinausfahren, kein bisschen scheu. Sie haben zwei schwarze | |
Streifen auf der Brust und watscheln in Gruppen leicht schräge gegen den | |
Wind umher. | |
Männchen und Weibchen sind nicht zu unterscheiden. Manchmal flattern sie | |
heftig mit ihren Flossen oder drehen sich wie ein aufgezogener Kreisel. | |
Ihre Stimmen klingen ein wenig wie das Plärren von Affen. Bald werden sie | |
fort sein wie die Kormorane, die in den Nischen mächtiger Felsen hausen, | |
und die großen Skua, die chilenischen Raubmöwen. Im Winter sieht man hier | |
keine Vögel mehr. | |
Nachts wird es stürmisch, als das Schiff durch die engen Kanäle zum Pazifik | |
steuert. Es scheppert so heftig in der Kajüte, dass ich erwache. Wie auf | |
mächtigen Wogen schwanke ich im Bett hin und her. Stockfinster ist das | |
Panoramafenster, und tief unten wirbelt schäumende Gischt. Die Nacht endet | |
mit einem glamourösen Sonnenaufgang. | |
Es ist jener dritte Tag, an dem wir zu Füßen des 1.400 Meter breiten | |
Pia-Gletschers stehen werden. Er hat sich in den letzten 15 Jahren nicht | |
verändert, sagt Expeditionsführer Francisco Cardenes und steigt mit uns die | |
steilen Felsen hinauf zum schönsten Blick über das weiße Bergpanorama. Man | |
sieht, wie sich die riesige Gletscherzunge von der Gebirgskette bis ins | |
Meer hinunter schiebt. | |
Später am Nachmittag gleitet die „Stella Australis“ an der majestätischen | |
Allee der Gletscher entlang, einer der Höhepunkte dieser Kreuzfahrt. Die | |
mächtigen Eisriesen tragen die Namen europäischer Länder, aus denen die | |
Eroberer Feuerlands kamen: España, Francia, Italia, Holanda, Alemania … | |
Tausende Jahre haben auf dem entlegenen Archipel Menschen gelebt. Als die | |
ersten Europäer 1520 mit ihren Schiffen bis zum windumtosten Kap Hoorn am | |
Ende der Welt vorstießen, trafen sie auf Eingeborene, die sich nackt in | |
Holzkanus durch die Fjorde bewegten. Unter den mehr als 100.000 | |
Ureinwohnern gab es verschiedene Volksgruppen. Sie wurden nahezu komplett | |
ausgerottet, durch Epidemien, die die Eroberer einschleppten, durch brutale | |
Missionierung und durch gezielte Tötungen. Von den Ureinwohnern haben nur | |
12 Kawesqar-Indianer überlebt und eine einzige Frau der Yamana-Seenomaden, | |
auch Yaghan genannt. | |
## Von den Ureinwohnern hat eine Frau überlebt | |
„Ihr Name ist Cristina“, sagt Francisco, als wir am vierten Tag frühmorgens | |
in der wunderschönen Wulaia-Bucht auf der Insel Navarino an Land gehen. | |
„Sie muss heute 87 Jahre alt sein.“ Hier befand sich eine der größten | |
Siedlungen der Yaghan, jener Kanuten, die an den Küsten Feuerlands nackt | |
auf Robbenjagd gingen, während die Frauen im eiskalten Wasser nach Muscheln | |
und Krebsen tauchten. Kleidung kannten sie nicht. | |
Gegen die Kälte schützten sie sich mit dem Öl der Robben, das sie mit | |
Gräsern und Klee mischten. Es gibt noch Spuren aus jener Zeit. „Vor acht | |
Jahren fanden wir hier einen halben Meter unter der Erde eine schöne | |
Harpune aus Walknochen“, berichtet Francisco. „Die Harpune war 5.000 Jahre | |
alt.“ | |
An Bord des Forschungsschiffes HMS Beagle unter Kapitän Robert FitzRoy | |
landete der junge Naturforscher Charles Darwin im Januar 1833 in der Wulaia | |
Bay. Über seinen ersten Anblick eines Wilden notierte er: „Es war ein | |
nackter Feuerländer, sein langes Haar wehte umher, sein Gesicht war mit | |
Erde beschmiert. In ihren Gesichtern liegt ein Ausdruck, der, glaube ich, | |
all denen, die ihn nicht gesehen haben, ganz unbegreiflich wild vorkommen | |
muss. Auf einem Felsen stehend stieß er Töne aus und machte | |
Gestikulationen, gegen welche die Laute der domestizierten Tiere weit | |
verständlicher sind.“ | |
## Manch einer bleibt seekrank zurück | |
Tatsächlich besaßen die Yaghan eine Sprache, die aus mehr als 33.000 | |
