Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Nachbeben der Anschläge in Paris: Tage des erschütterten Lesens
> Nach den Terroranschlägen laufen Medien auf erhöhtem Energielevel. Und
> ihre Rezipienten schwanken zwischen Schock und Verstehenwollen.
Bild: Französische Soldaten patrouillieren in einem Durchgang der Pariser Metr…
Die „Wo warst du, als …?“-Frage. Am Freitag, den [1][13. November] lag ich
abends auf dem Sofa und habe gelesen. Irgendwann nach 22 Uhr schaute ich
auf dem Tablet bei Facebook nach. Ein FB-Freund hatte nur ein Wort
gepostet: „Auweia“, in den Kommentaren darunter stand „Paris“ und
„Irgendwas passiert“. Dann habe ich also den Fernseher angeschaltet, wo
noch diese nicht enden wollende Fußballübertragung lief. Später starrte ich
stundenlang auf CNN auf das Blaulicht eines Krankenwagens, der am Bataclan
stand …
Es gibt Begriffe, um das zu bezeichnen, was einen in solchen Momenten als
hilfloser Rezipient widerfährt: Erschütterung, Schock. Was das bedeutet,
ist dennoch schwer zu beschreiben. Auch scheinbar abgeschottet in seinem
Wohnzimmer ist man von den Nachbeben solcher Anschläge in seiner ganzen
Person erfasst. Alles ändert sich. Die Wahrnehmung, das Leseverhalten, die
Art, wie man redet.
Was auf die Anschläge folgte, waren Tage des erschütterten Lesens in einem
erweiterten Sinn. Sondersendungen, Zeitungen, Internet, soziale Medien –
man greift sich schlicht alles, was Aufklärung verspricht. Erschüttert ist
dieses manische Rezipieren deshalb, weil es dabei nicht nur um
Informationsaufnahme geht. Es geht auch um Neuorientierung. Die Routinen
sind zerbrochen, und etwas muss neu zusammengesetzt werden.
In etwa ist dieses erschütterte Lesen so, als ob man in einem dunklen Raum
steht und keine Begrenzungen findet. Hektisch, panisch tastet man in alle
Richtungen, ob man nicht irgendwo an eine Wand stößt, an der man sich
festhalten kann.
## Du bist nicht allein
Das Erste, worauf man in den sozialen Medien stieß, waren die
Betroffenheitsbekundungen der anderen, nach den Pariser Anschlägen in Form
der schnell in den französischen Nationalfarben Blau-Weiß-Rot eingefärbten
Facebook-Profilbilder. In all ihrer Hilflosigkeit vermittelten sie
zumindest das Gefühl: Du bist nicht allein; es sind viele, die erschüttert
sind.
Und man stieß auf Unmengen schneller Meinungsäußerungen auf allen Sprach-
und Durchdachtheitslevels. Die Frage, ob Hollandes Wortwahl „Krieg“
angemessen war, wurde in allen Facetten auseinandergenommen. Viele –
zutreffende – Argumente gegen Ansätze, die Flüchtlinge als Sündenböcke zu
betrachten, wurden gesammelt. Und der Klassiker, dass der Westen selbst
schuld sei, wurde auch vielfach variiert.
Diese schnellen Reaktionen, selbst Teil der allgemeinen Erschütterung,
bildeten das Hintergrundrauschen des eigenen erschütterten Lesens. Wenn
wirklich etwas passiert, laufen die Medien, ob klassisch oder sozial, in
einem anderen Aggregatzustand und auf einem erhöhten Energielevel. Alle
Sender senden. Und zwar senden sie oft das, was sie sowieso schon senden,
einfach noch mal lauter.
## Faszination der Gewalt
Zu jedem einzelnen Punkt gäbe es viel zu sagen. Die „Der Westen ist selbst
schuld“-Theorie etwa nimmt die konkreten Attentäter und den Islamismus des
IS sowie die politischen Verbündeten dahinter als eigenständige Akteure gar
nicht ernst, was niemandem weiterhilft. Vor allem sollte man aber auch eine
Erfahrung dieser Tage festhalten: Sie besagt, dass solche allgemeinen
Debatten das erschütterte Lesen letztlich nicht beruhigen können. Man will
in seiner Erschütterung schon wissen, was da konkret passiert ist, auch
wenn man dabei den unschuldigen Blick verliert und eine gewisse Faszination
der Gewalt hineinspielt.
Die Liveticker, mit denen viele Medien, Spiegel Online vorneweg, einen an
den Ereignissen teilhaben lassen wollten, muteten obszön an. Aber die
umfangreichen Rekonstruktionen der Ereignisse im Bataclan und der
Erstürmung der Attentäterwohnung in Saint-Denis, die im Netz herumgereicht
wurden, waren wichtig. Es sind die konkreten Details, die man als Rezipient
braucht, um ermessen zu können, worum es bei den Ereignissen ging.
Bei mir waren es etwa die schwangere junge Frau, die aus dem Fenster des
Bataclan springen wollte; es war die tränentreibende Nachricht, dass sich
im Konzertsaal viele Menschen vor ihre Freunde geworfen haben, um sie zu
schützen; und aus irgendeinem Grund haben mich auch diese eisernen
Schutzschilde beschäftigt, die die Polizisten im Schusswechsel mit den
Attentätern vor sich herschoben.
