# taz.de -- Buch über den Niedergang Italiens: Konzentrat, nicht Anomalie | |
> Der renommierte englische Publizist Perry Anderson portätiert im sechsten | |
> Jahr der großen Krise das italienische Desaster. | |
Bild: Mit großen Gesten versucht die Lega Nord die zersplitterte italienische … | |
Je mehr von Europa die Rede ist, umso eher verliert man die konkreten | |
Nachbarn aus den Augen. Die Krise Griechenlands führte vergangenen Sommer | |
vielen überraschend vor Augen, wie eng das europäische Netz der | |
Abhängigkeiten gesponnen ist. Zeit sich umzusehen, was bei unseren Nachbarn | |
geschieht. | |
Der englische Historiker, renommierte Publizist und Mitbegründer der | |
Londoner New Left Review, Perry Anderson, hat sich in einem Essay des Falls | |
Italien angenommen. Er behandelt den Zustand des Landes nicht als Ausnahme, | |
sondern als exemplarischen Fall für den Zustand Europas. | |
Andersons Länderanalysen sind in der London Review of Books zu finden; | |
manche (Indien, Türkei) gibt es in deutschen Übersetzungen im Berenberg | |
Verlag, die Zeitschrift Lettre International hat eine schöne Studie über | |
Brasilien publiziert. | |
Diesmal hat der Suhrkamp Verlag bei edition suhrkamp digital Andersons „Das | |
italienische Desaster“ herausgebracht. Wer sich in den italienischen | |
Verhältnissen nicht auskennt, dem wird in diesem Band eine lesenswerte | |
short story des jüngeren Italien geliefert. | |
Das chaotische Italien, lange Zeit ein Sehnsuchtsland der Linken, gibt es | |
seit dem politischen Offenbarungseid der 1. Republik, dem allumfassenden | |
Tangentopoli-Bestechungsskandal zu Beginn der neunziger Jahre, nicht mehr. | |
Bis in die jüngste Zeit verdeckte der jeder Strafe entwischende | |
Vabanquespieler Silvio Berlusconi den genaueren Blick hinter die | |
italienischen Kulissen. Die außeritalienische Öffentlichkeit verlor den | |
Überblick. | |
## Mafia und Geheimlogen | |
Die chaotischen Machenschaften der ersten italienischen Republik wurden | |
wesentlich durch die Dynamik des Kalten Krieges bestimmt. Die stärkste | |
kommunistische Partei in einem westlichen Land sollte mit allen Mitteln in | |
Schach gehalten werden. So breitete die Öffentlichkeit den Mantel des | |
Schweigens über die mafiösen Verflechtungen der bestimmenden Democrazia | |
Cristiana. Die zwielichtige Gestalt des politischen Stehaufmännchens Giulio | |
Andreotti, der auf allen Ebenen über Jahrzehnte von Sizilien bis Brüssel | |
tätig war, bleibt in düsterer Erinnerung. Aktivitäten von Geheimlogen wie | |
P2, die für mysteriöse Attentate verantwortlich waren, blieben bis heute | |
unaufgeklärt. | |
Diese dunklen Erbschaften gehören zur Vorgeschichte von Berlusconis | |
Aufstieg – eines diebischen Unternehmers, dem die forcierte Globalisierung | |
nach 1990 in die Hände spielte. Die Verbindung von Politik und Geschäft | |
verlor jegliche Anrüchigkeit; die Ausnutzung von Medienmacht zum | |
persönlichen Vorteil erschien als logische Folge der Entstaatlichung. In | |
allen Ländern Westeuropas hat es nach 1990 vergleichbare Tendenzen gegeben; | |
aber nirgendwo waren sie so spektakulär und skandalumwittert wie in | |
Italien. Anderson macht den Leser süffisant auf die europäische chronique | |
scandaleuse aufmerksam, die Italien weniger als Ausnahme denn als | |
Konzentrat gesellschaftlicher Missstände erscheinen lässt. | |
Italien kann nicht fallen gelassen werden. Wenn Italien scheitert, | |
scheitert Europa. Italien ist eine tragende Wand des europäischen Hauses – | |
immer noch zweitgrößter Produktionsstandort und auch zweitgrößter Exporteur | |
von Investitionsgütern, aber zugleich weltweit drittgrößter Markt für | |
öffentliche Schuldverschreibungen, also ein gigantisches | |
Spekulationsobjekt. Die Wand wackelt bedrohlich, nicht erst seit der | |
Schuldenkrise 2008. Das erzeugt nicht nur die Nachsicht gegenüber | |
Berlusconi, sondern auch gegenüber allen halsbrecherischen politischen | |
Manövern, um Italien wieder berechenbar zu machen. | |
Anderson kritisiert zurecht den politischen Trend in Europa zur | |
Entdemokratisierung, die Politik und Recht einer dogmatisch verfochtenen | |
neoliberalen Ökonomie unterordnet. Dieses politisch-ökonomische Klima wird | |
zum Nährboden des Populismus, der vom generellen Misstrauen gegen die | |
classe politica lebt. Der sich dem Realitätsprinzip verweigernde Politclown | |
Beppe Grillo konnte zu einer bedeutenden Kraft der italienischen Politik | |
werden. Anderson bringt ihm fast Sympathie entgegen; vielleicht möchte er | |
nicht ein allzu trostloses Bild malen. Dem Populismus steht auch mit den | |
manipulativ gehandhabten neuen Medien eine große Zukunft bevor, eine neue | |
Art charismatischer Herrschaft, die einen eher mit Sorge als mit Hoffnung | |
erfüllen kann. | |
12 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
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