# taz.de -- Weihnachtspost in Berlin: Letzte Leerung 21.45 Uhr | |
> In der Postfiliale 64 in Berlin bekommt man auch nachts noch den | |
> begehrten Stempel aufs Paket. Kurz vor zehn wird sie von Menschen | |
> überrumpelt. | |
Bild: Nur wer den Brief rechtzeitig einwirft, kriegt Geschenke | |
Mitten in Berlin gibt es noch einen richtigen Briefkasten. Er ist gelb und | |
steht in der Postfiliale 64, aber er tut nur so, als sei er ein richtiger | |
Briefkasten, der Wind und Wetter trotzen könnte. Die Postfiliale 64 | |
befindet sich im Bahnhof Friedrichstraße, der auch nur so tut, als sei er | |
ein Bahnhof, obwohl er eigentlich eine Einkaufspassage ist. Auf dem | |
kleinen, gelben Briefkasten steht: „Letzte Leerung 21.45 Uhr.“ | |
In Wirklichkeit bekommt man hier um 21.59 Uhr den letzten Poststempel, denn | |
erst um 22 Uhr schließt diese offizielle Filiale der Post, die zwar auch | |
ein bisschen vorgibt, ein „Spätshop“ zu sein, in dem man Süßigkeiten und | |
Presseerzeugnisse kaufen kann, aber eben doch so etwas wie „die Post“ ist, | |
wie man sie von früher her kennt. | |
Fortschritt ist manchmal auch Rückschritt, und so, wie es in der | |
Bundesrepublik im Rahmen der Neoliberalisierung des Postwesens kaum noch | |
Briefkästen gibt, gibt es auch keine großstädtischen Nachtpostämter mehr. | |
Nachtpostamt, das klingt nach einem Roman oder zumindest nach Autorenfilm. | |
Nicht ganz so elegisch wie „Nachtzug“, obwohl man auch hier einen Brief | |
nach Lissabon aufgeben konnte, dafür ein bisschen mehr nach Stempel und | |
Amtsschimmel. | |
Um 21.20 Uhr betritt Thomas Dittmar, 49 Jahre alt und Berliner, die | |
Postfiliale. Er kennt sich noch gut im analogen Zeitalter aus, erinnert | |
sich an das Nachtpostamt in Charlottenburg, wo man immerhin bis Mitternacht | |
einen Stempel bekommen konnte. Dramatische Szenen spielten sich hier ab, | |
insbesondere in der der Prokrastination zugeneigten Studentenschaft. | |
All die Abgaben auf den letzten Drücker. Proseminararbeiten, | |
Magisterarbeiten, Immatrikulation, Exmatrikulation. Die rechtzeitige Abgabe | |
bedeutet eine Option auf ein bürgerliches Leben, das Zuspätkommen die | |
Drohung sozialen Abstiegs. | |
Thomas Dittmar sieht aus, als hätte er das mit dem bürgerlichen Leben | |
irgendwie hinbekommen. Doch das Nachtpostamt gibt es schon lange nicht | |
mehr, und wer heute spät etwas verschicken möchte, muss erst mal googeln: | |
„Meine übliche Annahmestelle, die Videothek, hatte geschlossen. Gibt es | |
nicht mehr“, erzählt Dittmar zwischen seinen voluminösen Paketen. Ebay. „… | |
die Ecke gibt es so eine neue Postbox, aber für die waren die Pakete zu | |
groß. Dann habe ich einen Spätshop in der Brunnenstraße gefunden mit einem | |
netten, verträumten Inder hinter dem Tresen. Aber der hatte bloß Stempel | |
bis zwei Kilo“. | |
So ist er schließlich in der Friedrichstraße gelandet. Auf dem begehrten | |
Stempel steht bloß „Filiale 64 Berlin“, eine junge Postmitarbeiterin zeigt | |
ihn auf Anfrage her, als ob er nichts Besonderes sei. Für andere hängen | |
Wohl und Wehe davon ab. „Eine Minute vor zehn kommen die hier aufgelaufen, | |
als ob es kein Morgen gäbe. Mit Tränen in den Augen!“, sagt sie und in dem | |
Ausrufezeichen schwingt ein berlinerisch ausgesprochenes „Unfassbar“ mit. | |
Was sich alle immer so aufregen. Eine Kollegin ergänzt: „Wenn ein Brief | |
wirklich am nächsten Tag ankommen soll, muss er sowieso spätestens 18 Uhr | |
hier sein, sonst wird’s nüscht.“ Außer im Berliner Stadtgebiet, da gibt�… | |
noch Chancen. | |
## Keine Zeit, keine Zeit | |
21.35 Uhr. Allmählich kehrt richtiges Leben ein in die kleine Filiale. | |
Immer mehr Menschen kommen mit zum Teil hektisch gefleckten Gesichtern | |
herein. „Keine Zeit, keine Zeit“, zischt eine junge Frau und eilt zum | |
Tresen, ein Stempel soll es sein. Muss es wohl sein. Eine ältere Dame | |
nestelt am Packtisch an einem Paket herum, als ginge es um Leben und Tod. | |