## Halb tapfer, halb starr
Außerdem der Vater, der tatsächlich froh darüber war, dass sein Sohn, der
Drahtzieher von Paris, in Saint-Denis erschossen worden war. Was für
Geschichten! Wahrscheinlich muss man als Rezipient ganz in die
Erschütterung hineingehen, um sie irgendwann wieder hinter sich lassen zu
können.
Tage des erschütterten Lesens sind Tage, in denen der Wahrnehmungsapparat
nervös und offen ist. Halb tapfer, halb schockstarr stellt man sich den
Schrecken der Realität. Von Heinrich von Kleist gibt es dazu den
klassischen Satz. Als er vor Caspar David Friedrichs Gemälde „Mönch am
Meer“ stand, machte er die Erfahrung, schrieb er, als ob ihm „die
Augenlider weggeschnitten wären“. Das ist martialisch ausgedrückt, trifft
aber etwas. Man kann einfach nicht wegsehen.
Was half, die Anschläge einzuordnen, waren viele besonnene
Zeitungsartikeln, die etwa die abstrakte Vorstellung eines Angriffs „auf
uns“ schnell auf eine Attacke auf den öffentlichen Raums herunterbrachen.
Und es waren die vielen, vielen klugen, informierten Hintergrundstücke, die
man, wenn man seine Schleusen erst einmal geöffnet hatte, in großer Fülle
auf sein Tablet gespült bekam.
Das Stück [2][von Nicolas Hénin im Guardian] , der die IS-Kämpfer in all
ihrem gefährlichen Macho-Getue beschrieb. Das Hintergrundstück zur
Strategie des IS [3][von Scott Atran und Nafees Hamid in der New York
Review of Books]. Viele Hintergründe über die Biografien der Attentäter
(oft in Europa geborene Konvertiten!) sowie der Opfer von Paris. Auf all
das und auf noch viel mehr konnte man stoßen, wenn man auf die üblichen
Netzverteiler, in Deutschland etwa den Perlentaucher, achtete und sich auf
die einschlägigen Mailinglisten setzen ließ.
## Verstehen wollen
Es stimmt eben nicht, dass solche Tage des erschütterten Lesens letztlich
ergebnislos wieder auslaufen wie Wellen in einem Teich. Was man bedenken
muss: Die IS-Terroristen mögen mediale Erregungen in ihr Kalkül einbeziehen
und durch Schockproduktion Aufmerksamkeit generieren. Aber was die
Attentäter vielleicht unterschätzten, ist, dass Erschütterungen neben Angst
und Sorge auch tatsächliches Verstehenwollen auslösen.
Mit Folgen: Durch die Erschütterungen verschieben sich die Debatten und
ändern sich die medialen Netzwerke. Tatsächlich scheint es mir so zu sein,
dass nach dem 13. November die Frage, ob der Terror etwas mit „dem“ Islam
zu tun hat, differenzierter verhandelt wird als zuvor. Ungefähr so:
Selbstverständlich sind die totalitären Lesarten des Islam ein Problem, und
genauso selbstverständlich sind damit längst nicht alle Muslime gemeint.
Auch viele Muslime waren erschüttert.
Diese Schlusswendung mag vielen zu optimistisch klingen. Ein Trost ist das
alles auch wirklich nicht. Aber festhalten sollte man schon, was einen in
solchen Tagen des erschütterten Lesens neben der Trauer um die Opfer
antreibt: verstehen zu wollen. Man wird es brauchen können.
27 Nov 2015
## LINKS
[1] /!5251342/
[2] http://www.theguardian.com/commentisfree/2015/nov/16/isis-bombs-hostage-syr…
[3] http://www.nybooks.com/blogs/nyrblog/2015/nov/16/paris-attacks-isis-strateg…
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Schwerpunkt Frankreich
Medien
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Terror
Schwerpunkt Islamistischer Terror
Schwerpunkt AfD
Schwerpunkt Islamistischer Terror
## ARTIKEL ZUM THEMA
Musikmanager zur Pariser Musikszene: „Nie vergesse ich diesen Tag“
Das Bataclan steht für jugendlichen Lebensstil. Matthieu Couturier über die
Musikindustrie Frankreichs ein Jahr nach den islamistischen Anschlägen.
Die Wahrheit: Die Blüten des Terrors
Nach den Attentaten von Paris bekämpfen findige Bürger die Angst vor der
Bedrohung auf ihre Art und zeigen damit: Man kann etwas tun!
Deutschland und Terror: Glück, mehr nicht
Bisher blieb Deutschland von schweren Attentaten verschont. Weil die
Dienste besser oder weil die Islamisten friedlicher sind? Nichts davon.
Kommentar Reaktionen auf Anschläge: Infame Scharfmacherei
Die Anschläge von Paris werden von konservativer Seite instrumentalisiert,
um Angst vor Flüchtlingen zu schüren – ein gefährliches Fahrwasser.
Anschlagserie in Paris: Hollande macht IS verantwortlich
Nach den Anschlägen in Paris zeigen weltweit Staats- und Regierungschefs
Solidarität mit Frankreich. Das Land wird eine dreitägige Staatstrauer
halten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.