Wörtern bestand. Ein anglikanischer Missionar, der unter ihnen lebte, hat | |
sie ins Englische übersetzt. „Aia“ bedeutet „Bucht“. Es gibt in Feuerl… | |
immer noch viele Wörter, die auf „aia“ enden. „Cristina, die letzte | |
reinrassige Überlebende, kümmert sich intensiv um den Erhalt der | |
Yaghan-Sprache und lehrt sie ihren vielen Enkel und Urenkel“, weiß | |
Francisco. Sie lebt heute in dem kleinen Ort Puerto Williams, 70 Kilometer | |
von der Wulaia-Bucht entfernt an der Nordküste der Navarino-Insel, jenseits | |
der Route der „Stella Australis“. | |
Nachmittags, auf der letzten Etappe der Expedition, sind alle in | |
Hochspannung. Werden wir am umtosten, mythischen Kap Hoorn, wo Atlantik und | |
Pazifik aufeinander stoßen, an Land gehen können? „Das entscheide ich mit | |
der gesamten Crew erst kurz vorher“, sagt Jaime Hurra, der argentinische | |
Kapitän der „Stella Australis“. | |
Nicht nur die Stärke, sondern auch die Richtung des Windes sei | |
ausschlaggebend. Er schicke 12 bis 14 Leute mit den Booten hinaus, um die | |
Bedingungen zu checken, dazu fünf Froschmänner in Tauchanzügen im Wasser am | |
Fuße des Felsens. Vor der Südspitze des Kontinents sanken mindestens 800 | |
Schiffe, bis der Panamakanal 1914 die lebensgefährliche Passage ablöste. | |
Manch einer bleibt seekrank auf dem Schiff zurück, als die Schlauchboote in | |
wogender See auf das Kap zusteuern. Eine Mutprobe, aus dem Boot direkt auf | |
die untere Stufe einer steilen Holztreppe zu klettern, die mit 160 Stufen | |
am fast senkrechten Felsabbruch hinaufführt. | |
Zu unserem Erstaunen ist das Kap bewohnt. Manuel Canepa, Offizier der | |
chilenischen Marine, lebt hier für ein Jahr mit seiner Familie in einem | |
Häuschen nebst angeschlossenem Leuchtturm. Der Vierzigjährige ist zuständig | |
für die Kontrolle des Schiffsverkehrs und für meteorologische Tätigkeiten. | |
Alle zwei Monate bringt ein Versorgungsschiff Lebensmittel. Der Offizier, | |
seine Frau und die vierzehn und zwei Jahre alten Kinder dürfen die Insel | |
nur im Notfall verlassen. Bei Hurrikan ist das Haus die Notunterkunft. | |
Ganz oben auf der 424 Meter hohen Kuppe des Basaltfelsens ragt die aus | |
Stahlplatten montierte Skulptur des chilenischen Bildhauers José Balcell in | |
den bleiernen Himmel. Im Gedenken an die gestorbenen Seemänner war in der | |
Mitte wie ein geöffnetes Fenster die Silhouette eines fliegenden Albatros | |
zu erkennen – jenem Sturmvogel, in dem die Seelen der Seeleute dem Mythos | |
nach weiterleben. So war es jedenfalls bis zum November 2014, als ein Orkan | |
die eine Hälfte des Albatros-Denkmals mit sich riss. Uns bleibt ein Gefühl | |
des Stolzes, sich getraut zu haben, per Schlauchboot am Kap Hoorn anzulegen | |
und hinaufzusteigen zu diesem wildesten Ort am Ende der Welt. | |
9 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Lottemi Doorman | |
## TAGS | |
Kreuzfahrt | |
Gletscher | |
Umweltschutz | |
Argentinien | |
Wale | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Umweltfreundliche Kreuzfahrt: Wo die Reise hingeht | |
Die Aidaprima, der angeblich umweltfreundlichste Luxusliner und grüner | |
Trendsetter, hat ihren Heimathafen erreicht. | |
North-Face-Gründer tödlich verunglückt: Der Umwelt-Latifundist | |
Douglas Tompkins starb bei einem Kayak-Unfall. Seit den 80er-Jahren hatte | |
er 900.000 Hektar Land in Chile und Argentinien für den Naturschutz | |
gestiftet. | |
Walsterben in Chile: Über 330 tote Wale gestrandet | |
Jetzt ausgewertete Satellitenaufnahmen bestätigen eine der größten | |
Strandungen von Walen in Chile. Die Behörden schließen menschliche | |
Einwirkung aus. | |
Daily Dope (540): Ganz dünnes Eis | |
Deutsche Eisschnellläufer kritisieren die Doping-Berichte der ARD. Das ist | |
dreist, denn seit 2003 hat die WADA die UV-Bestrahlung von Blut als | |
unerlaubte Manipulation gebrandmarkt. |