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# taz.de -- Die Wahrheit: Wie im Wahn
> Vielen Gläubigen gelten lärmende Weihnachtsmärkte als spirituelle Orte
> der Einkehr. Belege dafür finden sie sogar in der Bibel.
Bild: Nicht nur überzeugte Adventisten erliegen regelmäßig der frohen Botsch…
Ein Weihnachtsmarkt irgendwo in Deutschland. An einem Glühweinstand sind
wir mit Pfarrer Helmut Sonneberger von der ekstatisch-charismatischen
„Freikirche des rechten und des linken Weges“ verabredet. Hier sucht und
findet er den Heiligen Geist in so manchem Jagertee. Heute Abend ist er
unser Experte zu der Frage: „Haben Weihnachtsmärkte noch irgendwas mit
Glauben, ja, überhaupt mit Weihnachten zu tun?“
Besonders die pauschale Konsumkritik der Weihnachtsmarktgegner bringt ihn
auf die Palme: „Gerade Konsum ist doch Liebe. Die Liebe Gottes, die durch
seine Gaben zu uns Menschen spricht. Und wie sollen diese Gaben anders zu
uns kommen als über den Konsum?“
Er zitiert aus dem Psalm 375: „Und Nathaniel kaufte siebenhundert Fässer
Wein und siebenhundert Kamele, siebenhundert irdene Töpfe und siebenhundert
Brote, siebenhundert Scheffel Getreide und siebenhundert Truhen Geschmeide,
siebenhundert Fische und siebenhundert Rinder. Das alles packte er in
siebenhundert Tragetaschen, die ihm die siebenhundert Sklavinnen trugen,
die er ebenfalls gekauft hatte. Und der Herr sah, dass es gut war, und
lobte seinen treuen Knecht dafür.“
Mit sonorem Lallen macht uns der Geistliche darauf aufmerksam, dass Gott
nirgends so präsent sei wie auf dem Weihnachtsmarkt. Am deutlichsten werde
das an den Verkaufsständen. Und tatsächlich: „Mein Gott“, hören wir die
Vorübergehenden flüstern. „O mein Gott – das kann doch alles gar nicht wa…
sein.“ Wir sehen, was sie meinen: Narrenkappen aus glänzendem Taft,
Suppenkellen aus Olivenholz, bunt bestickte Geldbörsen, deren Farben,
Muster und fehlende Zweckmäßigkeit auf eine von zugedröhnten Außerirdischen
geführte Manufaktur schließen lassen. Was im weiteren Sinne ja auch stimmt:
„In all dem können wir Gott erkennen“, führt Sonneberger aus. „Das ist …
Grunde typisch für monotheistische Religionen: Für uns Menschen ist nicht
der geringste Sinn auszumachen, und dennoch können wir uns getrost leiten
lassen.“
Gott leitet uns weiter zur Hauptbühne direkt neben Woolworth. Dort spielen
die „War- riors of Wuppertal“ Coverversionen bekannter Country-, Rock- und
Popsongs. Begeistert wippt der angetrunkene Gottesdiener zu „Whiskey in the
Jar“ im Takt: „Das ist genau das Liedgut, das das Christentum auch für
glaubensferne Bevölkerungsschichten attraktiv macht.“
## Hummer im Wahn
Dunkelrot schillernd wie ein prächtiger Hummer steht er vor uns, die
meisten Kleidungsstücke hat er von sich geworfen, von innen heraus vom
Heiligen Geist befeuert. Infolge des jahrelangen exzessiven Genusses
alkoholischer Heißgetränke hat sich die Teleangiektasie vom Gesicht
ausgehend über seinen ganzen Körper ausgebreitet. Wie im Wahn rezitiert der
Theologe praktisch die gesamte Bibel.
„Im 25. Kapitel des Buches Nikolaus, Vers 7–16, eröffnet Jehova vor den
Augen des Propheten Ephraim im Lande Kanaan ein sogenanntes Gaukelfeld, das
wir uns ruhig als eine Art Vorläufer unserer heutigen Weihnachtsmärkte
vorstellen dürfen. Wenn ich die Originalstelle einmal kurz zitieren darf?“
Wir überlegen noch, ob vielleicht lieber nicht, um nicht noch mehr
Aufmerksamkeit auf das peinliche Schauspiel zu lenken, dessen Mittelpunkt
wir sind. Der Pfarrer ist mittlerweile völlig nackt und taumelt
unkontrolliert wie eine Flipperkugel zwischen der „Tiroler Wursthütte“ und
einem Stand mit gebatikten Halstüchern hin und her. Doch zu spät,
Sonneberger hebt schon wieder an.
## Was ist mit Zuckerwatte?
„ ‚Herr‘, sprach Ephraim, ‚darf ich vielleicht auch mit der Berg- und
Talbahn fahren?‘ Und seine Augen glänzten wie die Kerne von Granatäpfeln so
rot, und der Stab seiner Männlichkeit hob sich unter dem Tuche und
frohlockte in Vorfreude auf das fromme Abenteuer. ‚Fährst du mit der Berg-
und Talbahn, so tust du recht daran‘, sagte der Herr. ‚Doch wisse: Issest
du zuvor vom grünen Kohle mit dem Fleische aus hundert unbekannten Tieren
und trinkest reichlich von dem warmen Feuerzangenweine, so hüte dich vor
der verderbten Berg- und Talbahn. Denn das, woran du dich eben gelabet,
wird, ehe der Hahn ein halbes Mal gekräht, zurückgegeben sein in starkem
Bogenstrahl dem Volke Israel. Und es wird dasitzen in deinem Schmutze und
dich verfluchen bis ins siebte Glied.‘ – ‚Und Zuckerwatte‘, rief Ephrai…
seiner bitteren Not den Herrn an. ‚Was ist mit Zuckerwatte . . .?‘ “
11 Dec 2015
## AUTOREN
Uli Hannemann
## TAGS
Weihnachten
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