„Ich komme gerade aus Polen zurück“, erklärt sie mit starkem polnischen | |
Akzent, „diese Süßigkeiten müssen unbedingt noch heute nach Düsseldorf zu | |
meinen Enkeln“. Sie rennt zum Schalter, wo sie mit wissendem Blick | |
abgefertigt wird. Morgen früh wird dieses Paket auf keinen Fall in | |
Düsseldorf sein. Aber was soll die Aufregung – sagen die Gesichter hinter | |
dem Schalter. Es ist ja erst der 1. Dezember. Bis zum Nikolaustag sind es | |
noch ein paar Tage, bis Weihnachten ohnehin. | |
21.45 Uhr. Ein junge Frau mit Brille und Mütze beschriftet einen dicken | |
braunen Umschlag mithilfe eines Füllfederhalters. Der Brief geht allem | |
Anschein nach ins Ausland, auf den Buchstaben tanzen kleine Dreiecke, und | |
die Adresse ist lang. „Der Brief geht an das Ministerium in Slowenien“, | |
sagt die junge Frau gestresst, „es ist jedes Jahr dasselbe. An diesem | |
Antrag habe ich jetzt schon so viele Wochen gearbeitet, und doch komme ich | |
immer auf den letzten Drücker.“ | |
Ihr Name ist Natascha Kramberger, sie ist Schriftstellerin und im Vorstand | |
des slowenischen Kulturvereins in Berlin, er heißt Periskop und bekommt | |
sogar Fördergelder aus der slowenischen Hauptstadt Ljubljana – wenn | |
Natascha Kramberger es schafft, heute noch einen Stempel zu bekommen. Die | |
Schlange vor dem Schalter wird immer länger. Der Pseudobriefkasten ist | |
bereits geleert worden. Schafft sie es nicht, ist Berlin im kommenden Jahr | |
um ein wenig Kultur ärmer. | |
Die junge Postmitarbeiterin schließt schon mal die gläserne Eingangstür ab. | |
Hinein kommt nun keiner mehr, aber es sind ja auch immer noch genügend | |
Kunden in der Filiale. Nervös stehen sie in der Schlange. Man wird ihnen | |
doch nicht in letzter Sekunde den Stempel verweigern? Man wird doch wohl | |
nicht? Die Mimik der Angestellten hinter dem Tresen ist unbewegt. | |
Pokerfaces. | |
Einer hat es schon geschafft. So wie er es stets schafft, auf den letzten | |
Drücker. „Ich bin jeden Abend hier. Eigentlich wohne ich in Schöneberg, | |
aber dort schließt die Post ja schon um 21 Uhr. Wenn ich um 21.30 Uhr in | |
die Bahn steige, bin ich in genau elf Minuten hier.“ Meint er das ernst? | |
Die junge Postangestellte nickt unauffällig. „Ich bin Anwalt, seit 40 | |
Jahren“, erklärt der grau gekleidete Herr. Jeden Abend bringt er die | |
offiziellen Schreiben aus seiner Kanzlei auf die Post, hier bekommen sie | |
ihren Stempel. Erst jetzt hat er wirklich Feierabend und kauft noch | |
Zeitungen, das Handelsblatt, den Economist. | |
## Zu spät, zu spät | |
„Wissen Sie“, erklärt er, „der elektronischen Post traue ich nicht. Wir | |
leben ja in einem Zustand der totalen Überwachung.“ Die junge | |
Postangestellte blickt zweifelnd. Dabei erscheint es einleuchtend, dass | |
weder NSA noch BND das Personal haben, um all die Briefe und Pakete unter | |
heißem Wasserdampf zu öffnen, die heute hier in der Filiale 64 eingegangen | |
sind. | |
Eine junge Japanerin wirft einen Brief in den Pseudobriefkasten, und man | |
möchte „Halt, Stopp“ rufen, er wird doch nicht mehr geleert. Aber bis Japan | |
schafft es der Brief ja heute ohnehin nicht mehr. „Seit der Antike“, fährt | |
der Anwalt unbeirrt fort, „haben sich eigentlich nur zwei Dinge geändert: | |
die Ausdrucksformen menschlichen Verhaltens und die Geschwindigkeit der | |
Umsetzung.“ Früher hätten wir Soldaten gehabt, sagt er und lächelt, „heu… | |
haben wir Drohnen“. Tippt sich an den Hut und geht. | |
22.03 Uhr. Alle haben nun die Filiale verlassen. Drinnen brennt noch Licht, | |
und noch einmal öffnet sich die Glasdoppeltür. Ein gebeugter älterer Mann | |
schiebt zwei Drahtkäfigwagen aus der Filiale, sie sind von unten bis oben | |
mit Paketen und Briefen befüllt. Draußen wartet schon ein Transporter auf | |
die Ladung. Als seine Ladetür zuknallt und der Fahrer Gas gibt, ist für | |
heute wirklich alles zu spät. | |
23 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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